|
Wenn ich mal groß bin
"Fragen
Sie sich auch manchmal, warum Sie jeden Tag Ihren halben
Haushalt mit sich herumschleppen? Und zwar in einer
Tasche, die eigentlich für Fahrradkuriere konzipiert
wurde? Sind Sie Fahrradkurier? Haben
Sie überhaupt ein Fahrrad? Ich nicht.
Diese
monströse Umhängetasche ist in Wahrheit ein Mühlstein, der Sie
hinabzieht in einen Abgrund aus romantischer Regression und
depressivem Stillstand. Sie ist das Symbol Ihres Status: nicht
mehr ganz jung und dafür total gut ausgebildet, nicht mehr ganz
dumm und doch nicht so klug, um die
Zeichen der Zeit zu erkennen und sich einem
verantwortungsvollen, neuen Lebensabschnitt zu stellen:
dem Erwachsensein."
(2008, S.8) |
Von der Notwendigkeit erwachsen zu
werden
Martin REICHERT ist ein
Angehöriger der Geburtskohorten 1965 - 1975, die Florian ILLIES
im Jahr 2000 zur Generation Golf zusammenfasste. Im Kern
ging es dabei um jene Mittelschichtkinder, die durch die Wahl
ihres Studienfachs, z.B. Jura bzw. BWL, den Grundstein für eine
Karriere als High Potentials (kurz: Yuppie) legten und
inzwischen - trotz Zusammenbruch der New Economy bzw. Jobkrise
- meist doch noch
bei der Familiengründung angekommen sind und nun die schicken
Großstadtviertel bevölkern, für die der Prenzlauer Berg in
Berlin zum Synonym geworden ist. Das
Bild dieser Geburtskohorten, das ILLIES geprägt hat, ist aber
offensichtlich nicht vollständig gewesen. Bereits zwei Jahre später
zeichnete Katja KULLMANN mit Generation Ally das Porträt
dieser Frauenkohorte, die sich das Single-Dasein schön redete,
weil die Familiengründung nicht ins Bild der Deutschen von einer
erfolgreichen Karrierefrau passte.
Martin
REICHERT hat sich nun mit seinem Buch Wenn ich mal groß bin
einer Generationeneinheit der 1965 bis 1975 Geborenen
angenommen, die bislang meistens nur Gegenstand
feuilletonistischer Gesellschaftskritik gewesen ist, aber spätestens im
Jahr 2005 mit dem Buch
schöne junge welt von Claudius
Seidl den Buchmarkt eroberte: der Berufsjugendliche.
Mit
dem Terminus Generation Umhängetasche meint REICHERT jene
Langzeitadoleszenten der Generation Golf, die den Ausgang
ins Erwachsenenleben selbst mit Mitte 30 noch nicht gefunden
haben. Diese Spezies findet sich insbesondere in den
Szenevierteln der deutschen Großstädte.
Bereits vor 5 Jahren hat
der 5 Jahre ältere Volker MARQUARDT mit Das Wissen der
35-Jährigen ein Handbuch fürs Überleben dieser
Altersgruppe - zwischen Hoffen und Bangen - verfasst.
Seine Erfahrungen sammelte er nicht auf dem Prenzlauer Berg in
Berlin, sondern im Hamburger Schanzenviertel, das in dem Buch
Läden, Schuppen, Kaschemmen, herausgegeben von Christoph
TWICKEL die Hauptrolle spielt:
Läden, Schuppen, Kaschemmen
"BERNADETTE
HENGST: Ich habe im Schanzenviertel mit Rocko zusammen
gewohnt und ein Haus daneben, untendrunter, war eine
Kneipe, die stand ein Jahr lang leer und dann haben er und
Schorsch und noch ein paar andere entschieden, dort den
ersten Pudel Club zu gründen, in der Kampstraße." (S.144)
CAROL VON RAUTENKRANZ:
Hamburger Schule ist ja letztendlich eine Szene, die sich
entwickelt hat. Der Grund liegt einmal darin, dass es in
Hamburg die entsprechenden Menschen gibt und die
notwendige Infrastruktur. Und da gehören eben Konzertorte
dazu und Zeitschriften, die darüber schreiben. Es
gab zwei aktive Stadtzeitschriften, damals noch Tango
und eben die Szene Hamburg. Und die Mopo-Pop-Seite
kam zu dem Zeitpunkt auch an den Start. Und dann kommt in
Hamburg auch immer noch dazu, dass die Journalisten und
die Musiker, wenn sie es nicht sogar in einer Person
waren, in die gleichen Kneipen gegangen sind und sich
entsprechend über die Sachen ausgetauscht haben."
