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Thema des Monats

 
       
   

Generation Umhängetasche

 
       
   

Martin Reichert zeigt in seinem Buch "Wenn ich mal groß bin", wie man den Absprung aus der Langzeitadoleszenten-Szene doch noch schafft und endlich erwachsen wird 

 
       
     
   
     
 

Wenn ich mal groß bin

"Fragen Sie sich auch manchmal, warum Sie jeden Tag Ihren halben Haushalt mit sich herumschleppen? Und zwar in einer Tasche, die eigentlich für Fahrradkuriere konzipiert wurde? Sind Sie Fahrradkurier? Haben Sie überhaupt ein Fahrrad? Ich nicht.
            Diese monströse Umhängetasche ist in Wahrheit ein Mühlstein, der Sie hinabzieht in einen Abgrund aus romantischer Regression und depressivem Stillstand. Sie ist das Symbol Ihres Status: nicht mehr ganz jung und dafür total gut ausgebildet, nicht mehr ganz dumm und doch nicht so klug, um die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich einem verantwortungsvollen, neuen Lebensabschnitt zu stellen: dem Erwachsensein."
(2008, S.8)

Von der Notwendigkeit erwachsen zu werden

Martin REICHERT ist ein Angehöriger der Geburtskohorten 1965 - 1975, die Florian ILLIES im Jahr 2000 zur Generation Golf zusammenfasste. Im Kern ging es dabei um jene Mittelschichtkinder, die durch die Wahl ihres Studienfachs, z.B. Jura bzw. BWL, den Grundstein für eine Karriere als High Potentials (kurz: Yuppie) legten und inzwischen - trotz Zusammenbruch der New Economy bzw. Jobkrise - meist doch noch bei der Familiengründung angekommen sind und nun die schicken Großstadtviertel bevölkern, für die der Prenzlauer Berg in Berlin zum Synonym geworden ist. Das Bild dieser Geburtskohorten, das ILLIES geprägt hat, ist aber offensichtlich nicht vollständig gewesen. Bereits zwei Jahre später zeichnete Katja KULLMANN mit Generation Ally das Porträt dieser Frauenkohorte, die sich das Single-Dasein schön redete, weil die Familiengründung nicht ins Bild der Deutschen von einer erfolgreichen Karrierefrau passte.

Martin REICHERT hat sich nun mit seinem Buch Wenn ich mal groß bin einer Generationeneinheit der 1965 bis 1975 Geborenen angenommen, die bislang meistens nur Gegenstand feuilletonistischer Gesellschaftskritik gewesen ist, aber spätestens im Jahr 2005 mit dem Buch schöne junge welt von Claudius Seidl den Buchmarkt eroberte: der Berufsjugendliche.

Mit dem Terminus Generation Umhängetasche meint REICHERT jene Langzeitadoleszenten der Generation Golf, die den Ausgang ins Erwachsenenleben selbst mit Mitte 30 noch nicht gefunden haben. Diese Spezies findet sich insbesondere in den Szenevierteln der deutschen Großstädte.

Bereits vor 5 Jahren hat der 5 Jahre ältere Volker MARQUARDT mit Das Wissen der 35-Jährigen ein Handbuch fürs Überleben dieser Altersgruppe - zwischen Hoffen und Bangen - verfasst. Seine Erfahrungen sammelte er nicht auf dem Prenzlauer Berg in Berlin, sondern im Hamburger Schanzenviertel, das in dem Buch Läden, Schuppen, Kaschemmen, herausgegeben von Christoph TWICKEL die Hauptrolle spielt:

Läden, Schuppen, Kaschemmen

"BERNADETTE HENGST: Ich habe im Schanzenviertel mit Rocko zusammen gewohnt und ein Haus daneben, untendrunter, war eine Kneipe, die stand ein Jahr lang leer und dann haben er und Schorsch und noch ein paar andere entschieden, dort den ersten Pudel Club zu gründen, in der Kampstraße." (S.144)

