2015
BBSR
(2015)(Hrsg.): Gleichwertigkeit auf dem Prüfstand,
in:
Informationen zur Raumforschung, Heft 1
KAWKA, Rupert (2015):
Einführung,
in:
Informationen zur Raumforschung, Heft 1, S.I-II
BRANDT, Edmund (2015):
Gleichwertige Lebensverhältnisse - verfassungsrechtliche
Grundlagen,
in:
Informationen zur Raumforschung, Heft 1, S.1-10
BÖHME, Kai & Sabine
ZILLMER (2015): Zillmer Was haben gleichwertige
Lebensverhältnisse mit territorialer Kohäsion zu tun?
in:
Informationen zur Raumforschung, Heft 1, S.11-22
KLINGHOLZ, Reiner
(2015): Vielfalt statt Gleichwertigkeit – Die Regionalpolitik
braucht eine neue Zielsetzung,
in:
Informationen zur Raumforschung, Heft 1, S.23-28
SCHARMANN, Ludwig
(2015): Gleichwertige Lebensverhältnisse (nur) durch "gleiche"
Mindeststandards? Ansätze und Sichtweisen aus der Landesplanung
am Beispiel
Sachsens,
in:
Informationen zur Raumforschung, Heft 1, S.29-44
EINIG, Klaus (2015):
Gewährleisten Zentrale-Orte-Konzepte gleichwertige
Lebensverhältnisse bei der Daseinsvorsorge?
in:
Informationen zur Raumforschung, Heft 1, S.45-56
ELBE, Sebastian & Rainer
MÜLLER (2015): Rainer Müller Gleichwertigkeit als
Bürgeraufgabe. Partizipation der Zivilgesellschaft =
Überforderung der Zivilgesellschaft?
in:
Informationen zur Raumforschung, Heft 1, S.57-70
KAWKA, Rupert (2015):
Gleichwertigkeit messen,
in:
Informationen zur Raumforschung, Heft 1, S.71-82
Rupert KAWKA wendet sich
bei der Messung der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnisse
gegen einen Gesamtindex wie er häufig vom Berlin-Institut
für
Bevölkerung und Entwicklung für seine Demografierankings
verwendet wird:
"Angesichts der vielfältigen
Aspekte beim Begriff des bundesstaatlichen Sozialgefüges muss –
und sollte – am Ende (...) kein Gesamtindex der Gleichwertigkeit
stehen, der schwer zu interpretieren ist, weil er die einzelnen
Aspekte miteinander verrechnet, der eventuell ein
Gewichtungsschema erfordert und der letztlich sogar Defizite bei
bestimmten Themen überkompensieren könnte."
(2015, S.72)
KAWKA lehnt sich mit seinem
Messkonzept insbesondere an das Raumordnungsgesetz an, das
folgenden Dimensionen der Gleichwertigkeit nennt:
"Das Raumordnungsgesetz aus
dem Jahr 2008 fordert ausgeglichene soziale, infrastrukturelle,
wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse und
benennt damit die Dimensionen, die in ein Indikatorenkonzept
gehören sollen. Darüber hinaus wird der Aspekt der Innovationen
genannt."
(2015, S.73)
Daneben diskutiert KAWKA
sieben Indikatorenkonzepte. Er fasst das Ergebnis folgendermaßen
zusammen:
"Insofern werden im Folgenden
die Dimensionen Wirtschaft, Umwelt, Infrastruktur,
Sozialstruktur sowie Kultur weiter betrachtet. Die Ergänzung um
die Aspekte Innovation und Grundbildung, Lebenserwartung sowie
persönliche Sicherheit ist dabei unproblematisch, weil sie sich
in die fünf Dimensionen gut einfügen lassen." (2015, S.74)
Aus der folgenden Tabelle ist
das Indikatorensystem mit seinen Eckwerten und seinem Raumbezug
ersichtlich:
Tabelle:
Indikatoren zur Messung der Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse in Deutschland |
Dimensionen |
Indikatoren |
Eckwerte |
Raumbezug |
Soziale Verhältnisse |
Vorzeitige Sterblichkeit |
Männer: höchstens 190 ; Frauen: höchstens 115
Todesfälle je 100.000 Einwohner |
Landkreise bzw. kreisfreie Stadt |
|
Anteil der Schulabbrecher |
höchstens 10 % |
Einzugsgebiet von max. 16 km um den Haupt- bzw.
