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1972
ARIYOSHI, Sawako (1972):
Kokotsu no hito, Tokio: Kodansha
Die
1972 erschienene Erzählung Kokotsu no hito der japanischen
Schriftstellerin Sawako ARISHI, Jahrgang 1931, ist 1984, im Jahr ihres
Todes, als Twilight Years erschienen. Der Schweizer
Sozialhistoriker Arthur E. IMHOF hat den Inhalt der Novelle 1986 in
seinem lesenswerten Beitrag Individualismus
und Lebenserwartung in Japan zusammengefasst:
"Die Familie Tachibana lebt am
Rande Tokyos in einem bescheiden komfortablen Einfamilienhaus. Ehemann
Nabutoshi ist Angestellter in einer Handelsfirma. Seine Ehefrau Akiko
arbeitet ganztätig als Sekretärin in einer Anwaltspraxis. Beide sind
in ihren »besten Jahren«, das heißt im mittleren Alter. Sie haben
einen einzigen Sohn, Satoshi. Er bereitet sich intensiv auf das für
seine spätere Karriere entscheidende Eintrittsexamen auf die höhere
Schule vor. - Auf dem zum Haus gehörigen Gartengrundstück leben
Nabutoshis Eltern in einem eigens für sie errichteten kleinen Heim.
Der Vater Shigezo ist 84, die Mutter ein Jahrzehnt jünger. Völlig
unerwartet stirbt sie an einem Schlaganfall. Erst jetzt wird allen
deutlich, wie senil Shigezo geworden ist. Er kann nicht mehr allein
für sich sorgen, sondern braucht permanente Betreuung. Das Drama kann
beginnen.
Entsprechend japanischer Tradition ist es die Aufgabe des ältesten
Sohnes, seinen Vater bei sich aufzunehmen, und Aufgabe der
Schwiegertochter, ihn zu betreuen. Doch Akiko hängt an ihrem Beruf und
weigert sich, zu Hause zu bleiben. Da Shigezo wiederholt von zu Hause
wegläuft, findet sich keines der sowieso seltenen Alters- und
Pflegeheime bereit, ihn aufzunehmen. Einzige Alternative wäre die
permanente Unterbringung in einer Irrenanstalt - ein für Japaner
unakzeptierbarer Gedanke. Schließlich bahnt sich eine Lösung insofern
an, als Akiko ihren Beruf nur noch an drei Tagen in der Woche ausübt
und die restlichen vier nach ihrem Schwiegervater schaut, während ein
Studentenehepaar, das die leere Gartenwohnung bezieht, an drei Tagen
die Betreuung Shigezos übernimmt."
IMHOF beschreibt den
historischen Hintergrund der Erzählung damals als Alterungsschock der
Japaner. Heutzutage würde man von
"Altersbeben" sprechen:
"Wie in mehreren anderen
europäischen Ländern hatten wir (...) auch in Deutschland bereits mehr
Zeit, uns an die Situation eines hohen Anteils von älteren Menschen zu
gewöhnen und historische Erfahrungen zu sammeln. die Japaner dagegen
erlebten vor allem in den 1950er und 1960er Jahren einen
Alterungs-Schock, und viele leben noch heute darunter. (Swako
Ariyoshis Novelle »Kokotsu no hito« (...) war 1972 erschienen und
sofort zum vielhunderttauschenfachen Bestseller in Japan geworden. Die
Nation hatte offensichtlich auf die Behandlung des Themas gewartet."
IMHOF stellt 1986 die Frage, ob
sich Japan auf dem Weg zur
"Gesellschaft der
Einzelgänger" (Hans-Joachim HOFFMANN-NOWOTTNY) befindet. In
Deutschland sprach man dagegen von Single-Gesellschaft:
"Ariyoshis Postulat »Growing old
should not be someone else's problem« (...) richtet sich in erster
Linie an jeden einzelnen von uns. Wir müssen selbst dafür sorgen, daß
die quantitativ zusätzlichen Jahre auch qualitativ tatsächlich
gewonnene Lebensjahre werden.
Dies leitet zur zentralen abschließenden Frage über. Wollte Ariyoshi
andeuten, daß sich auch die Japaner zunehmend zum Einzelgängertum
bekennen sollten? Sie werden nun einmal, genauso wir wir auch, älter
als nur pensionsreif. (...) Shigezo täglich vor Augen, der die
zusätzlichen Jahre bloß vergeudet hatte, entschied sie (Anm.: Akiko)
sich dafür, vorbeugend etwas zu tun, für ihren Körper und ihren Geist.
Dabei dachte sie offensichtlich nur an sich, nur an ihre eigene
Zukunft, als Individuum. (...). Japan auf dem Weg zu einem Volk von
Einzelgängern?"
IMHOF macht das wie damals
üblich - und teilweise noch heutzutage oftmals - an der Entwicklung
der Einpersonenhaushalte fest, weshalb er Japan im Vergleich zu
Deutschland:
"(Die) Bundesrepublik (ist)
bereits 1950 an einem Punkt angelangt, auf den Japan eben erst zugeht
(...). Würde nun diese parallele, wenn auch zeitverschobene
Entwicklung im selben Tempo weiterverlaufen, würde Japan im Jahr 2000
etwa dort angelangt sein, wo die Bundesrepublik 1970 stand.
(...). Schon 1950 bestand in der Bundesrepublik jeder fünfte Haushalt
aus einer einzigen Person (19,4 %), 1970 jeder vierte (25,1 %), 1982
fast schon jeder dritte (31,3 %). In gut dreißig Jahren dürfte Japan
(...) ebenfalls dort angelangt sein."
Wenn man so will, dann bedeutet
das Aufkommen des Begriffs "parasitäre Singles" in Japan um die
Jahrtausendwende darauf hin, dass zumindest die Befürchtungen, dass
Japan auf dem Weg zur Single-Gesellschaft ist, zumindest in der
öffentlichen Debatte an Plausibilität gewonnen hat.
IMHOF ist damals der Ansicht,
dass das Alleinleben durchaus der menschlichen "Psyche" entspricht:
"Man sollte m. E. (...) die
zunehmende Zahl alter Menschen, die allein leben (wollen) (...) als
eines der deutlichen Anzeichen für einen allgemeinen Trend zum
Einzelgängertum nehmen. Vor diesem breiten Hintergrund gäbe es denn
auch weniger Veranlassung schockiert zu sein.
Pointiert ließe sich die These aufstellen, daß der Mensch -
gleichgültig ob jung, ob alt - an sich gar kein soziales Wesen ist,
das in irgendwelchen »Gemeinschaften« völlig aufgehen möchte. Er war
bloß situationsbedingt bis vor kurzer Zeit dazu gezwungen gewesen.
Wenn er jedoch die Möglichkeit hat und ihm die Möglichkeiten von einer
Gesellschaft bereitgestellt werden, als einzelner durchs Leben zu
gehen, dann tut er das und nimmt die Gelegenheit dazu wahr."
Mitte der 1980er Jahre war in
Deutschland der Single noch cool. In den 1990er Jahre galten manchen
die Singles gar als Pioniere der Moderne, bevor sie ab Mitte der
1990er Jahre mehr und mehr ins Abseits gerieten.
1976
SAKAIYA, Taichi (1976) Dankai no sedai, Kodansha
Der 1976 erschienene
Romanbestseller Dankai no sedai des 1935 geborenen japanischen
Schriftstellers Taichi SAKAIYA, der damals Mitarbeiter des japanischen
Wirtschaftsministeriums war, popularisierte in Japan die Rede von den
Babyboomern als Massengeneration. Makoto ATOH schreibt dazu in seinem
Japan-Handbuch-Beitrag
Japan's
Population Growth during the Past 100 Years aus dem Jahr 2008:
"The Baby boom cohort, about 8
million born in 1947 - 49, later called dankai no sedai (The mass
generation), has affected and will continue to affect Japanese society
in no smal way at each distincitive stage of their life course."
(S.12)
Dabei verweist er in der Fußnote
auf das Buch von SAKAIYA:
"The novelist Sakaiya Taichi
wrote a best-seller omnibus novel called Dankai no Sedai, in
which the baby boomers experienced various hardships in their life
course because of their large cohort size (Sakaiya, 1976). Thise prase
is used very commonly in Japan even today."