CAROL VON RAUTENKRANZ: Hamburger Schule ist ja letztendlich eine Szene, die sich entwickelt hat. Der Grund liegt einmal darin, dass es in Hamburg die entsprechenden Menschen gibt und die notwendige Infrastruktur. Und da gehören eben Konzertorte dazu und Zeitschriften, die darüber schreiben.  Es gab zwei aktive Stadtzeitschriften, damals noch Tango und eben die Szene Hamburg. Und die Mopo-Pop-Seite kam zu dem Zeitpunkt auch an den Start. Und dann kommt in Hamburg auch immer noch dazu, dass die Journalisten und die Musiker, wenn sie es nicht sogar in einer Person waren, in die gleichen Kneipen gegangen sind und sich entsprechend über die Sachen ausgetauscht haben."
(2003, S.173)

Auch bei MARQUARDT ging es um die Notwendigkeit des Erwachsenwerdens. 35 wird bei ihm zum Wendepunkt, zur neuen Mitte des Lebens, zum Point of no Return für seine Altersgenossen. Wenngleich sich im Buch zeigt, dass Wollen und Können nicht immer mit dem Sollen in Einklang zu bringen sind.

Das Wissen der 35-Jährigen

"Mit 35 sollten wir einen Job gefunden haben, sonst bekommen wir Probleme - nicht nur mit den Rentenzahlungen. Mit 35 sollten Frauen ein Kind bekommen haben, sonst wird es eine Risikoschwangerschaft. Und mit 35 wollen die meisten von uns heiraten - ob sie einen Partner haben oder nicht. Jetzt geht's für uns um die Wurst."
(2003, S.14)

REICHERT sieht die Sache ähnlich. Erwachsensein ist nicht mehr gleichbedeutend mit dem Leben in einer traditionellen Kleinfamilie, auch wenn Heirat oder/und Familiengründung für die meisten Menschen dazugehören. Neue verbindliche Formen des Zusammenlebens erweitern das Spektrum. Im Zentrum steht das für-sich-sorgen-können, Verantwortung übernehmen und das Verhandeln auf Augenhöhe als erwachsene Verhaltensweisen.

Zwischen den Büchern von MARQUARD und REICHERT liegen 5 Jahre, 5 Jahre in denen die Agenda 2010 Wirkung gezeigt hat. Mit dem Namen Hartz verbinden sich seit dieser Zeit sozialpolitische Maßnahmen, die unter Berufung auf den demographischen Wandel und die Globalisierung den Schonraum Jugend genauso abschmelzen wie die Mittelschicht. Vergleicht man deshalb beide Bücher, dann ergeben sich durch diesen Wandel markante Unterschiede. Aus dem gemeinschaftsstifenden Wir-Parlando bei MARQUARD wird bei REICHERT ein grenzensetzendes Sie. Nicht Einverständnis, sondern Wissensvermittlung und Denkanstösse stehen im Vordergrund. 

Jugend - Vom Schonraum zur Abstellkammer?

Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden hieß 1985 ein Kultbuch der 78er-Generation (von Reinhard MOHR nach dem Jahr benannt, in dem der Tunix-Kongress stattfand) . Damals galt noch nicht 35, sondern 30 als das Alter, in dem man eigentlich erwachsen sein sollte. Matthias Grewe, der Protagonist des Romans von Georg HEINZEN & Uwe KOCH, stellt sich den Lesern als das Gegenteil eines Erwachsenen vor.

Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden

"Ich bin nicht Vater, nicht Ehemann, nicht ADAC-Mitglied. Ich habe keinen festen Beruf und kein richtiges Hobby. Mir fehlt alles, was einen Erwachsenen ausmacht, die Aufgaben, die Pflichten, die Belohnungen. Ich bin kein Vorgesetzter und keine Autoritätsperson, ich habe keinen Dispositionskredit und trage keinerlei Unterhaltslasten, außer für mich selbst.
Vormittags bin ich Auslieferungsfahrer. Der Rest des Tages gehört mir.
(...).
Ich schaue nicht ängstlich in den Spiegel, wiege mich nicht jeden Morgen aufmerksam und mache abends keine Waldläufe. Doch manchmal habe ich das Gefühl, Zeit zu verlieren, und dieses Gefühl geht mit den Jahren nicht weg wie Pubertätspickel, sondern wird immer stärker."
(1985, S.7)