Regelschulort |
|
Empfänger von sozialen Mindestleistungen |
max. 3 % |
Gemeindeebene nicht verfügbar, deshalb Kreisebene |
|
Gemeldete Straftaten je 100.000 Einwohner |
Bis zu ca. 5.500 Straftaten in Landkreisen;
ca. 9.500 Straftaten in Städten werden seitens der
Presse und einzelner Polizeidirektionen als sicher
bezeichnet;
bis zu 7.000 Straftaten gemäß der
Nachhaltigkeitsstrategie. |
Wohnortnahe Daten nicht verfügbar, deshalb nur
Kreisebene und kreisfreie Städte |
Infrastrukturelle Verhältnisse |
Erreichbarkeit der Oberzentren |
60-90 Minuten im Individualverkehr |
Radius |
|
Erreichbarkeit der Mittelzentren |
30 Minuten im Individualverkehr |
Radius |
|
Hausärzte |
Ein Hausarzt auf 1.671 Einwohner bezogen auf die
Mittelbereiche gemäß der Bedarfsplanungs-Richtlinie
des Bundesgesundheitsministeriums |
Mittelbereiche |
|
Grundschulen |
max. 8 km zwischen Schul- und Wohnort |
|
|
Erreichbarkeit von Autobahnen |
30 Minuten |
Radius |
|
Breitbandversorgung |
flächendeckend mind. 50 Mbit/s |
Gemeinde |
Wirtschaftliche Verhältnisse |
BIP je Erwerbstätiger |
75 % des Bundesdurchschnitts |
Laut SGB III, §
140 (4) sind Pendelzeiten von insgesamt 2,5 Stunden
bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden
zumutbar. Entsprechend können die recht großen
fünfzig Arbeitsmarktregionen von Kropp/Schwengler
(2011) herangezogen werden, die aber auch kleiner
als der 2,5-Stunden-Radius sind. |
|
Arbeitslosenquote |
3 % (Vollbeschäftigungsquote) |
|
FuE-Ausgaben bezogen auf das BIP |
3 % des BIP |
Ökologische Verhältnisse |
Feinstaub |
Jahresmittelwert 40 μg/m3 |
Durch Dichte der Messstationen und
Extrapolierbarkeit festgelegt |
|
Zustand der Fließgewässer |
Gewässergüte II |
Durch Dichte der Messstationen festgelegt |
|
Eutrophierung des Bodens |
Grenzwert beim Stickstoffüberschuss von 80 kg/ha
landwirtschaftlich genutzter Fläche |
Durch Dichte der Messstationen und
Extrapolierbarkeit festgelegt |
Kulturelle Verhältnisse |
Erreichbarkeit von Volkshochschulen |
30 Minuten |
Mittelzentraler Einzugsbereich |
|
Erreichbarkeit von öffentlichen Bibliotheken |
15 - 20 Minuten |
Gemeinde bzw. Gemeindeverband |
|
Erreichbarkeit von soziokulturellen Zentren |
30 Minuten |
Mittelzentraler Einzugsbereich |
|
Quelle: KAWKA 2015, Tabellen 1-3, S.77ff.; eigene
Darstellung
|
KAWKA entnimmt seine
Zielgrößen den Sollwerten unterschiedlicher politischer
Vorgaben, wobei die Unterschreitung der Mindeststandards als
ungleichwertig definiert ist. Das Indikatorensystem mit 19
Indikatoren soll ein Monitoring der Gleichwertigkeit von
Lebensverhältnissen in fünf Dimensionen ermöglichen und bietet
damit Vergleichmöglichkeiten zu anderen Herangehensweisen an die
Problematik.
TRIPPEL,
Katja
(2015): Über die Dörfer.
Stirbt sie oder stirbt sie nicht,
die deutsche Provinz? Die Prognosen sind schlecht, aber das sind sie
schon seit Jahrzehnten, und doch fanden GEO-Reporter auf einer Reise
über Land kräftige, zukunftsfrohe Dörfer. Und kämpferische. Überall
trafen sie auch auf existenzielle Fragen: Sollten wir schwache
Regionen um jeden Preis beleben? Oder sie aufgeben und menschenleere
Naturparadiese schaffen?
in:
Geo, März
"Laut Berlin-Institut
haben westdeutsche Dörfer, von denen man länger als 40
Minuten in die nächste Großstadt fährt, von 2003 bis 2008
mindestens doppelt so viele Einwohner eingebüßt wie Dörfer
nahe den Speckgürteln. Im Osten betrug der Schwund fern der
Citys rund sieben Prozent, Tendenz steigend.
Der Exodus folgt einer Regel: Die geografische bestimmt die
demografische Lage",
berichtet Katja TRIPPEL,
die lediglich zwei "Experten"-Positionen zum Thema
demografischer Wandel von deutschen Kommunen vorstellt.