(2003,
S.173) |
Auch bei MARQUARDT ging es
um die Notwendigkeit des Erwachsenwerdens. 35 wird bei ihm zum
Wendepunkt, zur neuen Mitte des Lebens, zum Point of no Return
für seine Altersgenossen. Wenngleich sich im Buch zeigt, dass
Wollen und Können nicht immer mit dem Sollen in Einklang zu
bringen sind.
Das Wissen der 35-Jährigen
"Mit
35 sollten wir einen Job gefunden haben, sonst bekommen
wir Probleme - nicht nur mit den Rentenzahlungen. Mit 35
sollten Frauen ein Kind bekommen haben, sonst wird es eine
Risikoschwangerschaft. Und mit 35 wollen die meisten von
uns heiraten - ob sie einen Partner haben oder nicht.
Jetzt geht's für uns um die Wurst."
(2003, S.14) |
REICHERT sieht die Sache
ähnlich. Erwachsensein ist nicht mehr gleichbedeutend mit dem
Leben in einer traditionellen Kleinfamilie, auch wenn Heirat
oder/und Familiengründung für die meisten Menschen dazugehören.
Neue verbindliche Formen des Zusammenlebens erweitern das
Spektrum. Im Zentrum steht das für-sich-sorgen-können,
Verantwortung übernehmen und das Verhandeln auf
Augenhöhe als erwachsene Verhaltensweisen.
Zwischen
den Büchern von MARQUARD und REICHERT liegen 5 Jahre, 5 Jahre in
denen die Agenda 2010 Wirkung gezeigt hat. Mit dem Namen Hartz
verbinden sich seit dieser Zeit sozialpolitische Maßnahmen, die
unter Berufung auf den demographischen Wandel und die
Globalisierung den Schonraum Jugend genauso abschmelzen wie
die Mittelschicht. Vergleicht
man deshalb beide Bücher, dann ergeben sich durch diesen Wandel
markante Unterschiede. Aus dem gemeinschaftsstifenden
Wir-Parlando bei MARQUARD wird bei REICHERT ein grenzensetzendes
Sie. Nicht Einverständnis, sondern Wissensvermittlung und
Denkanstösse stehen im
Vordergrund.
Jugend - Vom Schonraum zur Abstellkammer?
Von der Nutzlosigkeit
erwachsen zu werden hieß 1985 ein Kultbuch der
78er-Generation (von Reinhard MOHR nach dem Jahr benannt, in dem
der Tunix-Kongress stattfand) . Damals galt noch nicht 35,
sondern 30 als das Alter, in dem man eigentlich erwachsen sein
sollte. Matthias Grewe, der Protagonist des Romans von Georg
HEINZEN & Uwe KOCH, stellt sich den Lesern als das Gegenteil
eines Erwachsenen vor.
Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden
"Ich
bin nicht Vater, nicht Ehemann, nicht ADAC-Mitglied. Ich
habe keinen festen Beruf und kein richtiges Hobby. Mir
fehlt alles, was einen Erwachsenen ausmacht, die Aufgaben,
die Pflichten, die Belohnungen. Ich bin kein Vorgesetzter
und keine Autoritätsperson, ich habe keinen
Dispositionskredit und trage keinerlei Unterhaltslasten,
außer für mich selbst.
Vormittags bin ich Auslieferungsfahrer. Der Rest des Tages
gehört mir.
(...).
Ich schaue nicht ängstlich in den Spiegel, wiege mich
nicht jeden Morgen aufmerksam und mache abends keine
Waldläufe. Doch manchmal habe ich das Gefühl, Zeit zu
verlieren, und dieses Gefühl geht mit den Jahren nicht weg
wie Pubertätspickel, sondern wird immer stärker."
(1985, S.7)
|
Am Ende des Romans hat
sich Grewe in seiner trotzigen Verweigerungshaltung mehr oder
weniger bequem eingerichtet. Die
politische und gesellschaftliche Situation der 1980er Jahre
ließen Spielraum für solche Haltungen. Der Kampf um
Arbeitszeitverkürzung, die Rede vom Ende der
Arbeitsgesellschaft, die für damalige Verhältnisse hohe
Akademikerarbeitslosigkeit u.v.m. prägten das gesellschaftliche
Klima der Ära Kohl Anfang bis Mitte der 1980er Jahre. Anything goes
war dann das Motto der Postmoderne, deren Beginn Christian
SCHÜLE auf das Jahr 1985 datierte
.