Am Ende des Romans hat sich Grewe in seiner trotzigen Verweigerungshaltung mehr oder weniger bequem eingerichtet. Die politische und gesellschaftliche Situation der 1980er Jahre ließen Spielraum für solche Haltungen. Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung, die Rede vom Ende der Arbeitsgesellschaft, die für damalige Verhältnisse hohe Akademikerarbeitslosigkeit u.v.m. prägten das gesellschaftliche Klima der Ära Kohl Anfang bis Mitte der 1980er Jahre. Anything goes war dann das Motto der Postmoderne, deren Beginn Christian SCHÜLE auf das Jahr 1985 datierte . Der Popsoziologe Ulrich BECK traf mit seiner These vom Individualisierungsschub den Zeitgeist dieser Epoche, in der der Mainstream der Minderheiten und die Single-Gesellschaft möglich erschien. Erst um die Jahrtausendwende gewannen jene Kräfte der Berliner Republik sichtbar die Oberhand, die seit der Wiedervereinigung an einer anderen Republik arbeiteten. Jugend galt längst nicht mehr als Avantgarde, sondern wurde als Wahn oder Diktatur empfunden. Vor diesem Hintergrund nehmen nun Bücher wie jene von MARQUARDT und REICHERT die Neuerfindung des Erwachsenseins vor. Jugend, die in den 1960er Jahren von dem Entwicklungspsychologen Erik H. ERIKSON positiv als Schonraum konzipiert wurde, ist seit Mitte der 1970er Jahre aufgrund von Jugendarbeitslosigkeit, Strukturveränderungen der Arbeitswelt, Akademikerschwemme auch zu einer neuen Art von Ghetto geworden. Jugend also eher eine Abstellkammer als ein Schonraum, der auf das Erwachsenenleben vorbereitete?

Post-Adoleszenz - Die Ausdifferenzierung und Verlängerung der Jugendphase

In der Shell-Studie Jugend' 81 wurde der Begriff Post-Adoleszenz bzw. Nach-Jugendphase eingeführt, um das verlängerte und veränderte Heranwachsen in den Industrieländern zu erfassen. Jürgen ZINNECKER unterscheidet in seinem Beitrag zwischen drei postadoleszenten Lebenskonstellationen:

1) Besuch privilegierender Bildungseinrichtungen wie Gymnasium und Hochschulen. Die Verlängerung des Aufenthalts in diesen pädagogischen Einrichtungen war nicht in erster Linie der Anforderung hochwertiger Arbeitsplätze geschuldet, sondern diente der Entlastung des Arbeitsmarktes, auf den die geburtenstarken Jahrgänge drängten.

2) Zunahme von Um- und Weiterschulungen aufgrund des Strukturwandels, durch den für bestimmte jüngere Menschen keine Verwendung mehr bestand. Mittlerweile hat sich jedoch gezeigt, dass nicht jeder von solchen Schulungsmaßnahmen profitierte. Der Soziologe Zygmunt BAUMANN hat diese Verschärfung, bei der die Kategorie der Überflüssigen entstand, auch als "Verworfenes Leben" bezeichnet.

3) Entstehung von Szenen in den Metropolen, die jenseits des etablierten Arbeitsmarktes ein Überleben als "Berufsjugendlicher" ermöglichen.

Bei den Langzeitadoleszenten, die REICHERT als Zielgruppe seines Selbsthilfebuchs anvisiert, handelt es sich also um eine von ZINNECKER Anfang der 1980er Jahre als privilegierte Gruppe von Postadoleszenten eingestufte Form des Heranwachsens, das auf Freiwilligkeit des (zeitweiligen) Ausstiegs bzw. Aufschubs des Einstiegs in "Erwachsenenberufe" beruhte. Motor dieser Entwicklung war die Ausweitung der Freizeitindustrie und der Boom der Popkultur. In seinem Buch Sexbeat hat Diedrich DIEDERICHSEN die Mechanismen dieser neuartigen Hip-Kultur der analogen Boheme beschrieben. Seitdem ist einiges geschehen, das einen neuen Blick auf das Jugendphänomen rechtfertigt. Der Glamour der Selbstausbeutung im Hip-Business ist im Laufe der letzten Rezessionen einer gewissen Ernüchterung gewichen. In seinem Bestseller Generation X (1991) beschreibt Douglas COUPLAND die erreichbaren Jobs desillusioniert als McJobs.