Das Buch erschien just in dem
Moment, in der das nachlassende Bevölkerungswachstum in Japan für
Aufmerksamkeit sorgte:
"The annual rate of population
growth decreased from over 2 per cent in the baby boom period to just
less than 1 per cent in 1956. But it reamained around 1 per cent
thereafter and began to decline continuously only after 1976". (S.12)
1985
TEITELBAUM, Michael S. & Jay M. WINTER (1985): The Fear of Population
Decline, Academic Press
Im Buch von TEITELBAUM & WINTER
über die Furcht vor einem Bevölkerungsrückgang wird die
Geburtenentwicklung zwischen teilweise 1920 bis 1983 in folgenden 26
Ländern betrachtet: USA, Sowjetunion, Englands/Wales, Schottland,
Kanada, Frankreich, Dänemark, Finnland, Norwegen, BRD, DDR, Belgien,
Niederlande, Bulgarien, Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, Rumänien,
Jugoslawien, Schweden, Schweiz, Österreich, Italien, Australien,
Neuseeland.
Einige Länder wie die
Sowjetunion, Tschechoslowakei, Jugoslawien und DDR/BRD sind inzwischen
durch Zerfall oder Wiedervereinigung von der politischen Landkarte
verschwunden, was zeigt, dass die Betrachtung des demografischen
Wandels über längere Zeiträume insbesondere auch durch territoriale
Veränderungen erschwert wird. Nichtsdestotrotz ist das Buch auch über
40 Jahre später noch lesenswert, weil es die heutigen Ängste zu
relativieren hilft..
1986
MHOF,
Arthur E. (1986): Individualismus und Lebenserwartung in Japan. Japans
Interesse an uns,
in: Leviathan.
Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 14, S.361-391
SPIEGEL (1986): Weinende Alte.
Japan: Fast 2000 hundertjährige
Menschen - Japan empfindet die Vergreisung seiner Gesellschaft als
Alptraum,
in:
Spiegel
Nr.45
v. 03.11.
"Von den etwa 120 Millionen
Japanern sind gegenwärtig 12,8 Millionen über 65, das sind 10,5
Prozent der Bevölkerung. An sich wäre das kein Grund zur Besorgnis -
in der Bundesrepublik leben 15 Prozent Alte. Doch die Zuwachsrate ist
weit beängstigender als die deutsche. Im Jahre 2025 werden die Japaner
über 65 nach der jetzigen Entwicklung fast ein Viertel der Bevölkerung
ausmachen.
(...).
Die Zahlen-Projektionen sind eindeutig: Heute kommen auf jeden Japaner
im Ruhestand gut sechs Erwerbstätige; im Jahr 2025 werden es nur noch
2,5 sein.
Die Zahl der bettlägerigen Alten, heute 610.000, wird dann bei 1,9
Millionen liegen. Statt 650.000, die jetzt an Altersschwachsinn
leiden, werden es 2,2 Millionen sein.
(...).
1963 hatte Japan nur 153 über Hundertjährige, heute sind es 1851. Die
Lebenserwartung hat sich in den vergangenen 40 Jahren um
durchschnittlich 25 Jahre verlängert, sie ist heute die höchste in der
Welt",
berichtet der Spiegel zum
demografischen Wandel in Japan. Ob die prognostizierten Auswirkungen
des demografischen Wandels tatsächlich so eintreffen wie von den
Wissenschaftlern befürchtet, das wird Sache der empirischen
Überprüfung sein. Der japanischen "Altersschock" (Artur E. IMHOF)
durch die hohe Zuwachsrate war bereits 1972 Thema eines
japanischen Bestsellers.
1997
KUNZ,
André & Artur K. VOGEL (1997): "Alles
weichgekocht, für Zähne alter Leute".
Ryu Murakami, der bekannte
japanische Schriftsteller und Filmemacher, über
japanische Traditionen und den Wandel der Werte,
in:
Tages-Anzeiger
v. 05.04.
1998
TAMAKI, Saito (1998): Hikikomori
Das Buch Hikikomori des
japanischen Psychologen Saito TAMAKI erschien
im Jahr 2013 auch auf Englisch und befasst sich mit dem Phänomen
des sozialen Rückzugs in Japan. In Deutschland geriet das Phänomen
Mitte der Nuller Jahre in den medialen Fokus. Der englische Untertitel
Adolescence Without End, was so viel wie endlose Jugend heißt,
zeigt die Anschlussfähigkeit an die öffentliche Debatte in
Deutschland, wo die Postadoleszenz im Zeichen des demografischen
Wandels in die Kritik geriet und Begriff wie
"Generation Umhängetasche", "Generation Praktikum" oder "urbane
Penner" (Mercedes BUNZ) weniger pathologische Formen einer
verlängerten Adoleszenz bezeichneten, deren Ursachen vielfach dem
veränderten Arbeitsmarkt geschuldet ist.
COULMAS, Florian (1998):
Japan außer Kontrolle. Vom Musterknaben zum Problemkind Darmstadt:
Primus Verlag
Florian COULMAS, Jahrgang 1949
und deutscher Kulturwissenschaftler für die Geschichte Japans,
beschreibt in dem Buch Japan außer Kontrolle die "Vergreisung"
als Japans zukünftiges Problem:
"In Japan ehrt man das Alter,
aber diese Tendenz betrachten doch viele mit gewisser Beklemmung. 1947
war die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen 54, die für
Männer 50 Jahre. Ein halbes Jahrhundert später war sie für beide
Geschlechter fast 30 Jahre länger. Mit 83 bzw. 77 Jahren hatten
Japanerinnen und Japaner die höchste Lebenserwartung der Welt.
Rückblickend ist darin gewiß ein Beweis ihres Wohlstands und ihrer gut
funktionierenden Gesellschaft zu sehen, aber vorausschauend vor allem
eine gigantische Herausforderung. Die Probleme, die die Vergreisung
der Gesellschaft mit sich bringt, können nicht länger übersehen
werden.
Was
das Sozialsystem betrifft, hinkt Japan hinter anderen Industrieländern
her, konnten sich doch die meisten bis vor einer Generation für die
Altersversorgung auf die Familie verlassen. Das ist heute, wo die
große Mehrheit der Bevölkerung in den Städten wohnt und
Drei-Generationen-Haushalte zur Ausnahme geworden sind, anders. Der
Staat muß eine größere Rolle übernehmen, ob er will oder nicht. Denn
auf die Jungen kommen unvermeidlich größere Lasten zu. Schon jetzt ist
die Altersgruppe der bis 14jährigen kleiner als die der über
65jährigen. Der dem Gesundheitsministerium unterstehende Rat für
Bevölkerungsprobleme hat eine Rechnung vorgelegt, nach der die
sozialen Lasten - Steuern, Krankenversicherung, Rente - für den
durchschnittlichen Arbeitnehmer von 38,5 % seines Einkommens Ende der
neunziger Jahre auf 55,5 % im Jahre 2025 anwachsen werden. Dabei wurde
ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von 1,5 % bis
1,75 % vorausgesetzt. Bei geringerem Wachstum werden die Lasten für
die Steuerzahler noch größer sein. Es wird erwartet, daß die
japanische Bevölkerung bis 2007 weiter auf 127 Millionen anwächst und
dann abnimmt. Als Folge dieser Entwicklung werden um die Mitte des
nächsten Jahrhunderts 1,7 Menschen im arbeitsfähigen Alter für einen
Senior sorgen müssen, während das Verhältnis jetzt noch 4,7 zu 1 ist."
(1998, S.112f.)
Diese deutschsprachige Sicht
übersieht, dass Japan im Jahr
1998 den "Altersschock" bereits hinter sich hat und nicht die
"Vergreisung", sondern der gesellschaftliche und wirtschaftliche
Wandel das eigentliche Problem ist.
1999
YAMADA, Masahiro (1999): Parasaito
Shinguru no Jidai, Tokio: Chikuma Shinsho
Das Buch über das Zeitalter der
parasitären Singles wurde im westlichen Ausland gehypt, obgleich der
Single-Begriff von YAMADA in Deutschland dem Begriff "Nesthocker"
entspricht:
"Mr. Yamada defines parasite
singles as »young men and women who continue living with their parents
even after they become adults, enjoying a carefree and well-to-do life
as singles.«"
schreiben Hirouki TAKAHASHI &
Jeanette VOSS in ihrem Beitrag
"Parasite Singles" A Uniquely Japanese Phenomenon? im Japan
Economic Institute-Report, Nr.31 v. 11.08.2000. In der
öffentlichen Debatte dominiert in der ersten Hälfte der Nuller Jahre -
zumindest im westlichen Ausland - die Etikettierung von Frauen als
"parasitäre Singles", obgleich statistisch gesehen die männliche
Variante dominiert. Diese Zuschreibungsprozesse sind also nicht den
japanischen Verhältnissen geschuldet, sondern Projektionen nationaler
Debatten.