Der
Popsoziologe Ulrich BECK traf mit seiner These vom
Individualisierungsschub den Zeitgeist dieser Epoche, in der der
Mainstream der Minderheiten und die Single-Gesellschaft möglich
erschien. Erst
um die Jahrtausendwende gewannen jene Kräfte der Berliner
Republik sichtbar die Oberhand, die seit der Wiedervereinigung
an einer anderen Republik arbeiteten. Jugend galt
längst nicht mehr als Avantgarde, sondern wurde als Wahn
oder Diktatur empfunden. Vor diesem Hintergrund nehmen nun
Bücher wie jene von MARQUARDT und REICHERT die Neuerfindung des
Erwachsenseins vor. Jugend,
die in den 1960er Jahren von dem Entwicklungspsychologen Erik H.
ERIKSON positiv als Schonraum konzipiert wurde, ist seit Mitte
der 1970er Jahre aufgrund von Jugendarbeitslosigkeit,
Strukturveränderungen der Arbeitswelt, Akademikerschwemme auch
zu einer neuen Art von Ghetto geworden. Jugend also eher eine
Abstellkammer als ein Schonraum, der auf das Erwachsenenleben
vorbereitete?
Post-Adoleszenz - Die
Ausdifferenzierung und Verlängerung der Jugendphase
In der Shell-Studie
Jugend' 81 wurde der Begriff Post-Adoleszenz bzw.
Nach-Jugendphase eingeführt, um das verlängerte und veränderte Heranwachsen in
den Industrieländern zu erfassen. Jürgen ZINNECKER unterscheidet
in seinem Beitrag zwischen drei postadoleszenten Lebenskonstellationen:
1)
Besuch privilegierender Bildungseinrichtungen wie Gymnasium und
Hochschulen. Die Verlängerung des Aufenthalts in diesen
pädagogischen Einrichtungen war nicht in erster Linie der
Anforderung hochwertiger Arbeitsplätze geschuldet, sondern
diente der Entlastung des Arbeitsmarktes, auf den die
geburtenstarken Jahrgänge drängten.
2)
Zunahme von Um- und Weiterschulungen aufgrund des
Strukturwandels, durch den für bestimmte jüngere Menschen keine
Verwendung mehr bestand. Mittlerweile hat sich jedoch gezeigt,
dass nicht jeder von solchen Schulungsmaßnahmen profitierte. Der
Soziologe Zygmunt BAUMANN hat diese Verschärfung, bei der die
Kategorie der Überflüssigen entstand, auch als "Verworfenes
Leben" bezeichnet.
3)
Entstehung von Szenen in den Metropolen, die jenseits des
etablierten Arbeitsmarktes ein Überleben als
"Berufsjugendlicher" ermöglichen.
Bei
den Langzeitadoleszenten, die REICHERT als Zielgruppe seines
Selbsthilfebuchs anvisiert, handelt es sich also um eine von
ZINNECKER Anfang der 1980er Jahre als privilegierte Gruppe von
Postadoleszenten eingestufte Form des Heranwachsens, das auf
Freiwilligkeit des (zeitweiligen) Ausstiegs bzw. Aufschubs des
Einstiegs in "Erwachsenenberufe" beruhte. Motor
dieser Entwicklung war die Ausweitung der Freizeitindustrie und
der Boom der Popkultur. In seinem Buch Sexbeat hat
Diedrich DIEDERICHSEN die Mechanismen dieser neuartigen
Hip-Kultur der analogen Boheme beschrieben. Seitdem
ist einiges geschehen, das einen neuen Blick auf das
Jugendphänomen rechtfertigt. Der Glamour der Selbstausbeutung im
Hip-Business ist im Laufe der letzten Rezessionen einer gewissen
Ernüchterung gewichen. In seinem Bestseller Generation X
(1991) beschreibt Douglas COUPLAND die erreichbaren Jobs
desillusioniert als McJobs.
Generation X
"MCJOB:
Ein niedrig dotierter Job mit wenig Prestige, wenig Würde,
wenig Nutzen und ohne Zukunft im Dienstleistungsbereich.