Einerseits die neoliberale Position des Berlin-Instituts, das
die Aufgabe des Ziels gleicher Lebensverhältnisse in
Deutschland propagiert und zum anderen die Langzeitstudie
Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel des
Thünen-Instituts, das 14 Dörfer (seit 1952 in Westdeutschland
10 Dörfer und seit 1993 zusätzlich 4 ostdeutsche Dörfer)
untersucht hat. Im Gegensatz zum Berlin-Institut, das mit
plakativen Propagandafeldzügen die Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme betreibt, zeigt die
Langzeitstudie, dass Dörfer sehr verschiedenen
Einflussfaktoren unterliegen. Inwieweit demografische Faktoren
eine Rolle spielen, muss in jedem Einzelfall geklärt werden.
Demografie ist nicht unser Schicksal wie uns die Alarmisten
seit der Jahrtausendwende erzählt haben, sondern kommunale
Entwicklungen sind in erster Linie eine Frage der Politik.
TRIPPEL berichtet aus drei
Dörfern: Bockholte im Emsland, Freienseen im hessischen
Vogelsberg und Mildenburg im ostdeutschen Brandenburg.
"Hauptsächlich Metropolen
und Universitätsstädte prosperieren - auch weil sie die
bildungshungrige Landjugend anziehen. Und derzeit wachsen
erstmals mehr Kleinkinder in Städten heran als draußen im
Grünen",
behauptet TRIPPEL. Noch um
die Jahrtausendwende galten Städte als wenig attraktiv für
Familien. Im Jahr 2003 wurde der Prenzlauer Berg in Berlin als
Symbol einer neuen Mütterlichkeit inszeniert.
Nicht nur das Berlin-Institut erklärte dann ab Ende 2004 den
"Baby-Boom" in Berliner Prenzlauer Berg für einen Irrtum.
Es ist keineswegs ein Zufall, dass die Widerlegung dieses
"Baby-Booms" mit dem
Agenda-Setting des Elterngeldes ab September 2004 (vgl. BUJARD
"Elterngeld", Oktober 2014)
zusammenfällt. Der Meinungskampf um den "Baby-Boom" war
geprägt von der Durchsetzung des Elterngeldes. Vor
Inkrafttreten des Elterngeldes DURFTE es keinen Babyboom
geben, danach MUSSTE es einen geben. Wenige Jahre später
revidierten die Geburtenpropagandisten also ihre Meinung.
Kaum war das Elterngeld in Kraft getreten, da schrieb
ausgerechnet in der Welt Iris MARX den Baby-Boom in den
Städten herbei.
2009 konstatierte dann auch das Berlin-Institut einen
Geburtenanstieg im Szene-Bezirk. Es ist auch kein Zufall,
dass der mediale Fokus auf dem Akademikerbezirk ruhte, denn es
ging den Medien keineswegs um einen allgemeinen
Geburtenrückgang, sondern um einen
gewollten Geburtenanstieg bei Akademikerinnen, deren
Kinderlosigkeit nach der Jahrtausendwende weit überschätzt
wurde.
Cloppenburg galt dagegen als Symbol des ländlichen
Kindersegens. In der GEO-Reportage steht Bockholte für
diesen Typus:
"622 Einwohner, gut ein
Viertel mehr als vor 20 Jahren, Tendenz steigend."
Wie in Cloppenburg wird
auch der Bockholter Kindersegen auf die Russlanddeutschen
zurückgeführt:
"Bockholte ist vor allem
dank seiner Zuzügler gewachsen: Russlanddeutschen, die ab
Ende der 1990er Jahre in Werlte Arbeit fanden und im
Neubaugebiet Häuser bauten."
Das hessische Freienseen
wird dagegen im Kampf gegen den Bevölkerungsschwund
beschrieben:
"Freienseen hat seit 2006
sieben Prozent seiner Einwohner verloren. Die Gemeinde
Laubach, zu der Freienseen zählt, schrumpft ebenso schnell -
und ist so pleite, dass sie 2012 unter den kommunalen
Rettungsschirm es Landes Hessen schlüpfte. (...).
Laubach dreht sich im Teufelskreis. Der Schwund verursacht
eine finanzielle Misere, die die abgelegene Gemeinde erst
recht unattraktiv macht."
In der Debatte um die Entwicklung der Kommunen herrschte
dieses Paradigma der Abwärtsspirale vor. Es sollte
angeblich die allgemeine Gemeindeentwicklung beschreiben. In
Zeiten des Bevölkerungsrückgangs in Deutschland war dies
unumstritten,
seit
Deutschland jedoch gegen alle Prognosen wieder wächst,
regt sich Widerstand gegen diese verallgemeinernde Sicht.