2000
TOLBERT, Kathryn (2000): Japan's New Material
Girls.
"Parasite Singles" Put Off Marriage
for Good Life,
in: Washington Post v. 10.02.
ITOI, Kay (2000):
Woman Warriors.
For Japan's flexible women,
these are the best times. Why? The new economy,
in:
Newsweek
v. 03.04.
ASHBY, Janet (2000): "Parasite singles": problem
or victims?
in: Japan Times v. 07.04.
Thema "Japan
lebt" - Einblick in die aktuelle Literatur
und Filmkunst Japans,
in: Titel
MIYAMOTO, Michiko
(2000): The Changing Human Beings and Society:
Gender, Generation and Family, Rede auf einem
Symposium,
in:
http://criepi.denken.or.jp
MIYAMOTO, Michiko
(2000): Ban-kon, Hikon Sedai no Chokumen suro
mono: Parasite Single no Airo,
in:
Kiko Kakei Keizai Kenkyu,
Nr.47, Sommer, S.28-35
NZZ
(2000): Neue Wege für die japanischen Frauen.
Sozialer Wandel in einer
konservativen Gesellschaft,
in:
Neue
Zürcher Zeitung v. 14.09.
2001
HATANO,
Yoshio (2001):Views from Japan.
A
Guide to Commentary in Monthly Magazins,
in: Foreign Press Center,
Japan, Vol 6, No3, März
HATANO fasst einen
Artikel von Michiko MIYAMOTO zusammen, in
dem die verlängerte Jugendphase der
Japaner beklagt wird. Das Erwachsensein
wird hier ganz traditionell durch den
Familienstand "verheiratet"
definiert.
HAL
(2001): Immer weniger Kinder
Kosten der
Kindererziehung im Weltvergleich,
in: Welt
v. 20.04.
JARDINE,
Anja (2001): Emanzen auf Japanisch.
Bisher
galt Japan nicht gerade als großes Land der
Gleichberechtigung, jetzt wird eine Frau
Außenministerin. Im Land der Geishas brechen die
Frauen mit Traditionen, laufen herum wie
Moderebellen und kämpfen sich nach oben,
in:
Spiegel
Nr.19 v. 07.05.
"Fast die
Hälfte der Japanerinnen im Alter
zwischen 25 bis 29 ist heute
unverheiratet. Lauter "übrig
gebliebene Weihnachtskuchen".
Während die Mütter dieser Frauen
spätestens mit 20 ihre ersten
Heiratsinterviews zu absolvieren hatten,
denken die Töchter gar nicht daran zu
heiraten. Und wenn, dann muss der Ehemann
nicht unter demselben Dach wohnen. Den
jungen Männern soll es recht sein. Auch
sie wohnen lieber bei Muttern als mit
ihren Partnerinnen. So führen diese "parasitären Singles", wie sie
genannt werden, Pendler-Ehen, und die
Emanzipation der Frau geht mit einer
gewissen Geschlechtertrennung
einher",
meint Anja JARDINE.
Interessant
daran ist, dass
Nesthocker im
Japan-Bericht als Singles
bezeichnet werden. Bei uns haben
Nesthocker ein positives Image.
Erst im Einpersonenhaushalt
werden aus sozialen Nesthockern
asoziale Singles. Familie ist bei
uns eine Frage der
Haushaltszusammensetzung und
nicht des
Generationenzusammenhalts. Bei
uns existiert immer noch der
Mythos vom
"Pillenknick". Japan
zeigt aber, dass der Zusammenhang
zwischen Geburtenrückgang und
Antibaby-Pille keineswegs so
zwingend ist, wie er immer wieder
dargestellt wird.
Ein Kommentar u. a. zu den
japanischen Singles.
Nesthocker
im Konsumrausch werden von dem japanischen Soziologen
Asahiro YAMADA, Autor des Buchs Parasaito Shinguru no
Jidai (1999) als "parasitäre Singles" bezeichnet.
SCHMITT,
Uwe (2001): Japans Frauen kratzen am Stolz der
Männer.
Auch
wenn die Mehrheit in den alten Grenzen der
häuslichen Welt lebt, machen viele Elitefrauen
ihren männlichen Artgenossen Beine,
in:
Welt
v. 11.08.
SCHMITT beschreibt
die "Generation von Müttern, die in
den sechziger Jahren geboren wurde und
vielleicht als erste erlebte, dass sie in
der Schule ähnlich gefördert wurde wie
die Jungen (...). Nach dem Ende des
Studiums aber stießen die jungen
Japanerinnen in den ersten
Bewerbungsgesprächen auf eine Wand der
Ablehnung. Arbeit konnten sie wohl haben
- mindestens bis zum Wirtschaftseinbruch
Anfang der neunziger Jahre -, aber keine
Illusionen mehr über die Grenzen ihres
beruflichen Aufstiegs. Dienen sollten
sie, duften und erblühen als 'Blumen des
Büros'. Sie sollten sich nicht prüde
anstellen, wenn ihrem Chef einmal die
Hand ausrutschte, und endlich einen
netten Kollegen erhören und in die Ehe
verschwinden, bevor sie welkten.
Mit jedem
Berufsjahr wuchs der Druck. Wohlmeinende
Vorgesetzte und besorgte Eltern taten
sich zusammen: Allein stehende Frauen,
sagten sie, seien verdammt zur
Abhängigkeit einer Mätresse oder zur
Bitterkeit der Jungfer. Irgendwann gaben
sie den Widerstand auf und heirateten.
Und sie lebten mit der Ironie, dass sie
in die Lebenshaltung ihrer Mütter
zurücksanken, während diese, aller
Sorge um die Kinder ledig, mit Mitte
vierzig ihre erste Freiheit entdeckten.
In Sprachkursen und Bildungsreisen, auf
Tennisplätzen und Bürgerinitiativen, in
Ausstellungen, Konzerten und
Teezeremonien begann in den achtziger
Jahren die Kraft einer Klientel mit Zeit,
Bildung, Geduld und Geld zu wirken, die
als "Obasan-Power"
sprichwörtlich wurde. Was dieselben
Frauen nicht etwa davon abhielt, ihre
Töchter und Schwiegertöchter zur
endgültigen Erfüllung ihrer
Weiblichkeit in der Mutterschaft zu
drängen."
Bericht über den
Spielzeug-Roboter Memoni. Der
anvisierte japanische Kundenkreis sind
"alleinstehende, einsame
Büroangestellte und junge Frauen,
Eltern, deren Kinder aus dem Haus sind,
oder alte Ehepaare, die ihrem Partner
nichts mehr zu sagen haben."
"Tamagotchi ist total
veraltet, hier kommt die erste Variante des Ersatzmenschen,"
kündigt SCHWARZACHER den japanischen Spielzeugroboter
Memoni
an.
SCHEPP, Matthias
(2001): "Sie hat sich für das Land
geopfert".
Endlich! Ein Baby für
Japans Thronfolgerpaar - und ein Lichtblick für
die weltgewandte Prinzessin Masako, die sich seit
acht Jahren den strengen Regeln des Kaiserhofes
unterordnet,
in:
Stern
Nr.49 v. 29.11.
So stellen sich
Monarchisten die
Disziplinierung der Karrierefrau vor...
NEIDHART, Christoph
(2001): Das Märchen vom Kaiserhaus.
In Japans Geschichte
spiegeln sich die Wunschvorstellungen des
Westens. Angebliche Traditionen versperren der
Gesellschaft den Weg zur Modernisierung,
in: Die Weltwoche
Nr.49 v. 07.12.
NEIDHART bezweifelt
die Lieblingsthesen der
Monarchisten.
"Zu den
Hauptkontingenten des japanischen
Auslandtourismus gehören jüngere
Singles, die, da sie häufig bei den
Eltern wohnen, über ein gut dotiertes
Budget für private Vergnügen verfügen,
sowie ältere, häufig pensionierte
Ehepaare, die, nachdem sie jahrzehntelang
hart gearbeitet haben, nun die Welt
erfahren wollen",
heißt es in
diesem Bericht. Singles,
die bei den Eltern wohnen, heißen in
Deutschland
"Nesthocker" und
fallen nicht unter die Rubrik
"Singles", sondern unter die
Familie.