Oftmals als befriedigende Karriere bezeichnet von Leuten,
die niemals eine gemacht haben."
(1991, S.14) |
Die Bezeichnung Urbane
Penner, die Mercedes BUNZ für die Berliner
Langadoleszenten-Szene geprägt hat, ist ebenfalls wenig
schmeichelhaft. Das Manifest der Digitalen Bohème Wir nennen
es Arbeit von Sascha LOBO & Holm FRIEBE versucht dagegen
aus der Not eine Tugend zu machen und sieht im Leben jenseits
der Festanstellung eine Alternative, nachdem die Bohemisierung
der Angestelltenkultur durch den Niedergang der New Economy ins
Stocken geraten ist. MARQUARDT
hat dieses Ethos, das sich der Boomphase der New Economy
verdankt, bereits im Jahr 2003 treffend auf den Punkt gebracht.
Das Wissen der 35-Jährigen
"Ein
guter Job bietet eine möglichst genaue Übereinstimmung von
Persönlichkeit und Arbeit. Nur das gibt uns den Kick, den
flow, der einen Glückszustand auslöst. Was früher nur
Künstlern vorbehalten war, sollte also jetzt für
Journalisten, Personaler, Manager und Sekretärinnen
gelten. Die ganze Angestelltenkultur sollte zu einer
einzigen Boheme werden. Diese Bohemisierung der Arbeit
sollte es uns ermöglichen, nicht wie unsere Eltern
lediglich einer Arbeit »nachzugehen«, sondern ihre Inhalte
mitzubestimmen. Allerdings wollten wir gegen die
Unsicherheiten des Künstlerdaseins dennoch geschützt sein.
Ein regelmäßiger Scheck, fanden wir, schränkt unsere
Persönlichkeit nicht ein."
(2003, S.95f.)
|
Die Kritik von Martin
REICHERT setzt genauso wie jene von Mercedes BUNZ dort an, wo
die Eltern/Großeltern bei der Finanzierung eines solchen
Lebensstils ins Spiel kommen. REICHERT startet mit seinem Buch
einen lesenswerten Frontalangriff gegen die Mythen der
Berufsjugendlichen.
Eine Abrechnung mit dem Jugendkult der
Babyboomer
Mit den Babyboomern meint
Martin REICHERT die 1955 - 1964 Geborenen
, deren alternativer
Teil Reinhard MOHR Anfang der 1990er Jahre als Zaungäste
bzw. als 78er-Generation beschrieben hat und die jetzt
zunehmend die öffentlichen Debatten bestimmen und an den
Schaltstellen der Macht sitzen
. Schaut man sich
diese Kohorte genauer an, dann zeigt sich schnell, dass die
Sachlage komplizierter ist. Einerseits
prägen die Vertreter der Babyboomer die gegenwärtige Popkultur,
andererseits sind viele Angehörige dieser geburtenstarken
Jahrgänge vehemente Kritiker der gesellschaftlichen Zustände.
Die Kritik schießt jedoch in der Regel weit übers Ziel hinaus
bzw. ist wenig hilfreich bei der Bewältigung der anstehenden
Herausforderungen. Ob Frank SCHIRRMACHER ein
Methusalem-Komplott anregt
, Joachim LOTTMANN die
Jugend von heute beschreibt
, Claudius SEIDL die schöne
junge welt beschwört
oder der fast 40jährige Weiberroman-Verfasser
Matthias POLITYCKI als 50-Jähriger im Herr der Hörner den
Untergang des weißen Mannes imaginiert. Immer bleibt ein schaler
Beigeschmack. Martin
REICHERT geht in seinem Buch stattdessen pragmatischer ran.
Statt große Welt-Rettungs-Phantasien wie die 78er zu
propagieren, nimmt sich REICHERT den schnöden Alltag seiner
Kohorte vor und rückt so manche hinderlichen Sichtweisen
zurecht.
Hängen Sie mit Martin Reichert Ihre
Umhängetasche an den Nagel und werden Sie erwachsen
"Mit einer Umhängetasche
sieht man einfach cooler aus. Es ist das Nonchalante,
Individualistische, Kreative und Beiläufige, das den Träger –
die Trägerin sowieso – zu einem zeitgemäßen Metropolenbewohner
macht", preiste Steffen KÜßNER in der Jungle World vom
12. Juni jene Tasche an, die mittlerweile halb Berlin trägt und
deshalb als urbane Erfüllung gilt. Ausgerechnet diese
Umhängetasche gilt Martin REICHERT jedoch als Stigma. Stück für
Stück sondert er die Utensilien seiner Umhängetasche aus oder platziert sie dort, wo
sie bei erwachsenen Menschen hingehören.