Die dritte Gemeinde,
nämlich Mildenburg in Brandenburg, zeigt, dass keineswegs die
Demografie, sondern die geografische Lage (Umlandgemeinde von
Berlin) ein wichtiger Faktor der Gemeindeentwicklung ist.
Aber auch die geografische
Lage ist letztlich nicht allein ausschlaggebend, sondern die
Politik hat Einfluss. Bockkholte verdankte seine Entwicklung
z.B. auch einer Politik, die "strukturschwache Gebiete", wie
das vor der Demografisierung gesellschaftlicher Probleme hieß,
förderte:
"Der milliardenschwere
Emslandplan, verabschiedet in den 1950er Jahren, hat die
Region über Jahrzehnte mit moderner Infrastruktur versorgt
und wirtschaftlich gepusht. Subventionen in diesem Ausmaß,
auf Pump vom Staat bezahlt, sind jedoch längst nicht mehr
mehrheitsfähig."
Zu deutsch: Die Aufgabe des
Ziels gleicher Lebensverhältnisse oder zumindest eine
zeitgemäße Neuformulierung dieses Ziels verschärft die
Gegensätze in Deutschland.
Es stellt sich die z.B.
Frage warum aufstrebende Branchen in Metropolregionen, die aus
allen Nähten platzen, angesiedelt werden müssen, statt
strukturschwache Gebiete zu fördern. Einfalt statt Vielfalt
also?
SPIEGEL-Serie: 2030 - Deutschland, deine Zukunft (Teil 3) |
BACKES, Laura u.a. (2015): Die Schrumpfkur.
Die Städte
boomen, aber viele Dörfer veröden. Sechs Ideen gegen die große Leere
auf dem Land,
in:
Spiegel Nr.14 v. 28.03.
Die Autoren stellen den
Bürgerbus der Hunsrück-Gemeinde
Stromberg, das Schulmodell von
Kerken, die mobile Ärztin von
Templin (Uckermark), den Rückbau in
Lautertal, der hessischen Vogelsberg-Gemeinde mit 7 Ortsteilen,
die Telemedizin in pfälzischen
Aschbach und die Gemeinde-Allianz
Auerbergland in Bayern vor
DEGGERICH, Markus (2015): Herzflimmern.
Demografie: Über den schwierigen
Kampf seines Heimatdorfs Elte im Münsterland gegen den schleichenden
Tod,
in:
Spiegel Nr.14 v. 28.03.
FROMM, Anne (2015): Geboren wird nimmer.
Leben: Kliniken auf dem Land
schließen ihre Geburtsstationen. Weil es zu wenig neue Babys gibt,
weil Ärzte fehlen. Und weil Entbindungen teuer sind. Kann man Kinder
bald nur noch in Großstädten bekommen?
in:
TAZ v. 28.03.
"Jede
dritte Geburtsstation musste in den vergangenen 13 Jahren in
Deutschland schließen. Gab es im Jahr 2000 noch 670
Stationen, waren es 2013 nur noch 411. Als die einzige
Entbindungsstation auf der Insel Sylt Anfang 2014
verschwand, machte das bundesweit Schlagzeilen. Es geht um
die Frage, wie sich Krankenhäuser darauf einstellen, dass
die Leute immer älter und viele Regionen immer leerer
werden. Es geht darum, ob Menschen auf dem Land das gleiche
Recht auf Versorgung haben, wie Menschen in der Stadt. Und
darum, wie viel das kosten darf.
Man könnte auch sagen: In Bad Belzig wird um die Zukunft des
ländlichen Deutschlands gerungen. Wie soll sie aussehen?
Geburtshilfe müsse zentralisiert werden, sagen die Kliniken.
Die Bad Belziger sagen: Geburtshilfe gehört zur
Grundversorgung",
berichtet Anne FROMM. Was
daran ist jedoch eine angeblich alternativlose Konsequenz des
"demografischen Wandels"? Dies ist die entscheidende
Frage, wenn man die aktuellen Entwicklungen aus der
Perspektive einer Demografisierung gesellschaftlicher Probleme
betrachtet. Früher sprach man von "strukturschwachen Gebieten"
statt von "demografischem Wandel" obwohl die Probleme ähnlich
waren, aber die Lösungsansätze sind andere. Bei
strukturschwachen Gebieten ist klar, dass es um fehlende
zukunftsträchtige Arbeitsplätze in einer Region geht, die zur
Abwanderung junger Menschen führt. Dann ist Strukturpolitik
angesagt. Aber welche Strukturpolitik erfordert der
"demografische Wandel"? Darüber dürfte sich in den nächsten
Jahren ein politischer Konflikt entzünden, dessen Vorboten
Bücher wie
Demografie und Demokratie sind. Die derzeit übliche
politische Praxis der Demografisierung gesellschaftlicher
Probleme könnte zur zunehmenden Ununterscheidbarkeit von
Demokratie und Diktatur führen.