Generation X

"MCJOB: Ein niedrig dotierter Job mit wenig Prestige, wenig Würde, wenig Nutzen und ohne Zukunft im Dienstleistungsbereich. Oftmals als befriedigende Karriere bezeichnet von Leuten, die niemals eine gemacht haben."
(1991, S.14)

Die Bezeichnung Urbane Penner, die Mercedes BUNZ für die Berliner Langadoleszenten-Szene geprägt hat, ist ebenfalls wenig schmeichelhaft. Das Manifest der Digitalen Bohème Wir nennen es Arbeit von Sascha LOBO & Holm FRIEBE versucht dagegen aus der Not eine Tugend zu machen und sieht im Leben jenseits der Festanstellung eine Alternative, nachdem die Bohemisierung der Angestelltenkultur durch den Niedergang der New Economy ins Stocken geraten ist. MARQUARDT hat dieses Ethos, das sich der Boomphase der New Economy verdankt, bereits im Jahr 2003 treffend auf den Punkt gebracht.

Das Wissen der 35-Jährigen

"Ein guter Job bietet eine möglichst genaue Übereinstimmung von Persönlichkeit und Arbeit. Nur das gibt uns den Kick, den flow, der einen Glückszustand auslöst. Was früher nur Künstlern vorbehalten war, sollte also jetzt für Journalisten, Personaler, Manager und Sekretärinnen gelten. Die ganze Angestelltenkultur sollte zu einer einzigen Boheme werden. Diese Bohemisierung der Arbeit sollte es uns ermöglichen, nicht wie unsere Eltern lediglich einer Arbeit »nachzugehen«, sondern ihre Inhalte mitzubestimmen. Allerdings wollten wir gegen die Unsicherheiten des Künstlerdaseins dennoch geschützt sein. Ein regelmäßiger Scheck, fanden wir, schränkt unsere Persönlichkeit nicht ein."
(2003, S.95f.)

Die Kritik von Martin REICHERT setzt genauso wie jene von Mercedes BUNZ dort an, wo die Eltern/Großeltern bei der Finanzierung eines solchen Lebensstils ins Spiel kommen. REICHERT startet mit seinem Buch einen lesenswerten Frontalangriff gegen die Mythen der Berufsjugendlichen.

Eine Abrechnung mit dem Jugendkult der Babyboomer

Mit den Babyboomern meint Martin REICHERT die 1955 - 1964 Geborenen , deren alternativer Teil Reinhard MOHR Anfang der 1990er Jahre als Zaungäste bzw. als 78er-Generation beschrieben hat und die jetzt zunehmend die öffentlichen Debatten bestimmen und an den Schaltstellen der Macht sitzen . Schaut man sich diese Kohorte genauer an, dann zeigt sich schnell, dass die Sachlage komplizierter ist. Einerseits prägen die Vertreter der Babyboomer die gegenwärtige Popkultur, andererseits sind viele Angehörige dieser geburtenstarken Jahrgänge vehemente Kritiker der gesellschaftlichen Zustände. Die Kritik schießt jedoch in der Regel weit übers Ziel hinaus bzw. ist wenig hilfreich bei der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen. Ob Frank SCHIRRMACHER ein Methusalem-Komplott anregt ,  Joachim LOTTMANN die Jugend von heute beschreibt , Claudius SEIDL die schöne junge welt beschwört oder der fast 40jährige Weiberroman-Verfasser Matthias POLITYCKI als 50-Jähriger im Herr der Hörner den Untergang des weißen Mannes imaginiert. Immer bleibt ein schaler Beigeschmack. Martin REICHERT geht in seinem Buch stattdessen pragmatischer ran. Statt große Welt-Rettungs-Phantasien wie die 78er zu propagieren, nimmt sich REICHERT den schnöden Alltag seiner Kohorte vor und rückt so manche hinderlichen Sichtweisen zurecht.

Hängen Sie mit Martin Reichert Ihre Umhängetasche an den Nagel und werden Sie erwachsen

"Mit einer Umhängetasche sieht man einfach cooler aus. Es ist das Nonchalante, Individualistische, Kreative und Beiläufige, das den Träger – die Trägerin sowieso – zu einem zeitgemäßen Metropolenbewohner macht", preiste Steffen KÜßNER in der Jungle World vom 12. Juni jene Tasche an, die mittlerweile halb Berlin trägt und deshalb als urbane Erfüllung gilt. Ausgerechnet diese Umhängetasche gilt Martin REICHERT jedoch als Stigma. Stück für Stück sondert er die Utensilien seiner Umhängetasche aus oder platziert sie dort, wo sie bei erwachsenen Menschen hingehören.