Die
gegenwärtige Jugendkultur speist sich aus zwei Quellen: zum
einen aus der "analogen Boheme", d.h. dem traditionellen
Künstlertum und der Gegen- bzw. Alternativkultur (siehe hierzu
den Sammelband "Bohemien - Tramp - Sponti", herausgegeben von
Gerd STEIN aus dem Jahr 1982), und zum
anderen aus der "digitalen Boheme", die neueste
Kommunikationstechnologien nutzt. Ihnen gemeinsam ist ein Pathos
der Flexibilität, Mobilität und Spontanität, das jedoch im Laufe
des Alterns zur Falle werden kann.
Bohemien - Tramp - Sponti
"Fragmentarische
oder bloß projektierte Werke, sporadische Beschäftigungen,
wechselnde Liebschaften, provisorische Unterkünfte,
mangelndes Einkommen und geplatzte Verabredungen sorgen
für eine Lebensweise, in der ständiges Improvisieren ein
erhöhtes Maß an Lebendigkeit gewährleistet. Prekär wird
diese Lebensführung erst dann, wenn die Formen der
Improvisation sich häufig wiederholen und selber als
Rituale spürbar werden. Zumindest der alternde Bohemien
kann diesem Dilemma nicht ausweichen, und sein Leben kann
in selbstgewählter Unausweichlichkeit den Charakter einer
Falle annehmen."
(1982, S.11)
|
Im Jahr 2005 hat Sasha
LEHNARTZ, ein Altersgenosse von REICHERT in seinem Buch
Global Players zu erklären versucht, warum wir nicht mehr
erwachsen werden, und dafür plädiert es trotzdem zu versuchen.
Wer dieses Buch gelesen hat, der wird bei REICHERT vieles
wiedererkennen.
Global Players
"Szene-Bezirke
haben das abgelöst, was früher mal »Studentenviertel«
hieß. Was möglicherweise daran liegt, daß die Zahl derer
unaufhaltsam steigt, die nach erfolgreichem
Studienabschluß weiterhin zwanghaft dem
Jungbrunnenersatzbiotop »Szene« angehören möchten. In
besagten Bezirken sind jene anzutreffen, die immerhin den
Hintern noch von der elterlichen Couch hochbekommen haben.
Sehr weit sind sie allerdings nicht gekommen. In der Regel
lungern diese plan- und orientierungslosen
Trainingsjackenträger mit Bindungsangst, fransigen
Seitenscheiteln und vager beruflicher Perspektive in
Koffeinschankwirtschaften mit Plüschsesseln und
wireless LAN-Anschluß herum. Dort blättern sie ein
bißchen blasiert blickend in Neon, einem Magazin, in dem
vor allem andere blasiert blickende Trainingsjackenträger
mit Fransenscheitel und Bindungsangst abgebildet sind, und
in dem die Probleme blasiert blickender
Trainingsjackenträger mit Fransenseitenscheitel
ausführlich erörtert werden. Zielgruppe von Neon
sind 17- bis 35jährige."
(2005, S.54f.) |
Aber wie gesagt, REICHERT
arbeitet weniger die großen ideologischen Stränge heraus,
sondern knöpft sich den Alltag vor und er tut es mit Hilfe jener
Dinge, die Symbolcharakter für unerwachsene Verhaltensweisen
haben. Das fängt mit einem Schlüsselbund an, der für die
Wohnverhältnisse der Szene-Menschen steht. Wenn es nicht noch
immer das Hotel Mama ist, dann ist es zumindest eine Bleibe in
Szene-Bezirk-Nähe oder sogar mittendrin.
Wenn ich mal groß bin
"Suchen
Sie sich zunächst eine neue Wohnung aus, die Sie sich
leisten können. Entscheidend bei der Wahl der
unmittelbaren Umgebung ist nicht der Trend-Faktor des
Stadtbezirkes, denn dann bekommen Sie wieder nur eine
Abstellkammer. Wenn Sie wie die anderen »urbanen Penner«
ständig der »Szene« hinterherziehen, bleiben Sie
zwangsläufig im Teufelskreis Statteilentwicklung hängen".