WEHRHAHN, Rainer (2015): Relationale
Bevölkerungsgeographie.
Warum werden wir in Deutschland
immer "weniger" und in Frankreich nicht? Warum wird die Bevölkerung
in vielen Ländern immer älter, allerdings nicht in allen
Teilregionen dieser Länder? Welche Staaten, Städte und Regionen sind
für Migrantinnen und Migranten aus welchen Herkunftsgebieten aus
welchen Gründen interessant? Warum setzt sich Translokalität immer
stärker durch und ersetzt unidimensionale Muster von
Wanderungsprozessen? Derartige Fragen, die mehr auf Erklärung als
auf Beschreibung demographischer Prozesse abzielen, können nur mit
einem erweiterten Verständnis von Bevölkerungsgeographie beantwortet
werden. Bezüge und Kontexte, Akteure und Strukturen spielen dabei
eine wesentliche Rolle,
in:
Geographische Rundschau,
April
RAU, Roland (2015): Keine Schule –
keine Einwohner?
Studie prüft Zusammenhang zwischen
Schulschließungen und Abwanderung in Gemeinden,
in:
Demografische Forschung aus erster Hand, Nr.1
GÖRES, Jaochim
(2015): Wenn auf dem Dorf der letzte Laden dicht macht.
Dorfläden: Mit dem Kauf von
Anteilen sichern engagierte Bürger in vielen kleinen Orten die
Lebensmittelversorgung. Das schafft auch Arbeitsplätze, denn rein
ehrenamtlich ist ein Dorfladen kaum zu führen. Inzwischen gibt es
bundesweit 200 solcher Läden. Sie helfen den Einwohnerschwund zu
stoppen,
in: TAZ Nord
v. 25.04.
BALZTER, Sebastian & Julia KÖRNER (2015): Letzte
Runde.
Das Wirtshaus war einst das
Zentrum des Dorflebens. Jetzt geben sogar die einfallreichsten Wirte
auf. Ein Nachruf,
in: Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung v. 26.04.
FOCUS-Titelgeschichte:
Wo man in Deutschland am besten
lebt.
402 Regionen im großen
Vergleich |
MATTHES, Nadja & Michael KOWALSKI (2015): Deutschlands
Atlas der Stärken.
Stadt oder Land? Nord oder Süd?
Der große Focus-Vergleich zeigt, in welchen der 402 Städte und
Kreise die Wirtschaft floriert, wo neue Jobs entstehen und
Arbeitnehmer die höchsten Gehälter erzielen,
in:
Focus Nr.22 v.
23.05.
Die Empirica-Auftragsstudie fasst
die vier Indikatoren Wachstum und Jobs, Firmengründungen,
Produktivität und Standortkosten sowie Einkommen und Attraktivität
zum Index "wirtschaftliche Stärke" zusammen, sodass sich darin eine
Rangliste von 1 bis 402 ergibt. Die folgenden 10 Landkreise, die
alle in Ostdeutschland liegen, bilden die Schlusslichter (vgl.
Focus v. 23.05., S.68ff.):
|
Region |
Bundesland |
Rang |
Oberspreewald-Lausitz |
Brandenburg |
393 |
Greiz |
Thüringen |
394 |
Nordsachsen |
Sachsen |
395 |
Unstrut-Heinich-Kreis |
Thüringen |
396 |
Anhalt-Bitterfeld |
Sachsen-Anhalt |
397 |
Kyffhäuserkreis |
Thüringen |
398 |
Salzlandkreis |
Sachsen-Anhalt |
399 |
Vorpommern-Greifswald |
Mecklenburg-Vorpommern |
400 |
Altenburger Land |
Thüringen |
400 |
Dessau-Roßlau |
Sachsen-Anhalt |
402 |
|
|
BERTELSMANNSTIFTUNG
(2015): Demographischer Wandel verstärkt Unterschiede zwischen Stadt
und Land.
Deutschlands Bevölkerungsstruktur wird sich in den kommenden
Jahren spürbar verändern. Das Durchschnittsalter steigt. Der
Pflegebedarf nimmt zu. Während die Städte eher wachsen, dünnt
der ländliche Raum weiter aus. Die Kommunen stellt das vor ganz
unterschiedliche Herausforderungen.,
in:
Pressemitteilung
BertelsmannStiftung
v. 08.07.