Die gegenwärtige Jugendkultur speist sich aus zwei Quellen: zum einen aus der "analogen Boheme", d.h. dem traditionellen Künstlertum und der Gegen- bzw. Alternativkultur (siehe hierzu den Sammelband "Bohemien - Tramp - Sponti", herausgegeben von Gerd STEIN aus dem Jahr 1982), und zum anderen aus der "digitalen Boheme", die neueste Kommunikationstechnologien nutzt. Ihnen gemeinsam ist ein Pathos der Flexibilität, Mobilität und Spontanität, das jedoch im Laufe des Alterns zur Falle werden kann.

Bohemien - Tramp - Sponti

"Fragmentarische oder bloß projektierte Werke, sporadische Beschäftigungen, wechselnde Liebschaften, provisorische Unterkünfte, mangelndes Einkommen und geplatzte Verabredungen sorgen für eine Lebensweise, in der ständiges Improvisieren ein erhöhtes Maß an Lebendigkeit gewährleistet. Prekär wird diese Lebensführung erst dann, wenn die Formen der Improvisation sich häufig wiederholen und selber als Rituale spürbar werden. Zumindest der alternde Bohemien kann diesem Dilemma nicht ausweichen, und sein Leben kann in selbstgewählter Unausweichlichkeit den Charakter einer Falle annehmen."
(1982, S.11)

Im Jahr 2005 hat Sasha LEHNARTZ, ein Altersgenosse von REICHERT in seinem Buch Global Players zu erklären versucht, warum wir nicht mehr erwachsen werden, und dafür plädiert es trotzdem zu versuchen. Wer dieses Buch gelesen hat, der wird bei REICHERT vieles wiedererkennen.

Global Players

"Szene-Bezirke haben das abgelöst, was früher mal »Studentenviertel« hieß. Was möglicherweise daran liegt, daß die Zahl derer unaufhaltsam steigt, die nach erfolgreichem Studienabschluß weiterhin zwanghaft dem Jungbrunnenersatzbiotop »Szene« angehören möchten. In besagten Bezirken sind jene anzutreffen, die immerhin den Hintern noch von der elterlichen Couch hochbekommen haben. Sehr weit sind sie allerdings nicht gekommen. In der Regel lungern diese plan- und orientierungslosen Trainingsjackenträger mit Bindungsangst, fransigen Seitenscheiteln und vager beruflicher Perspektive in Koffeinschankwirtschaften mit Plüschsesseln und wireless LAN-Anschluß herum. Dort blättern sie ein bißchen blasiert blickend in Neon, einem Magazin, in dem vor allem andere blasiert blickende Trainingsjackenträger mit Fransenscheitel und Bindungsangst abgebildet sind, und in dem die Probleme blasiert blickender Trainingsjackenträger mit Fransenseitenscheitel ausführlich erörtert werden. Zielgruppe von Neon sind 17- bis 35jährige."
(2005, S.54f.)

Aber wie gesagt, REICHERT arbeitet weniger die großen ideologischen Stränge heraus, sondern knöpft sich den Alltag vor und er tut es mit Hilfe jener Dinge, die Symbolcharakter für unerwachsene Verhaltensweisen haben. Das fängt mit einem Schlüsselbund an, der für die Wohnverhältnisse der Szene-Menschen steht. Wenn es nicht noch immer das Hotel Mama ist, dann ist es zumindest eine Bleibe in Szene-Bezirk-Nähe oder sogar mittendrin.

Wenn ich mal groß bin

"Suchen Sie sich zunächst eine neue Wohnung aus, die Sie sich leisten können. Entscheidend bei der Wahl der unmittelbaren Umgebung ist nicht der Trend-Faktor des Stadtbezirkes, denn dann bekommen Sie wieder nur eine Abstellkammer. Wenn Sie wie die anderen »urbanen Penner« ständig der »Szene« hinterherziehen, bleiben Sie zwangsläufig im Teufelskreis Statteilentwicklung hängen".
(2008, S.17)

REICHERT weiß wovon er spricht, schließlich war er selber einmal Opfer solcher Gentrifizierungsprozesse. Pioniere sind meistens die ersten Opfer ihrer Pioniertaten wie Stadtforscher in Hamburg bereits in den 1980er Jahren herausgefunden haben . REICHERT packt seine Klientel immer dort, wo es für sie am schmerzlichsten ist: z.B. an ihrem romantischen Bohemegefühl, an ihrem narzisstischen Größenwahn.