(2008, S.17)
|
REICHERT weiß wovon er
spricht, schließlich war er selber einmal Opfer solcher
Gentrifizierungsprozesse. Pioniere sind meistens die ersten
Opfer ihrer Pioniertaten wie Stadtforscher in Hamburg bereits in
den 1980er Jahren herausgefunden haben
. REICHERT packt
seine Klientel immer dort, wo es für sie am schmerzlichsten ist:
z.B. an ihrem romantischen Bohemegefühl, an ihrem narzisstischen
Größenwahn.
Wenn ich mal groß bin
"Heben
Sie bitte nur Dinge auf, die Sie für das Verfassen Ihrer
Autobiographie dringend benötigen. So viel kann das nicht
sein, denn heutzutage schreibt man ein solches Werk im
Schnitt schon mit 26 - Sie sind also längst zu alt dafür."
(2008, S.19)
|
Wer aber nicht da drüber
steht, der ist offensichtlich noch nicht reif für die
wichtigsten Lektionen des Erwachsenwerdens.
REICHERT
beschreibt die Unfähigkeit einen Nagel in die Wand zu schlagen
("Dübel-Impotenz") als irrationale Angst vor der Endgültigkeit.
Unentschlossenheit ist in den vergangenen Jahren zum Kennzeichen
einer ganzen Generation geworden. Dafür wurde in den USA z.B. der
Begriff "Quarterlife-Crises" kreiert und Unentschlossen
hieß auch ein erfolgreicher Roman. REICHERT zeigt, dass
Unentschlossenheit jedoch den Alltag viel umfassender
durchdringt. Sätze bekommen dadurch eine ganz andere Bedeutung.
Wenn REICHERT schreibt, wer "Entschiedenheit scheut, bekommt die
Quittung. Und auf der steht: Haltlosigkeit". Dann meint er das
nicht einfach moralisch, sondern ganz materialistisch, wie er am
Aufbau eines Regals demonstriert.
So mancher Student von
"Orchideenfächern" wird schlucken, wenn ihm REICHERT am Beispiel
Kaution aufzeigt, dass seine verachteten Altersgenossen von der ILLIES-Fraktion ihm eine Nasenlänge voraus sind.
Und immer wieder
wird die Elternabhängigkeit des Lebensstils der
Berufsjugendlichen aufs Korn genommen.
Wenn ich mal groß bin
"Sie
könnten Ihre Kaution einklagen, aber das würde für Sie
einen Stress bedeuten, den auszuhalten Sie sich nicht
einmal ausmalen wollen. Stattdessen lassen Sie sich wieder
über den Tisch ziehen und fühlen sich auch noch gut dabei.
Und pumpen wegen der Kaution lieber Ihre Eltern an, die
sowieso klammheimlich, also ohne dass Sie das Ihren
Freunden mitteilen würden, den Großteil Ihrer Miete per
Dauerauftrag der Sparkasse Sindelfingen begleichen, weil
Sie sonst schon längst auf der Straße stünden.
Erwachsensein bedeutet per definitionem, seine Existenz
ohne Subsidien zu bewerkstelligen. Wenn Sie Ihre Miete
nicht zahlen können (...), rufen Sie bitte nicht Mama und
Papa an. (...). Man wendet sich stattdessen an jene Leute,
die an der Universität immer »die Anderen« waren. »Die
Anderen« trugen alle Barbour-Jacken, weiße Hemden und
Jeans bzw. graue Rollkragenpullover mit Perlenkettchen:
Juristen."
(2008, S.25)
|
Anhand von einem Paar
Socken, handelt REICHERT die Unbehaustheit der
Berufsjugendlichen ab, die angesichts
von Abstiegsängsten den Wunsch nach einem bürgerlichen Wohnen
aufkommen läßt. Cocooning (Faith POPCORN) wurde in den letzten
Jahrzehnten immer mal wieder als Megatrend ausgerufen und hatte
gerade in den zyklischen Krisen des Kapitalismus Konjunktur. Immer
wieder kamen die Jugendbewegten, ob es die 68er, die
78er waren oder wie nun die Langzeitadoleszenten der
Generation Golf, im eigenen Zuhause an. Einrichten im neuen
Lebensabschnitt ist also inzwischen sozusagen jugendkulturell
institutionalisiert worden. Der Poproman fehlt in REICHERTs Umhängetasche auch nicht,
obwohl die Abrechnung etwas müde daherkommt
.