Die neoliberale
Bertelsmann-Stiftung hat erneut eine Rangordnung der
Bundesländer hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung ermittelt.
Aus der folgenden Tabelle sind die Unterschiede zweier Prognosen
ersichtlich:
Tabelle:
Vergleich der Bevölkerungsprognosen der Bundesländer
2020 und 2030 |
Rang
2006 |
Bundesländer |
Bevölkerungs-
prognose
(2003-2020) |
Rang
2015 |
Bevölkerungs-
prognose
(2012-2030) |
1 |
Hamburg |
+ 2,8 % |
2 |
+ 7,5 % |
2 |
Bayern |
+ 2,2 % |
3 |
+ 3,5 % |
3 |
Baden-Württemberg |
+ 1,0 % |
4 |
+ 2,1 % |
4 |
Schleswig-Holstein |
+ 1,0 % |
6 |
+ 0,4 % |
5 |
Niedersachsen |
- 0,2 % |
8 |
- 1,8 % |
6 |
Berlin |
- 0,5 % |
1 |
+ 10,5 % |
7 |
Brandenburg |
- 0,9 % |
11 |
- 3,5 % |
8 |
Rheinland-Pfalz |
- 1,0 % |
10 |
- 2,8 % |
|
Deutschland |
- 1,4 % |
|
- 0,7 % |
9 |
Hessen |
- 1,8 % |
5 |
+ 1,8 % |
10 |
Nordrhein-Westfalen |
- 1,9 % |
9 |
- 2,7 % |
11 |
Bremen |
- 2,3 % |
7 |
+ 1,0 % |
12 |
Saarland |
- 4,5 % |
13 |
- 7,9 % |
13 |
Mecklenburg-Vorpommern |
- 5,8 % |
13 |
- 7,9 % |
14 |
Thüringen |
- 8,2 % |
15 |
- 9,9 % |
15 |
Sachsen |
- 8,6 % |
12 |
- 5,9 % |
16 |
Sachsen-Anhalt |
- 11,9 % |
16 |
- 13,6 % |
|
Quelle:
Wegweiser Demographischer Wandel, 2006, S.14;
Pressemitteilung |
Innerhalb von 9 Jahren haben
sich hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung gravierende
Veränderungen ergeben. Dies gilt insbesondere für Berlin. Die
Bevölkerungsprognose ist jedoch bereits zum Zeitpunkt ihrer
Veröffentlichung im Grunde hoffnungslos überholt. Sowohl
Zuwanderung als auch Geburtenentwicklung haben sich anders
entwickelt als in den Annahmen.
STUTTGARTER ZEITUNG-Tagesthema:
Der Wandel wird
sichtbar.
Bevölkerungsentwicklung: Eine neue Studie zeigt, dass die
Deutschen immer älter werden. Bis 2030 verdoppelt sich die Zahl
der über 80-Jährigen. Das hat Konsequenzen |
KÄFER, Armin
(2015): Deutschland zieht um.
Prognose: Landflucht und Vergreisung,
Wir erleben den demografischen Wandel live,
in: Stuttgarter Zeitung
v. 09.07.
KÄFER, Armin (2015): Der Südwesten wächst und wird älter.
Gesellschaft: Der demografische Wandel ist in vollem Gang. Die Kluft
zwischen Stadt und Land wird größer, die Vergreisung wächst rasant -
das zeigt eine Studie zur Bevölkerungsentwicklung. Die
Herausforderungen an die Politik sind enorm,
in: Stuttgarter Zeitung
v. 09.07.
BORSTEL, Stefan von (2015): Städte wachsen, das Land blutet aus.
Bevölkerung wird bis 2030 schrumpfen und altern. Der Niedergang
trifft nicht alle gleich. Berlin, Hamburg und München ziehen immer
mehr Junge an, andere Regionen vergreisen,
in: Welt
v. 09.07.
KOSTRZEWA, Anne (2015): Nur die Alten bleiben.
Bis 2030 wird die Landbevölkerung in Deutschland stark
schrumpfen. Berlin wird voll sein - und München jung,
in: Süddeutsche Zeitung
v. 09.07.
KOSTRZEWA, Anne
(2015): Provinz: Arm, und nicht sexy.
Kommentar,
in: Süddeutsche Zeitung
v. 09.07.
SOLDT, Rüdiger
(2015): Revolution der Alten.