Wenn ich mal groß bin

"Heben Sie bitte nur Dinge auf, die Sie für das Verfassen Ihrer Autobiographie dringend benötigen. So viel kann das nicht sein, denn heutzutage schreibt man ein solches Werk im Schnitt schon mit 26 - Sie sind also längst zu alt dafür."
(2008, S.19)

Wer aber nicht da drüber steht, der ist offensichtlich noch nicht reif für die wichtigsten Lektionen des Erwachsenwerdens.

REICHERT beschreibt die Unfähigkeit einen Nagel in die Wand zu schlagen ("Dübel-Impotenz") als irrationale Angst vor der Endgültigkeit. Unentschlossenheit ist in den vergangenen Jahren zum Kennzeichen einer ganzen Generation geworden. Dafür wurde in den USA z.B. der Begriff "Quarterlife-Crises" kreiert und Unentschlossen hieß auch ein erfolgreicher Roman. REICHERT zeigt, dass Unentschlossenheit jedoch den Alltag viel umfassender durchdringt. Sätze bekommen dadurch eine ganz andere Bedeutung. Wenn REICHERT schreibt, wer "Entschiedenheit scheut, bekommt die Quittung. Und auf der steht: Haltlosigkeit". Dann meint er das nicht einfach moralisch, sondern ganz materialistisch, wie er am Aufbau eines Regals demonstriert.

So mancher Student von "Orchideenfächern" wird schlucken, wenn ihm REICHERT am Beispiel Kaution aufzeigt, dass seine verachteten Altersgenossen von der ILLIES-Fraktion ihm eine Nasenlänge voraus sind. Und immer wieder wird die Elternabhängigkeit des Lebensstils der Berufsjugendlichen aufs Korn genommen.

Wenn ich mal groß bin

"Sie könnten Ihre Kaution einklagen, aber das würde für Sie einen Stress bedeuten, den auszuhalten Sie sich nicht einmal ausmalen wollen. Stattdessen lassen Sie sich wieder über den Tisch ziehen und fühlen sich auch noch gut dabei. Und pumpen wegen der Kaution lieber Ihre Eltern an, die sowieso klammheimlich, also ohne dass Sie das Ihren Freunden mitteilen würden, den Großteil Ihrer Miete per Dauerauftrag der Sparkasse Sindelfingen begleichen, weil Sie sonst schon längst auf der Straße stünden.
Erwachsensein bedeutet per definitionem, seine Existenz ohne Subsidien zu bewerkstelligen. Wenn Sie Ihre Miete nicht zahlen können (...), rufen Sie bitte nicht Mama und Papa an. (...). Man wendet sich stattdessen an jene Leute, die an der Universität immer »die Anderen« waren. »Die Anderen« trugen alle Barbour-Jacken, weiße Hemden und Jeans bzw. graue Rollkragenpullover mit Perlenkettchen: Juristen."
(2008, S.25)

Anhand von einem Paar Socken, handelt REICHERT die Unbehaustheit der Berufsjugendlichen ab, die angesichts von Abstiegsängsten den Wunsch nach einem bürgerlichen Wohnen aufkommen läßt. Cocooning (Faith POPCORN) wurde in den letzten Jahrzehnten immer mal wieder als Megatrend ausgerufen und hatte gerade in den zyklischen Krisen des Kapitalismus Konjunktur. Immer wieder kamen die Jugendbewegten, ob es die 68er, die 78er waren oder wie nun die Langzeitadoleszenten der Generation Golf, im eigenen Zuhause an. Einrichten im neuen Lebensabschnitt ist also inzwischen sozusagen jugendkulturell institutionalisiert worden. Der Poproman fehlt in REICHERTs Umhängetasche auch nicht, obwohl die Abrechnung etwas müde daherkommt . Schmerzhafter wird es dann schon, wenn das weiße MacBook als Symbol der digitalen Boheme madig gemacht wird und stattdessen die ALDI-Klasse empfohlen wird. Auch wenn es den Agenten der Zentralen Intelligenz Agentur, besser bekannt als ZIA, nicht gefallen wird. Ihr Plädoyer für ein Leben jenseits der Festanstellung ist zwar glamourös, aber für viele Mittdreißiger unrealistisch.