Die
amtliche Sozialstaatsoptik verhindert
einen unverzerrten Blick auf dieses
Phänomen. Jene Gruppe, die das
"Hotel Mama" gerne in Anspruch
nimmt, weil sie dann das Geld für ein
teures Single-Apartment spart, ohne sich
gleichzeitig im Familienverband sozial
engagieren zu müssen, erscheint per se
als sozial, während jene Menschen, die
sich zwar sozial engagieren, aber einen
Einpersonenhaushalt aus
unterschiedlichsten Gründen führen, per
se als unsozial erscheinen.
2002
SCHNEPPEN, Anne (2002): Shoganai - es
kommt, wie es kommt.
Geldnöte und Arbeitslosigkeit sind in Japan
eine Schande - mit der Zahl der Konkurse steigt die Selbstmordrate,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
v. 06.01.
Das Gegenstück zum männlichen
Selbstmörder mittleren Alters ist für SCHNEPPEN der weibliche
Single:
"Auf Tokios teurer Omotesando entsteht
schon wieder ein Palast des Überflusses. Die typische Kundin
ist freilich nicht die Hausfrau, sondern vielmehr die junge
Büroangestellte. Meist leben die noch - mit freier Kost und
Logis - bei ihren Eltern. 'Single-Parasiten' nennt der
Volksmund diese Frauen, die ihren ganzen Verdienst dem
Vergnügungen widmen können."
US (2002): Wachsende
demographische Probleme.
Beschleunigter Geburtenrückgang in Japan,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 07.02.
Schon "fast die Hälfte aller
japanischen Männer zwischen 30 und 34 ist Single - vor
fünfzehn Jahren war nicht mal jeder Dritte im selben Alter
noch allein stehend. Und während im Jahr 1985 gerade mal jede
zehnte Japanerin über 30 noch ledig war, ist es heute jede
dritte. Derweil hat ein krasser Imagewandel stattgefunden:
Alleinstehende berufstätige Frauen im heiratsfähigen Alter
gelten heutzutage als die freiesten und entspanntesten
Menschen der Nation - vielleicht sogar die einzigen freien und
entspannten Menschen in einem Land, in dem das Zusammenleben
immer noch von starken Hierarchien geprägt ist. Und die
ledigen Damen sind ein verlässliches Element des
Binnenkonsums",
schreibt HAAK über die
Großstadtsingles im Japan. Diese
Sichtweise des Wirtschaftsressorts des Tagesspiegels
scheint doch ein wenig zu optimistisch. In Japan herrscht
Rezession und dadurch ist natürlich jeder Konsument willkommen,
aber gleichzeitig stehen in Japan noch gravierendere Reformen
des Sozialsystems an wie hierzulande, weswegen der Begriff
"parasitäre Singles" zum Kampfbegriff der Familienrhetoriker
avanciert ist.
In der japanischen Literatur gibt es nur
wenige jüngere Autoren, die das Lebensgefühl der jungen Singles
wiedergeben. Dazu gehört vor allem der auch bei uns erfolgreiche
Haruki MURAKAMI, der jedoch eher das Lebensgefühl der männlichen
Singles ausdrückt.
NEIDHART, Christoph (2002): Artige
Rebellen.
Die Girls bewundern gegenseitig ihre Verkleidungen, die Boys
verwandeln Autos in Kultobjekte. Japanische Jugendliche wollen
auffallen - indem alle dasselbe tun,
in: Weltwoche Nr.16 v. 19.04.
BLUME, Georg (2002): Lauter
willenlose Parasiten.
Die japanische Volkswirtschaft krankt an kollektiver
Verantwortungslosigkeit,
in:
Die
ZEIT Nr.38 v. 12.09.
Georg BLUME klagt über die
japanische Jugend: "Ohne Berufsziel leben sie weiter auf Kosten
der Eltern. Man nennt sie «Parasiten»: Es ist die Generation, der
eines Tages die Qualifikation fehlen wird, um in einem Land,
dessen Bevölkerung dramatisch altert, die Pensionen zu sichern.
Ihre sprichwörtliche Faulheit aber sagt alles über die Zustände im
Land der Arbeitsbienen: So viel Zukunftslosigkeit war in Japan
noch nie."
FINSTERBUSCH,
Stephan (2002): Ende der Wohlfahrt.
Japan vergreist: Die Alten haben die Mehrheit, die
Durchschnittsfamilie hat nur noch ein Kind. Die Altersarmut wächst.
Das Leben in den Großstädten wird für viele unbezahlbar. Eine
Reportage aus einem verunsicherten Land,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 20.10.
Die asiatischen Deutschen werden gerne als
Vorbild und Drohbild benutzt. Entweder sind die
Deutschen zu arbeitsfaul und sollen sich am Arbeitseifer der
ameisenartigen Asiaten orientieren, oder die Deutschen sind zu
gebärfaul, dann sollen sie Japan als abschreckendes Beispiel vor
Augen geführt bekommen. Japan ist uns immer eine Nasenlänge
voraus, so will es das Japanbild der Wirtschaftsliberalen. Haruki
MURAKAMI, der globalisierte Japaner, erzählt dagegen vom "Neue-Mitte"-Japan
jenseits dieser Klischeebilder der Flakhelfer-Generation.
Urs SCHOETTLI
erklärt die Konsumlust der jungen japanischen Single-Frauen:
"Die europäischen Luxusmarken erhalten einen grossen Teil ihres
Appeals daraus, dass sie der japanischen Ästhetik mit ihrer
Betonung von zurückhaltender Eleganz in geradezu idealer Weise
entsprechen. Doch das Glück, das die Handtasche mit dem
richtigen Markenzeichen zu verschaffen vermag, reicht viel
weiter. Es lässt sich Stilbewusstsein und Kaufkraft zur Schau
stellen, und gleichzeitig verschafft die allgemeine Anerkennung
einer Luxusmarke Sicherheit. Man kann ja, wenn man das Label von
Yves Saint Laurent oder Armani trägt, unter seinesgleichen nicht
fehlgehen. So selbstbewusst modern sich die eleganten Singles in
ihrer äusseren Erscheinung geben mögen, in ihrer Seele sind sie
letztlich den Werten ihrer Elterngeneration treu geblieben und
wissen wie diese, was sich gehört."
2003
ZEIT-Serie:
Land ohne Leute (Teil 3) |
YAMAMOTO,
Chikako (2003): Ewig bei Kräften.
Japan - Nation mit dem höchsten Durchschnittsalter:
Selbstdisziplin und High-Tech bestimmen den Alltag,
in: Die ZEIT Nr.4 v. 16.01.
Urs SCHOETTLI
berichtet aus Japan:
"Die geschlechtliche Trennung in der Freizeitgestaltung ist wie
das
Phänomen der «parasitic singles»,
Frauen in den dreissiger Jahren, die noch bei den Eltern wohnen
und nicht daran denken, eine eigene Familie zu gründen, eine
Konsequenz der Arbeitskultur"
SCHOETTLI, Urs (2003): Sparen, sparen,
sparen.
Eine Geburtenrate von 1,34 Kindern und bald eine
Lebenserwartung von 90 Jahren: Was die demographische Entwicklung
betrifft, ist Japan Europa einiges voraus. Entsprechend düster
sind dort die Aussichten für künftige Rentner - viele sorgen mit
einer vierten Säule vor,
in: NZZ Folio, Beilage der Neuen Zürcher Zeitung, Nr.5 ,
Mai
Anne SCHNEPPEN montiert das
Unglück japanischer Kleinbürger, den Kaufrausch parasitärer
Singles und das Schicksal von Freetern (freie Arbeiter) zu einem
sozialpopulistischen Japan-Bild zusammen.
WEILER, Bernd (2003): Japans Altersbeschwerden.
Die zunehmende Vergreisung
der japanischen Gesellschaft gefährdet die wirtschaftliche
Leistungskraft der zweitgrößten Industrienation der Welt. Ökonomen
befürchten bereits einen Kollaps der Sozialsysteme. Die Regierung
will nun Lust auf Nachwuchs machen und auch mehr Gastarbeiter ins
Land lassen,
in: Welt v. 16.09.