Schmerzhafter
wird es dann schon, wenn das weiße MacBook als Symbol der
digitalen Boheme madig gemacht wird und stattdessen die
ALDI-Klasse empfohlen wird.
Auch wenn es den Agenten der Zentralen Intelligenz Agentur,
besser bekannt als ZIA, nicht gefallen wird. Ihr Plädoyer für
ein Leben jenseits der Festanstellung ist zwar glamourös, aber
für viele Mittdreißiger unrealistisch.
Wenn ich mal groß bin
"Die
Gesellschaft, in der Sie leben, teilt sich mittlerweile in
Drinnen und Draußen: im System oder nicht im System.
Sie sitzen stattdessen mit Ihrem weißen Mac, den Ihre
Eltern oder Großeltern Ihnen als Anschubfinanzierung für
Ihre Existenz spendiert haben, in einem Café mit Hot
Spot-WLAN, halten sich den ganzen Tag an einem Café Latte
fest und versuchen, irgendwie Geld zu machen. Vielleicht
simulieren Sie aber auch nur (...) Die Digitale Boheme
erledigt das, was sie Arbeit nennt, (...) im öffentlichen
Raum, also in der Gastronomie. Weil es noch billiger ist
als ein Büro anzumieten. Das Büro können Sie nämlich schon
lange nicht mehr finanzieren, weil trotz beharrlicher
Arbeit keine Honorare hereinkommen. Das liegt auch daran,
dass es zu viele Menschen gibt, die hoffen, mittels ihrer
Kreativität längerfristig irgendwo landen zu können.
(2008, S.43f.)
|
REICHERT zeigt
schonungslos den Unterschied zwischen einem Möchtegern-Bourgeois
Bohemians (kurz: Bobo
) und einem erfolgreichen Kreativen auf.
Wer es genauer wissen möchte, wie hart das Boheme-Leben sein
kann, der findet bei Jörn MORISSE & Rasmus ENGLER genügend
Anschauungsmaterial. Die beiden haben 20 kreativ Tätige befragt
Wovon lebst du eigentlich? Dass die Zeiten sich geändert haben, das zeigte sich
auch als im
Dezember 2005 der Poplinke Diedrich DIEDERICHSEN im Zitty-Interview
das Ende der Nachtleben-Szenen mit ihren großzügigen Ausstiegsmöglichkeiten
feststellte.
"Ich nenne das immer: CDU-Koksen"
"Das
Nachtleben ist braver geworden, Exzess ist eher
unerwünscht, weil man ja am nächsten Tag noch Bewerbungen
schreiben muss. Hipness verläuft in geregelten Bahnen.
DIEDERICHSEN: Natürlich ist heute die Möglichkeit, sich
vorübergehend oder ganz aus einem bürgerlichen Leben zu
verabschieden, als Perspektive nicht mehr da, weil das
Risiko zu groß ist, nicht mehr rein zu kommen. Das haben
früher viele gemacht, mal für drei Jahre oder für zehn
Jahre. Es geht gar nicht so sehr um diese Erfahrung an
sich. Aber wenn es um einen herum niemanden mehr gibt, der
das macht, drückt das natürlich auf den Konformismus.
Insofern habe ich auch den Eindruck, dass es
konformistischer zugeht.
Das
bürgerliche Leben ist also nichts, wofür man sich
entscheidet, sondern wogegen man sich erst mal entscheiden
muss?
DIEDERICHSEN: Genau. Und das ist nicht mehr möglich.
Wegen des
ökonomischen Drucks?
DIEDERICHSEN: Klar. Wer zum Beispiel einen
Universitätsabschluss machen will, muss ihn entweder unter
28 machen oder er kann es ganz lassen. Und die
Dissertation muss er spätestens bis 32 vorlegen. Alles
drückt auf konforme Lebensläufe. Es gibt keine
Dauerstudenten mehr, eine Aussteiger."
(aus: zitty Nr.26 v. 07.12.2005) |
Wenn REICHERT die
Verklärungen der Boheme entzaubert, dann hat das viel mit
den geänderten Rahmenbedingungen in Deutschland zu tun. Auch in
der ehemaligen Frontstadt Berlin existiert inzwischen ein
verstärkter Aufwertungsdruck in Szene-Stadtbezirken, den man
bisher eher nur von München kannte. So mancher mag darauf
hoffen, dass der Staat mittels üppigem Existenzgeld die
bisherige Elternfinanzierung auffangen wird. Die Hoffnung stirbt
eben zuletzt
.