Wenn ich mal groß bin

"Die Gesellschaft, in der Sie leben, teilt sich mittlerweile in Drinnen und Draußen: im System oder nicht im System.
          
Sie sitzen stattdessen mit Ihrem weißen Mac, den Ihre Eltern oder Großeltern Ihnen als Anschubfinanzierung für Ihre Existenz spendiert haben, in einem Café mit Hot Spot-WLAN, halten sich den ganzen Tag an einem Café Latte fest und versuchen, irgendwie Geld zu machen. Vielleicht simulieren Sie aber auch nur (...) Die Digitale Boheme erledigt das, was sie Arbeit nennt, (...) im öffentlichen Raum, also in der Gastronomie. Weil es noch billiger ist als ein Büro anzumieten. Das Büro können Sie nämlich schon lange nicht mehr finanzieren, weil trotz beharrlicher Arbeit keine Honorare hereinkommen. Das liegt auch daran, dass es zu viele Menschen gibt, die hoffen, mittels ihrer Kreativität längerfristig irgendwo landen zu können.
(2008, S.43f.)

REICHERT zeigt schonungslos den Unterschied zwischen einem Möchtegern-Bourgeois Bohemians (kurz: Bobo ) und einem erfolgreichen Kreativen auf. Wer es genauer wissen möchte, wie hart das Boheme-Leben sein kann, der findet bei Jörn MORISSE & Rasmus ENGLER genügend Anschauungsmaterial. Die beiden haben 20 kreativ Tätige befragt Wovon lebst du eigentlich? Dass die Zeiten sich geändert haben, das zeigte sich auch als im Dezember 2005 der Poplinke Diedrich DIEDERICHSEN im Zitty-Interview das Ende der Nachtleben-Szenen mit ihren großzügigen Ausstiegsmöglichkeiten feststellte.

"Ich nenne das immer: CDU-Koksen"

"Das Nachtleben ist braver geworden, Exzess ist eher unerwünscht, weil man ja am nächsten Tag noch Bewerbungen schreiben muss. Hipness verläuft in geregelten Bahnen.
          
DIEDERICHSEN: Natürlich ist heute die Möglichkeit, sich vorübergehend oder ganz aus einem bürgerlichen Leben zu verabschieden, als Perspektive nicht mehr da, weil das Risiko zu groß ist, nicht mehr rein zu kommen. Das haben früher viele gemacht, mal für drei Jahre oder für zehn Jahre. Es geht gar nicht so sehr um diese Erfahrung an sich. Aber wenn es um einen herum niemanden mehr gibt, der das macht, drückt das natürlich auf den Konformismus. Insofern habe ich auch den Eindruck, dass es konformistischer zugeht.
          
Das bürgerliche Leben ist also nichts, wofür man sich entscheidet, sondern wogegen man sich erst mal entscheiden muss?
          
DIEDERICHSEN: Genau. Und das ist nicht mehr möglich.
          
Wegen des ökonomischen Drucks?
          
DIEDERICHSEN: Klar. Wer zum Beispiel einen Universitätsabschluss machen will, muss ihn entweder unter 28 machen oder er kann es ganz lassen. Und die Dissertation muss er spätestens bis 32 vorlegen. Alles drückt auf konforme Lebensläufe. Es gibt keine Dauerstudenten mehr, eine Aussteiger."
(aus: zitty Nr.26 v. 07.12.2005)

Wenn REICHERT die Verklärungen der Boheme entzaubert, dann hat das viel mit den geänderten Rahmenbedingungen in Deutschland zu tun. Auch in der ehemaligen Frontstadt Berlin existiert inzwischen ein verstärkter Aufwertungsdruck in Szene-Stadtbezirken, den man bisher eher nur von München kannte. So mancher mag darauf hoffen, dass der Staat mittels üppigem Existenzgeld die bisherige Elternfinanzierung auffangen wird. Die Hoffnung stirbt eben zuletzt .