"17 402 Japanerinnen sind
hundert Jahre oder älter, in diese Altersgruppe vorzustoßen gelang
dagegen nur 3159 Männern",
berichtet Bernd WEILER über
die Gesellschaft der Langlebigen in Japan. Das hohe Alter ist -
genauso wie in Deutschland - weiblich.
"Japan
war (...) das erste Land, in dem es nach 1945 zu einem
drastischen Geburtenrückgang kam",
lesen wir und fragen uns
erstaunt, wie konnte Japan trotz Geburtenrückgang derart lange
wirtschaftliches Vorbild für Deutschland sein? Den Autor
interessiert das jedoch gar nicht. Und
auf der Strecke bleibt auch die Tatsache, dass Japan in den
1970er Jahren einen "Alters-Schock" erlebte.
Arthur E. IMHOF, Jahrgang
1939 und Professor für Sozialgeschichte, beschreibt,
"daß erwachsene (20jährige)
Menschen nicht länger, wie noch unmittelbar nach dem zweiten
Weltkrieg durchschnittlich mit 60,9 Jahren (Männer) und 64,9
Jahren (Frauen) starben, sondern (im Jahr 1970) mit 71,3 und
76,1 Jahren. Doch war nicht nur die Lebenserwartung in kurzer
Zeit sprunghaft angestiegen; im Zusammenhang damit hatte ein
ebenso rascher Wandel vom alten zum neuen Sterbemuster
stattgefunden, weg von den ehedem rasch tötenden
Infektionskrankheiten und hin zu langwierigen chronischen
degenerativen Leiden, zu Senilität und langer Abhängigkeit von
Fremdbetreuung." (Individualismus und Lebenserwartung in
Japan. Japans Interesse an uns, 1986).
IMHOF erwähnt einen japanischen Bestseller
aus dem Jahr 1972, der das Problem auf den Punkt brachte. Die
Schriftstellerin
Sawako ARIYOSHI beschreibt in der
Novelle
Kokukotsu no hito das Dilemma einer modernen japanischen
Frau angesichts des Pflegeproblems, für das im damaligen Japan
kein Bewusstsein vorhanden war.
Die Entstehung des Schimpfwortes vom
"parasitären Single", das modernen berufstätigen Singlefrauen
gerne angehängt wird, hat seine Ursache u. a. auch in dieser
rasanten Entwicklung der Zunahme der Lebenserwartung.
2004
KNITTEL, Siegfried (2004): Das Heulen
einer Verliererhündin.
In Japan zerbrechen die alten Normen, und neue gibt es noch
nicht. So entsteht eine bislang unvorstellbare Kultur der
Verweigerung,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 07.11.
Siegfried KNITTEL
berichtet über den gesellschaftlichen Wandel in Japan, der mit
den "Freetern" und "parasitären Frauen" zwei "antisoziale
Gruppen" hervorgebracht hat:
"Freeter sind
Teilzeitarbeiter, die sich in keinem festen Arbeitsverhältnis
binden wollen (...).
Die freeter sind einer anderen Gruppe verwandt, für
welche die Sozialwissenschaft den Begriff parasite single
geprägt hat. Man versteht darunter junge Leute, zu siebzig
Prozent sind es Frauen, die zwar einer geregelten Arbeit
nachgehen, aber, meist umsonst und von ihren Müttern umsorgt,
zu Hause wohnen.
(...).
Tatsächlich ist das, was freeter und parasite
singles leben, eine Individualisierung, die auf halbem
Wege stehenbleibt, eine Protesthaltung, die nur das Recht auf
individuellen Lebensgenuß einfordert, sich aber der
Verantwortung für ein eigenständiges Leben verweigert."
Diesen "antisozialen
Gruppen" stellt KNITTEL eine dritte moderne Lebensform
gegenüber: die erfolgreiche Karrierefrau, deren Schicksal er
folgendermaßen beschreibt:
"Frauen, die sich
beruflich durchsetzen und, weil sie gut verdienen, nicht bei
ihren Eltern leben. Folglich werden sie von den Medien prompt
non parasite singles genannt. Ihr Dilemma ist, daß sie
meist keine Männer finden, die akzeptieren, daß ihre Frau
ihren Lebenssinn nicht in der Versorgung von Mann und Kindern
findet. Ein Bestseller aus der Feder einer solchen Single-Frau
macht indes die Gebrochenheit dieser Frauen deutlich. Junko
Sakai, die Autorin, beschreibt in ihrem Buch
»Makeinu no Toboe«
(»Das Heulen einer Verliererhündin«) die Zerrissenheit
zwischen beruflichem Selbstverwirklichungswunsch und dem
traditionellen Ideal der Ehemann und Kinder versorgenden
Ehefrau. Sie trägt jenes Japan, dem sie qua beruflicher
Laufbahn entflohen ist, mental noch in sich und leidet unter
dem gesellschaftlichen Vorurteil, wonach nur eine verheiratete
Frau wirklich erwachsen sei. Daß das Buch ein Bestseller
wurde, macht deutlich, wie virulent das Thema in Japan ist."
2005
Waren bislang
"parasitäre Singles", also Frauen, das Gesellschaftsthema
Nr.1, wenn es um Japan ging, so hat nun COULMAS den
freigesetzten Mann als Problemfall der alternden Gesellschaft
entdeckt:
"Als
«Sperrmüll» wurden die Männer bezeichnet, die nach Jahrzehnten
der Arbeit plötzlich tagsüber zu Hause waren - sie stehen im
Weg und sind schwer loszuwerden. «Nasses Herbstlaub» ist ein
anderer wenig schmeichelhafter Ausdruck - klebt an den Schuhen
und ist zu nichts zu gebrauchen. Frauen, die mit derart
nichtsnutzigen Männern geschlagen sind, gestehen offen ein,
ihre verwitweten Freundinnen zu beneiden. Das «Mann-zu-
Hause-Stress-Syndrom» wurde zum Gesprächsthema. Die Zahl der
Scheidungen im Rentenalter nimmt in Japan schneller zu als in
jeder anderen Altersgruppe.
Mittlerweile
schenkt man dem Problem nicht mehr nur in Talkshows
Aufmerksamkeit; auch die Wissenschaft hat sich seiner
angenommen. Der Soziologe Hidehiko Sekizawa bezeichnet die
ausgebrannten Männer der heutigen Rentnergeneration als das
grösste Problem der alternden Gesellschaft, sie noch einmal
einen Sinn im Leben finden, neue Erfahrungs- und
Tätigkeitsfelder erschliessen zu lassen, als eine
vordringliche Aufgabe, zu deren Lösung die Betroffenen selbst
nicht in der Lage sind."
MRE (2005): Für immer dich.
Keine Angst mehr vor
Alterseinsamkeit: In Japan gibt es jetzt sprechende Plastik-Enkel.
Sie kosten nur 61 Euro,
in: TAZ v. 10.03.
KAUFFMANN, Marco (2005): Gesichtsverlust ist ausgeschlossen.
Japans Jugend will nicht erwachsen werden.
Von den Konventionen überfordert, ziehen
sich immer mehr japanische Jugendliche aus der Gesellschaft zurück.
Ihr Leiden wird nur wahrgenommen, wenn sie aggressiv werden. Nun
treten ihre Eltern an die Öffentlichkeit. Sie wehren sich gegen die
Stigmatisierung der Hikikomori-Kinder
in: TAZ v. 19.05.
"Die
Hikikomori - übersetzt heißt das so viel wie »sich
einschließen« - leben teilweise jahrzehntelang ein
Eremitendasein: ein soziales Phänomen, das Psychologen
bisweilen als typisch japanisch bezeichnen. Ein Auflehnen
gegen die starren Normen einer streng durchorganisierten
Gesellschaft",
schreibt Marco KAUFFMANN in seinem Report
über ein japanisches Phänomen, das die taz in
Zusammenhang mit Trendvokabeln wie Cocooning oder
Nesthocker
bringt.