Die Klemmmappe steht für den (Alp)-Traum Arbeit und Leben zu
vereinen, statt die Vorzüge der bürgerlichen Trennung zu
genießen. IPod
reimt sich auch bei REICHERT auf Popkultur. Indie-Bashing und
Abschiednehmen von der Hamburger Schule ist die Vorstufe zur
Verabschiedung der Jugendbewegung- bzw. -kultur als
gesellschaftlicher Avantgarde. Wer sich unter der Erbswurst
von Knorr nichts vorstellen kann, der hat sich nicht wie
REICHERT mit der Geschichte deutscher Jugendbewegungen
beschäftigt. Concealer und hautstraffende Lotion, wer
denkt da nicht an Jugendkult und Fitnesswahn?
Das
Thema Partnerschaft wird unter den Stichworten Kondome
(Wunschkinder oder gar keine) und Zahnbürste
(Zusammenziehen) verhandelt und für die Elternschaft steht der Schnuller. Immer noch gibt es Menschen, die Elternschaft
mit Erwachsenwerden gleich setzen. Dass dem nicht so ist, das
macht REICHERT deutlich. In
der Mitte des Buchs packt REICHERT eine Heimfahrkarte der
Deutschen Bahn AG aus. In diesem zentralen Kapitel klärt
REICHERT das Verhältnis zu den eigenen Eltern, denen man nun in
Augenhöhe gegenüberstehen sollte.
Was
REICHERT sonst noch so in seiner Umhängetasche findet, das
schenken wir uns hier. Für jeden dürfte etwas dabei sein, bei
dem er sich ertappt fühlt. Manches ist überzeichnet, manches
trifft aber auch den Kern. REICHERT lässt keinen Zweifel daran,
dass das Erwachsenwerden auch seine Reize hat. So
mancher ist vielleicht sogar erwachsen, und kann es sich nur
nicht eingestehen. Vielleicht ist sogar das Hauptanliegen
des Buches, dies zu erkennen und danach bewusster zu handeln. Oftmals sind die Menschen ja weiter als es die
Feuilleton- oder sonstigen öffentlichen Debatten vermuten
lassen.
Wenn ich mal groß bin
"Wahrscheinlich
sind Sie auch bereits »eigentlich erwachsen« geworden,
mehr oder weniger. Sie wollen es sich nur nicht
eingestehen, weil Erwachsene in der Jugenddiktatur ständig
denunziert werden. (...). Doch eigentlich sind Sie Opfer
einer Gräuelpropaganda, die Sie jeden Tag mithelfen,
weiter in die Welt hinauszuposaunen. Und das, obwohl Sie
gemäß dem Jugenddiktatur-Motto »Trau keinem über 30«
längst in Sibirien wären.
Sie sind noch nicht in Sibirien, weil es diese Diktatur
gar nicht gibt. Es gibt sie nur in Ihrem Kopf."
(2008, S.173)
|
Fazit:
Martin Reichert zeigt humorvoll, aber immer auch entschieden
auf, welche Fallstricke auf dem Weg ins Erwachsenenleben lauern und
wie Erwachsenwerden auch heute noch gelingen kann
Der ehemalige
Langzeitadoleszente und heutige taz-Redakteur Martin REICHERT zeigt den
Möchtegern-Bobos bzw. Berufsjugendlichen, dass sie oftmals über
ihre Verhältnisse leben. Sie sind in weit stärkerem Maße von
ihren Eltern abhängig, nachdem der Sozialstaat jugendkulturelle
Szenen oder aussichtslose Projekte der digitalen Boheme nicht mehr so abfedert
wie vor Inkrafttreten der Agenda 2010. Spätestens wenn die
Eltern zum Pflegefall werden oder als Geldgeber ausfallen und
auch der Sozialstaat den Boheme-Lebensstil nicht mehr
finanziert, zeigt sich die Notwendigkeit erwachsen zu werden.
Besser ist es jedoch, es gar nicht erst so weit kommen zu
lassen. Es gilt die Zeichen der Zeit zu erkennen, die das
Abschmelzen der postadoleszenten Phase vorsehen. Das Buch Wenn ich mal groß bin zeigt
auf humorvolle und kenntnisreiche Art und Weise, wie man die
Fallstricke umgeht und Erwachsenwerden auch heute noch gelingen
kann.
|
|