Eine
neue Partei mischt Baden-Baden auf. Ihre Mitglieder sind keine
Wutbürger, sondern reiche, zufriedene Rentner,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung
v. 02.08.
Rüdiger SOLDT beschreibt die
Gemeinderatfraktion Freie Bürger für Baden-Baden (FBB) um den
Immobilienmakler Martin ERNST als Anwalt der jungen Generation.
BBSR (2015): Unterschiede zwischen Stadt und Land vergrößern sich.
BBSR
legt Studie zur Entwicklung der Städte und Gemeinden vor,
in: Pressemitteilung
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
v. 13.08.
Pressemitteilung des
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zur
Studie
Wachsen oder Schrumpfen? BBSR-Typisierung als Beitrag für die
wissenschaftliche und politische Debatte.
In der öffentlichen Debatte
zum demografischen Wandel herrscht die Vorstellung vor, dass
der demografische Wandel Ursache eines Abwärtssoges sei, der
zum Niedergang einer Kommune bzw. eines Landes führt.
Empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass es einen solch
simplen Zusammenhang nicht gibt:
"Allerdings bestätigen
empirische Ergebnisse selten eindeutig die theoretischen
Setzungen. Bezüglich der Komponenten des demographischen
Wandels – quantitativer Bevölkerungsentwicklung,
Veränderungen der Altersstruktur, Zuwanderung – vermitteln
die empirischen Arbeiten kein einheitliches Bild
hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die wirtschaftliche
Entwicklung (vgl. u. a. Grundlach 1993;
Franz 2003;
Eckey/Kosfeld/Muraro 2009). Empirische Ergebnisse legen
vielmehr nahe, dass Wirkungszusammenhänge zwischen
Demographie und Ökonomie hinsichtlich des allgemeinen
ökonomischen Entwicklungsstandes, hinsichtlich des
Verdichtungs- bzw. Verstädterungsgrades und hinsichtlich der
Produktivitätsentwicklungen differenziert werden müssen.
Negative wirtschaftliche Folgen aufgrund von
Bevölkerungsrückgang seien nicht zwangsläufig (Bartl/Rademacher
2011). Des Weiteren treten in den verschiedenen Regionen
immer wieder Phasen auf, in denen Bevölkerungs- und
wirtschaftliche Entwicklung gegenläufige Tendenzen aufweisen
(Franz
2003)."
Leider ist die Studie
intransparent, d.h. die gewählte Darstellungsweise verzerrt
die Entwicklung und es ist z.B. nicht möglich die Daten mit
früheren Studien zum Thema (z.B. GATZWEILER & MILBERT
"Schrumpfende Städte wachsen und wachsende Städte schrumpfen",
IzR H.7/2009) zu vergleichen, weil die Darstellung der Tabellen
zum Schrumpfen und Wachsen der Gemeinden unterschiedlich ist.
So werden 2009 zwar 5-Jahres-Zeiträume betrachtet, aber nicht
2003-2008, sondern der Zeitraum 2002-2007. In der Tabelle 1
(2009, S.445) werden stark schrumpfende und stark wachsende
Gemeinden in Ost/West und Deutschland getrennt dargestellt. In
der aktuellen Studie dagegen werden in der Tabelle 2 (2015,
S.10) schrumpfende und stark schrumpfende Gemeinden
zusammengefasst und nur für Deutschland dargestellt, während
die Anzahl stark wachsender und wachsender Gemeinden fehlt.
Offenbar möchte man andere
Deutungsmöglichkeiten durch sehr selektive Wiedergabe der
Entwicklung erschweren.
Warum also verhindert das
BBSR die Vergleichbarkeit? Hat man Angst, der mündige Bürger
könnte ganz andere Schlussfolgerungen ziehen als es die Studie
nahe legt? Möchte man eine ernsthafte Debatte um den
demografischen Wandel verhindern?