Florian COULMAS beschreibt
die demografische Krise in Japan als Folge der Zunahme flexibler
Doppelverdiener-Arbeitsverhältnisse in der "Freeta-Generation":
"Vorübergehende
Arbeitsverhältnisse nehmen ständig zu. Ihre Inhaber sind als
Freeta bekannt - ein Wortbastard aus «free» und «Arbeit». Mehr
als vier Millionen sind es bereits. Was als vermeintlich
erstrebenswerte Alternative zur Tretmühle des
Angestelltendaseins mit dem vorgezeichneten Lebensplan begann,
ist zum Strukturelement der Neuordnung der Gesellschaft
geworden. Denn die erste Freeta-Generation ist jetzt bereits
Mitte 30. Eine feste Stelle mit Pensionsberechtigung werden
nur die allerwenigsten von ihnen noch bekommen. Die
Mittelschicht mit Festanstellung und gleichmässig steigenden
Löhnen schmilzt dahin. Das Brotverdiener-Modell der Familie
ist obsolet. Schon mehr als 60 Prozent aller Haushalte beruhen
heute auf zwei Einkommen. Unterdessen geht die Geburtenrate
weiter zurück, die Zahl der Scheidungen steigt, und
Eheschliessungen werden immer länger hinausgeschoben.
Alternative Partnerschaftsformen nehmen zu."
Die Ehelosigkeit trifft in Japan auf noch
größeres Unverständnis als hierzulande.
Konservative japanische Soziologen wie
Masahiro YAMADA sprechen gar vom
"Zeitalter der parasitären Singles". Selbst vor erfolgreichen Karrierefrauen wie
Junko SAKAI macht die Stigmatisierung nicht Halt. SAKAI
unterscheidet sich von den üblichen Schicksalen nur dadurch, dass
sie einen
Bestseller über das Schicksal einer ehelosen
Karrierefrau jenseits der 30
geschrieben hat.
Vor diesem gesellschaftlichen
Hintergrund wird verständlich, wenn KAUFFMANN in seiner Reportage
eine professionelle Heiratsvermittlerin folgendermaßen zitiert:
"»Viele Eltern sind besorgt, wenn
ihr Kind nicht verheiratet ist, sie möchten das vor ihrem Tod
regeln«, sagt Saito, 61-jährig, mit schwarz gefärbtem Haar und
festem Blick. Arrangierte Beziehungen seien nicht die
wünschenswerteste Form der Bindung, aber »manche möchten heiraten,
doch es gelingt ihnen nicht. Da können wir einspringen.«"
HANSEN, Sven (2005): Operation Supersenior.
Japan sieht alt aus. Immer mehr Alte, kaum Kinder und keine
Zuwanderer - so sieht Japans demografisches Problem aus. Die
Gesellschaft dort orientiert sich um: auf gesunde, konsumfreudige
Pensionäre. Auch Herrn Yamasakis Zielgruppe sind die Senioren. Nur
darf der PR-Fachmann sie nicht so nennen,
in: TAZ v. 21.07.
Florian COULMAS
berichtet aus Japan:
"Die Volkszählung (...) soll
die Datengrundlage für die Entwicklung neuer politischer Konzepte
in den Bereichen Familie, Rente und Gesundheit liefern. Nach den
Wahlen im September kam eine aktive Bevölkerungspolitik unter den
bei den Bürgern erfragten Erwartungen an die Politik immerhin auf
den fünften Platz. Viele Menschen sehen in der niedrigen
Geburtenrate und der ihr folgenden Bevölkerungsschrumpfung eine
Bedrohung."
COULMAS, Florian (2005): Eine Last und
keine Lust.
Die Japaner heiraten nicht gern und wünschen sich keine Kinder: Das
Land schrumpft,
in: Süddeutsche Zeitung v. 29.10.
Florian COULMAS
erzählt die Geschichte von Midori OHARA, einer gut gebildeten,
30jährigen Nesthockerin als typische Frau einer jungen
Generation, die sich der Tradition verweigert:
"Das traditionelle Verhältnis der
Geschlechter und damit das Brotverdienermodell der japanischen
Familie ist obsolet, ein neues, in dem zwei arbeitende Partner
und Kinder Platz haben und auch die Großeltern nicht nur als
Last angesehen werden, ist noch nicht etabliert."
Anfang des Jahrtausends
wurden solche Frauen in der öffentlichen Debatte als
"parasitäre Singles"
beschimpft. COULMAS sieht im steigenden Heiratsalter und der
niedrigen Geburtenrate ein Symptom dieses gesellschaftlichen
Wandels, bei dem Bevölkerungsalterung und neoliberale
Ökonomisierung des Lebens zusammenwirken. In
Tokio ist für COULMAS dieser Trend am ausgeprägtesten:
"Die Geburtenrate der japanischen
Hauptstadt liegt mit 1,0 noch deutlich unter dem
Landesdurchschnitt."
HANSEN, Sven (2005): Die neue Großfamilie.
Gegen die Einsamkeit im Alter: Japan hat die zweitniedrigste
Geburtenrate der Welt. Gleichzeitig steigt die Zahl alter Menschen.
Der traditionelle Drei-Generationen-Haushalt geht so allmählich
verloren. Nun sollen künstliche Familien Abhilfe schaffen. Ein Besuch
in Japans erstem Altersheim mit integriertem Kindergarten,
in: TAZ v. 10.12.
2006
"Japans Bevölkerung, das
zeigen die letzten Zahlen, hat zwei Jahre früher als noch vor
wenigen Monaten prognostiziert begonnen zu schrumpfen. 2005
überstieg die Zahl der Todesfälle die der Geburten um 10 000. Wenn
die Frauen weiterhin so gebärunfreudig sind, wird die Depopulation
rasch an Fahrt gewinnen.
Dem
entgegenzuwirken, soll jetzt wenigstens ein Zeichen gesetzt
werden. Wie ernst das Problem genommen wird, zeigt sich daran,
dass im neuen Kabinett Koizumi ein Ministerium für
Geburtenrückgang und Gleichstellung eingerichtet wurde", berichtet
Florian COULMAS.
POSENER, Alan (2006): Schrumpfen wir uns gesund.
Alan Posener findet die
Warnungen vor der demographischen Katastrophe angesichts der realen
Probleme der Überbevölkerung weltfremd, abgeschmackt und lähmend,
in: Welt am Sonntag v. 19.03.
Alan POSENER, Jahrgang 1949
und Autor einer John LENNON-Monographie, sieht zwischen dem
Bevölkerungsrückgang und der Wohlstandsentwicklung einer
Gesellschaft keinen allzu engen Zusammenhang:
"Prognosen
der Ökonomen sind mit Vorsicht zu genießen. Jahrelang haben
sie den demographischen Faktor unterschätzt. Jetzt
überschätzen sie ihn. Im Jahre 2005 etwa begann Japans
alternde Bevölkerung zu schrumpfen. Im selben Jahr tauchte das
Land gegen alle Prognosen der Experten aus einer langjährigen
Depression wieder auf."
BORK, Henrik (2006): Japan.
Der Greisenstaat,
in: Süddeutsche Zeitung v. 04.05.
PFERSDORF, Silke (2006): Das Prinzip
Verantwortung.
Japan fragt sich: Wo soll das
Geld für die Renten herkommen? Bisher kümmerten sich die Jungen um die
Alten,
in: Tagesspiegel v. 07.06.
YAMAMOTO, Chikako (2006): Nippons von der Leyen hat es schwer.
Elternzeiten anderswo (4): Japan bietet familienpolitisch einiges -
vergeblich,
in: TAZ v. 19.06.
KOHLBACHER, Florian (2006): Arbeitskräftemangel und
Wissensverlust?
Das
Jahr-2007-Problem in Japan,
in: Japanmarkt, Juli
"Die demographische
Struktur Japans bringt ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis
mit weit reichenden Konsequenzen mit sich: Nisennananen-mondai,
das Jahr-2007-Problem. In Japan könnte ein großer Teil der
dankai-sedai oder der Baby Boomer ab dem Jahr 2007 ihr 60.
Lebensjahr erreichen und planmäßig in den Ruhestand gehen. Die
japanische Baby–Boom-Generation umfasst nach der engen
Definition, die Personen, die zwischen 1947 und 1949 geboren
wurden. (...).
Die Gesamtzahl der Baby Boomer von 6,8 Millionen — nach der
weiten Definition die noch die Jahrgänge 1950 und 1951
einschließt sogar 10 Millionen — macht zwar nur circa 5,4
Prozent der Gesamtbevölkerung, dafür aber knapp 10 Prozent der
Erwerbsbevölkerung aus" (2006, S.8),
beschreibt Florian
KOHLBACHER das Pensionierungsproblem, das die Babyboomer
auslösen. Ein Kasten auf Seite 9 erklärt den japanischen
Babyboomer-Begriff folgendermaßen:
"Die japanische
Baby-Boom-Generation wird auf japanisch als dankai-sedai oder
dankai-no-sedai, wörtlich also als »Klumpen«- oder
»Haufengeneration« bezeichnet. Dieser Ausdruck geht auf den
Roman »Dankai no sedai« von Taichi Sakaiya aus dem Jahr 1976
zurück und hat sich seitdem eingebürgert, da die Generation
der Baby-Boomer im Vergleich zu anderen Jahrgängen aufgrund
der »Masse« tatsächlich wie ein großer Klumpen oder Packen
erscheint."