Die Klemmmappe steht für den (Alp)-Traum Arbeit und Leben zu vereinen, statt die Vorzüge der bürgerlichen Trennung zu genießen. IPod reimt sich auch bei REICHERT auf Popkultur. Indie-Bashing und Abschiednehmen von der Hamburger Schule ist die Vorstufe zur Verabschiedung der Jugendbewegung- bzw. -kultur als gesellschaftlicher Avantgarde. Wer sich unter der Erbswurst von Knorr nichts vorstellen kann, der hat sich nicht wie REICHERT mit der Geschichte deutscher Jugendbewegungen beschäftigt. Concealer und hautstraffende Lotion, wer denkt da nicht an Jugendkult und Fitnesswahn?

Das Thema Partnerschaft wird unter den Stichworten Kondome (Wunschkinder oder gar keine) und Zahnbürste (Zusammenziehen) verhandelt und für die Elternschaft steht der Schnuller. Immer noch gibt es Menschen, die Elternschaft mit Erwachsenwerden gleich setzen. Dass dem nicht so ist, das macht REICHERT deutlich. In der Mitte des Buchs packt REICHERT eine Heimfahrkarte der Deutschen Bahn AG aus. In diesem zentralen Kapitel klärt REICHERT das Verhältnis zu den eigenen Eltern, denen man nun in Augenhöhe gegenüberstehen sollte.

Was REICHERT sonst noch so in seiner Umhängetasche findet, das schenken wir uns hier. Für jeden dürfte etwas dabei sein, bei dem er sich ertappt fühlt. Manches ist überzeichnet, manches trifft aber auch den Kern. REICHERT lässt keinen Zweifel daran, dass das Erwachsenwerden auch seine Reize hat. So mancher ist vielleicht sogar erwachsen, und kann es sich nur nicht eingestehen. Vielleicht ist sogar das Hauptanliegen des Buches, dies zu erkennen und danach bewusster zu handeln. Oftmals sind die Menschen ja weiter als es die Feuilleton- oder sonstigen öffentlichen Debatten vermuten lassen.

Wenn ich mal groß bin

"Wahrscheinlich sind Sie auch bereits »eigentlich erwachsen« geworden, mehr oder weniger. Sie wollen es sich nur nicht eingestehen, weil Erwachsene in der Jugenddiktatur ständig denunziert werden. (...). Doch eigentlich sind Sie Opfer einer Gräuelpropaganda, die Sie jeden Tag mithelfen, weiter in die Welt hinauszuposaunen. Und das, obwohl Sie gemäß dem Jugenddiktatur-Motto »Trau keinem über 30« längst in Sibirien wären.
          
Sie sind noch nicht in Sibirien, weil es diese Diktatur gar nicht gibt. Es gibt sie nur in Ihrem Kopf."
(2008, S.173)

Fazit: Martin Reichert zeigt humorvoll, aber immer auch entschieden auf, welche Fallstricke auf dem Weg ins Erwachsenenleben lauern und wie Erwachsenwerden auch heute noch gelingen kann   

Der ehemalige Langzeitadoleszente und heutige taz-Redakteur Martin REICHERT zeigt den Möchtegern-Bobos bzw. Berufsjugendlichen, dass sie oftmals über ihre Verhältnisse leben. Sie sind in weit stärkerem Maße von ihren Eltern abhängig, nachdem der Sozialstaat jugendkulturelle Szenen oder aussichtslose Projekte der digitalen Boheme nicht mehr so abfedert wie vor Inkrafttreten der Agenda 2010. Spätestens wenn die Eltern zum Pflegefall werden oder als Geldgeber ausfallen und auch der Sozialstaat den Boheme-Lebensstil nicht mehr finanziert, zeigt sich die Notwendigkeit erwachsen zu werden. Besser ist es jedoch, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Es gilt die Zeichen der Zeit zu erkennen, die das Abschmelzen der postadoleszenten Phase vorsehen. Das Buch Wenn ich mal groß bin zeigt auf humorvolle und kenntnisreiche Art und Weise, wie man die Fallstricke umgeht und Erwachsenwerden auch heute noch gelingen kann.

 
     
 
       
   

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Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 29. Juni 2008
Update: 21. November 2018