Florian KOHLBACHER sieht
nicht wirklich ein Jahr-2007-Problem auf Japan zukommen.
Gemäß den
Historical Statistics of Japan (Stand: April 2012) der
japanischen Statistikbehörde wurden in Japan in den Jahrgängen
1940 bis 1952 mehr als 2 Millionen Kinder geboren:
Tabelle:
Anzahl der Lebendgeborenen und Geburtenrate in Japan 1940
- 1952 |
Jahr |
Anzahl Lebendgeborene |
Geburtenrate (TFR) |
Nettoreproduktionsrate |
1940 |
2.115.867
(2,110 Mill*) |
4,12 |
1,44 |
1941 |
2.277.293
(2,256 Mill.*) |
k. A. |
k. A. |
1942 |
2.233.660
(2,313 Mill.*) |
k. A. |
k. A. |
1943 |
2.253.535
(2,219 Mill.*) |
k. A. |
k. A. |
1944 |
k. A.
(2,274 Mill.*) |
k. A. |
k. A. |
1945 |
k. A.
(1,902 Mill.*) |
k. A. |
k. A. |
1946 |
k. A.
(1,576 Mill.*) |
k. A. |
k. A. |
1947 |
2.678.792
(2,623 Mill.*) |
4,54 |
1,72 |
1948 |
2.681.624
(2,702 Mill.*). |
4,40 |
1,76 |
1949 |
2.696.638
(2,694 Mill.*) |
4,32 |
1,75 |
1950 |
2.337.507
(2,447 Mill.*) |
3,65 |
1,51 |
1951 |
2.137.689
(2,239 Mill.*) |
3,26 |
1,39 |
1952 |
2.005.162
(2,071 Mill.*) |
2,98 |
1,29 |
|
Anm.: *
Angaben
Statistisches Jahrbuch 2018, Tab. 2-1 |
Der Verlauf des
japanischen Babybooms zeigt, dass der erste Babyboomer-Jahrgang
1947 die höchste Geburtenrate aufwies und von da an ein
Geburtenrückgang einsetzte, wobei die Geburtenraten anfangs weit
über dem Ersatz der Elterngeneration (Nettoreproduktionsrate 1
und höher) lagen. Zwischen 1956 und 1964 wurde die
Elterngeneration dagegen nicht mehr ersetzt. Erst ab 1975 fiel
die Geburtenrate dauerhaft unter das Bestandserhaltungsniveau.
Seit dem Jahr 2005 liegt
die Anzahl der Lebendgeborenen in Japan zwischen 1 Million und
unter 1,1 Millionen (vgl. Statistisches Jahrbuch 2018). Die
heutigen Jahrgänge in Japan umfassen also lediglich 40 Prozent
der geburtenstarken Jahrgänge. In Deutschland waren die
geburtenstärksten Jahrgänge nur halb so groß wie in Japan. Im
Jahr 2011 wurden in Deutschland die wenigsten Kinder geboren.
Das waren rund 48,5 Prozent des geburtenstärksten Jahrgangs
1964.
Seit 2010 ist die
japanische Bevölkerung um rund 1 Million Menschen geschrumpft.
Inwieweit damit ein dauerhafter Schrumpfungsprozess eingesetzt
hat, das ist die Frage. Auch in Deutschland sollte die
Bevölkerung gemäß Bevölkerungsvorausberechnungen bereits
dauerhaft schrumpfen, doch die Bevölkerungsentwicklung hielt
sich nicht an die Prognosen.
COULMAS, Florian (2006): Keine Angst!
Die Japaner blicken nach vorn und sehen nichts Gutes,
in: Neue Zürcher Zeitung v. 06.07.
Florian COULMAS
berichtet über Japan, dessen Bevölkerung seit letztem Jahr
schrumpft
FINSTERBUSCH, Stephan (2006): Japan ist am Wendepunkt.
Der Gipfel ist überschritten,
die Einwohnerzahl Japans sinkt. Während das Land gerade
Italien als „weltälteste
Nation“ mit 21 Prozent der Bevölkerung im Rentenalter abgelöst hat,
ging nun auch die Zahl der Einwohner auf 127,65 Millionen zurück,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 07.08.
FINSTERBUSCH, Stephan (2006):
Japans Einwohnerzahl sinkt.
Mehr Rentner als Kinder. Eine
Herausforderung für die Sozialkassen
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v.
01.11.
MÜNCHHAUSEN, Anna von (2006): Hier
werden Senioren wie Sperrmüll behandelt.
In Japan gehen 2007 Millionen Männer in den Ruhestand. Die
wenigsten von ihnen sind zu Hause willkommen,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 31.12.
"Wenn man so will, exerziert
Japan anderen Industrienationen vor, was die demographische Krise
alles mit sich bringt. Japan wird älter, Kinder sind echte
Mangelware, und immer mehr Frauen erobern gut bezahlte Jobs und
denken nicht daran, sich dem konventionellen Rollenbild zu
unterwerfen", meint Anna von MÜNCHHAUSEN, Jahrgang 1953 und
Autorin des Buchs Eine Stunde für mich allein für
gestresste Mütter aus dem Jahr 2001.
2007
FINSTERBUSCH, Stephan (2007): Unsicher, hilflos, verdrängt und
vergessen.
In der japanischen Provinz Toyama tickt die demographische
Zeitbombe am lautesten,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.01.
SCHOETTLI, Urs (2007): Im
Zwischenreich.
Angst vor Nationalismus, Marginalisierung, Überalterung - in
Japan geht die Nachkriegszeit zu Ende,
in: Neue Zürcher Zeitung v. 22.01.
Urs
SCHOETTLI ist überzeugt, dass Japan den
Bevölkerungsrückgang, der mittlerweile eingesetzt hat - aufgrund
seiner Tradition - stoppen wird:
"Einmal
mehr wird Japan für soziale Herausforderungen eine Lösung
finden, die sich von den Gepflogenheiten anderer Kulturen
markant unterscheiden wird. Nicht ein Kommando der Obrigkeit,
sondern ein aus dem allgemeinen Konsens der Gesellschaft
erwachsender Druck wird die Menschen zu Verhaltensänderungen,
konkret die Frauen wieder zu einem heirats- und
kinderfreundlicheren Verhalten, veranlassen. Heute sind in
Japan rund sechzig Prozent aller Frauen im Alter von 30 Jahren
unverheiratet, und bei den 34-Jährigen haben noch immer rund
vierzig Prozent keinen Bund fürs Leben geschlossen. Der
Volksmund bezeichnet diese jungen Frauen, die häufig noch bei
den Eltern wohnen, als
«parasitische Junggesellinnen».
Bereits in dieser Bezeichnung, die in einem Land mit einer
aussergewöhnlichen Hochachtung für gegenseitige
Verpflichtungen einen prononciert vorwurfsvollen Unterton
enthält, zeichnet sich ab, wohin in Zukunft die Entwicklung
gehen wird. Die Allgemeinheit, die sich auf einen
Gesellschaftsvertrag mit gegenseitigen Verpflichtungen berufen
kann, wird für die demographische Kurskorrektur besorgt sein."
STEFFEN, Susanne (2007):
Unbewohnt und seelenlos.
Japan: Sterbende Dörfer und Vereinsamung in den Städten sind
Folgen der Überalterung. Roboter sollen Senioren künftig pflegen
und ihnen Gesellschaft leisten,
in: Focus Nr.24 v. 11.06.
"Wegen niedriger Geburtenraten
(1,32 pro Frau) und besonders hoher Lebenserwartung (78,5 Jahre
bei Männern, 85,5 Jahre bei Frauen) verläuft der Prozess in Japan
noch ein wenig dramatischer als in Deutschland: Waren 2005 noch
20,1 Prozent der Bevölkerung über 65, werden 2050 schon fast 40
Prozent das Rentenalter überschritten haben. Aus Japans Bergen,
die 70 Prozent des Archipels ausmachen, droht unbewohntes
Niemandsland zu werden", berichtet Susanne STEFFEN.
MUSCHG, Konrad (2007): "Roboter als Freund und Helfer".
Professor Luo Zhi-Wei vom Riken-Forschungsinstitut im japanischen
Saitama propagiert Gesellschafts- und Haushaltsroboter in der
Altenpflege,
in: Focus Nr.24 v. 11.06.
KÖHLER, Angela
(2007): Großer Schatz.
Japans Antwort auf die Volksvergreisung: Jeder soll
künftig so lange arbeiten, wie er mag,
in: Wirtschaftswoche Nr.26 v. 25.06.
Die hysterische Demografie-Debatte bringt
solch unfreiwillig komische Sätze hervor wie jenen von KÖHLER:
"Japan löste bereits vor einem Jahr
Italien als älteste Nation der Welt ab".
Gemeint ist damit, dass
der Anteil der 65 Jährigen und älteren an der gesamten Bevölkerung
in Japan inzwischen höher ist als in Italien.
Verantwortlich
gemacht wird dafür zum einen die steigende Lebenserwartung
(Japanerinnen halten den Weltrekord). Hier kann sinnvollerweise
also nur von einer
Gesellschaft der Langlebigen
geredet werden.
Zum anderen der
Geburtenrückgang, den Nationalkonservative mit der Wortschöpfung
"Unterjüngung" versehen haben. Der Soziologe Karl Otto
HONDRICH hat sich in seinem Buch
Weniger
sind mehr
mit den scheinbaren Gewissheiten der Demografiedebatte befasst, u. a. auch mit der allseits beklagten "Vergreisung":
"Über die durchschnittliche Lebensdauer von Individuen wissen wir
inzwischen genau Bescheid; über die Lebensdauer von Gesellschaften
wissen wir nichts. Ein Mensch in Deutschland wir heute
normalerweise fast 80 Jahre alt; wie alt aber wird,
»normalerweise«, die deutsche Gesellschaft? Dass sie eine
Gesellschaft mit immer mehr Alten sein wird, heißt nicht, dass sie
eine alte Gesellschaft wird. Die Individuen, die sie hervorbringt,
sind ein relativ neuer Typus Mensch, den es in früheren
Gesellschaften kaum gab.
Erst in einer Gesellschaft mit langer Lebensdauer für den
Einzelnen kann sich das Individuum als moderner Typus Mensch
entfalten. Aber auch als gesellschaftlicher Typus ist die
Gesellschaft der Alten jung und neu. Das Alter ihrer Individuen
übersetzt sie gleichsam in kollektive Jugendlichkeit. Denn moderne
Gesellschaften sind insofern jugendlicher und innovativer als
alte, als sich ihre innere Gliederung und äußere Ausdehnung
stärker verändern. Im Innern bilden sich für jede Aufgabe oder
jedes Problem soziale Subsysteme mit gesteigerter
Problemlösungsfähigkeit heraus. Nach außen verschieben sie ihre
Grenzen über nationale Rahmen hinaus und vergrößern so ebenfalls
ihre Fähigkeit, Auswege für Probleme zu finden." (2007, S.14f.)
"Hikikomori
ist ein Begriff, den vor einigen Jahren der Psychologe Tamaki
Saito geprägt hat. Er bedeutet «akuter Rückzug aus der
Gesellschaft» und bezeichnet sowohl das Syndrom als auch die
davon Befallenen.
(...). Hikikomori
ist heute in Japan eine anerkannte Zivilisationskrankheit,
deren Auftreten den Rahmen individueller Fehlentwicklung
längst gesprengt hat. Die Zahl der Betroffenen wird auf über
eine Million geschätzt.
(...).
Achtzig Prozent der Hikikomori sind junge Männer über
achtzehn",
berichtet Florian COULMAS,
der das Phänomen der Hikikomori auch im Zusammenhang mit der
Modernisierung Japans sieht:
"Kollektivismus war die
herrschende Ideologie, die von dem Einzelnen verlangte, sich
im Interesse des Gemeinwohls unterzuordnen, es ihm aber auch
erlaubte, sich einzuordnen, mit dem Strom zu schwimmen in der
Gewissheit, voranzukommen und nichts falsch zu machen.
Inzwischen sind die Grundlagen des steten gleichförmigen
Aufstiegs zerbrochen. Die Deregulierung des Arbeitsmarkts im
Zuge der Globalisierung und der lang anhaltenden
Wirtschaftsflaute seit Beginn der neunziger Jahre hat zu einem
drastischen Rückgang dauerhafter Beschäftigungsverhältnisse
geführt. Statt durch Wachstum und Konformitätsdruck ist das
Leben durch Risiko und Konkurrenzdruck gekennzeichnet, eine
Entwicklung, die an der ideologischen Front durch die
Propagierung des Individualismus als wertvoller Lebenshaltung
noch verstärkt wird."
Zu den demographischen
Ursachen des Phänomens hat COULMAS Spekulatives zu bieten,
nämlich die Verringerung der Personen pro Haushalt, die COULMAS
als Vormarsch er Ein-Kind-Familie beschreibt:
"Begleitet wurde
diese Entwicklung von
tiefgreifendem demografischem Wandel mit
vielen Folgen für die Gesellschaft."
(...).
Alle Energie, alle Hoffnungen und Erwartungen der Eltern
konzentrieren sich auf die wenigen Kinder, deren Wünsche
erfüllt werden und die nicht lernen, einem Druck standzuhalten
und sich durchzusetzen.
Die Verkleinerung
der Familie bringt neue Persönlichkeitstypen und neue
Interaktionsmuster hervor, wie sie die Hikikomori
exemplifizieren. Beweise dafür, dass diese Art der
Unangepasstheit eine Folge der verminderten Familiengrösse
ist, gibt es nicht, aber die wachsende Zahl von Einzelkindern
wird von vielen Japanern mit Sorge betrachtet. Die
Einzelkind-Familie ist auf dem Vormarsch."
ECONOMIST-Titelgeschichte:
How to deal with a shrinking population |
ECONOMIST (2007): Cloud, or silver lingings?
Japan's population is ageing fast and shrinking. That has
implications for every institution, and may even decide the fate of
governments,
in: Economist v. 28.07.
COULMAS, Florian (2007): Die Gesellschaft Japans. Arbeit,
Familie und demografische Krise München: C. H. Beck Verlag
Florian COULMAS, Jahrgang
1949 und deutscher Kulturwissenschaftler für die Geschichte
Japans, beschreibt in dem Buch die "demografische Krise" Japans,
die besser als
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme zu beschreiben
wäre. Bereits im Buch
Japan außer Kontrolle,
das 1998 in Deutschland erschienen ist, beschreibt COULMAS die
"Vergreisung" als zukünftiges Problem, obwohl der "Altersschock"
die Japaner bereits Jahrzehnte zuvor getroffen hat.
Das Buch, dessen Thematik
und Blickrichtung sich der deutschsprachigen Debatte um den
demografischen Wandel verdankt, projiziert in erster Linie die
Befürchtungen unserer neoliberalen Eliten auf Japan.
Japan gehört wie die USA zu jenen Ländern,
die aufgrund ihrer hohen Geburtenraten in den 1940er und 1950er
Jahren vom "Altersbeben" besonders stark betroffen sind.
Christoph NEIDHART zufolge haben die Japaner jedoch genau
jene Mentalität, die den Deutschen heutzutage abverlangt werden
soll:
"Wichtiger als organisatorische
Unterschiede zu Europa dürfte die Einstellung der Japaner zum
Alter sein. Obwohl vom Konfuzianismus nicht viel geblieben
ist, begegnet man in Ostasien Eltern, überhaupt alten Leuten
mit mehr Respekt als im Westen. Und zugleich mit mehr Milde
und Nachsicht: fast wie Kindern gegenüber. Die Alten
andererseits suchen, so lange wie möglich, Aufgaben in der
Gesellschaft zu übernehmen".
Dieses verklärte Japanbild,
das uns Deutschen hier präsentiert wird, hat viel mit deutschem
Wunschdenken zu tun.
Der Sozialhistoriker Arthur
IMHOF hat bereits 1986 in seinem Aufsatz
Individualismus und Lebenserwartung in
Japan die Probleme der japanischen Übergangsgesellschaft
der 1970er Jahre geschildert.
Junge berufstätige Frauen werden noch heute
als "parasitäre Singles"
beschimpft, weil sie den traditionellen Vorstellungen nicht mehr
entsprechen.
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