Aus der folgenden Tabelle
sind die am stärksten schrumpfenden Gemeinden (gemessen an der
Einwohnerzahl) ersichtlich:
Tabelle:
Gemeinden in Deutschland mit mehr als 10 %
Bevölkerungsrückgang 2008 - 2013 |
Rang |
Gemeinde |
Gemeindetyp |
Bundesland |
Landkreis |
Bevölkerung
im Jahr 2013 |
Verlust |
1 |
Osterheide |
Landgemeinde |
Niedersachsen |
Heidekreis |
627 |
- 12,80 % |
2 |
Johanngeorgenstadt |
Landgemeinde |
Sachsen |
Erzgebirgskreis |
4.257 |
- 12,14 % |
3 |
Büddenstedt (Ortsteil seit 2017) |
Landgemeinde |
Niedersachsen |
Helmstadt |
2.530 |
- 11,94 % |
4 |
Altdöbern |
Landgemeinde |
Brandenburg |
Oberspreewald-Lausitz |
5.916 |
- 11,69 % |
5 |
Gräfenhainichen |
Größere
Kleinstadt |
Sachsen-Anhalt |
Wittenberg |
12.198 |
- 11,52 % |
6 |
Welzow |
Landgemeinde |
Brandenburg |
Spree-Neiße |
3.731 |
- 11,46 % |
7 |
Großräschen |
Kleine Kleinstadt |
Brandenburg |
Oberspreewald-Lausitz |
8.863 |
- 10,95 % |
8 |
Pfaffroda (Ortsteil seit 2017) |
Landgemeinde |
Sachsen |
Erzgebirgskreis |
2.572 |
- 10,91 % |
9 |
Mühlberg/Elbe |
Landgemeinde |
Brandenburg |
Elbe-Elster |
3.969 |
- 10,81 % |
10 |
Strasburg/Uckermark |
Kleine Kleinstadt |
Mecklenburg-Vorpommern |
Vorpommern-Greifswald |
5.009 |
- 10,73 % |
11 |
Boitzenburger Land |
Landgemeinde |
Brandenburg |
Uckermark |
3.319 |
- 10,51 % |
12 |
Hoyerswerda |
Mittelstadt |
Sachsen |
Bautzen |
34.317 |
- 10,49 % |
13 |
Weißwasser |
Größere
Kleinstadt |
Sachsen |
Görlitz |
18.563 |
- 10,42 % |
14 |
Hirschberg/Saale |
Landgemeinde |
Thüringen |
Saale-Orla-Kreis |
2.181 |
- 10,39 % |
15 |
Jöhstadt |
Landgemeinde |
Sachsen |
Erzgebirgskreis |
2.837 |
- 10,22 % |
16 |
Schleusegrund |
Landgemeinde |
Thüringen |
Hildburghausen |
2.838 |
- 10,13 % |
17 |
Bergbahnregion/Schwarzatal
(Auflösung 2019) |
Landgemeinde |
Thüringen |
Saalfeld-Rudolstadt |
5.322 |
-
10,12 % |
|
Quelle:
BBSR Analyseergebnisse für jede Kommune (XLSX-Datei) |
DERNBACH, Andrea (2015): Stadt, Land - Schluss.
Die
Metropolen werden immer größer, die ländlichen Regionen leerer.
Welche Folgen hat das für Deutschland?
in:
Tagesspiegel v.
14.08.
Berichte über die Studie
Wachsen
oder Schrumpfen.
METZNER, Thorsten (2015): Kampf um jedes Dorf.
Das
Land Brandenburg umschließt eine der dynamischten Wachstumsregionen
Deutschlands. Doch die berlinfernen Regionen vergreisen. Wie wird
man in dem Bundesland mit diesem Phänomen fertig?
in:
Tagesspiegel v.
14.08.
IDE, Robert (2015): In Würde vereinsamen.
Kommentar,
in:
Tagesspiegel v.
14.08.
SCHWALDT, Norbert (2015): Pulsierende Metropole, verödete Dörfer.
Kleinere Gemeinden verlieren stark an Einwohnern - auch im Westen.
Gewinner der Bevölkerungsveränderung sind Großstädte und ihr Umland,
aber auch dort gibt es Nachteile,
in:
Welt
v. 14.08.
DELHAES/HEIDE/SCHMITT
(2015): Die moderne Völkerwanderung.
Junge
Menschen zieht es vom Land in die größeren Städte - vor allem
mittlere Kommunen verlieren,
in:
Handelsblatt
v. 14.08.
CREUTZBURG, Dietrich
(2015): Frankfurt wächst stärker als Berlin.
Die
Diskrepanz zwischen Großstadt und Land nimmt zu. Im Osten schrumpfen
einige Landgemeinden dramatisch. Das lähmt dort die Wirtschaft,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 14.08.
DRIBBUSCH, Barbara
(2015): Bitburg ist nämlich auch ganz schön.
Studie: München und
Leipzig boomen, das Land verödet. Forscher
raten: die Mittelstädte stärken,
in:
TAZ v. 14.08.
WILKE, Felicitas
(2015): Verbaut.
In
den Großstädten bekommen Wohnungssuchende keine bezahlbare
Unterkunft. Aber in schrumpfenden Regionen entstehen ständig neue
Häuser. Eine Studie zeigt: Deutschland baut an der falschen Stelle,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 20.08.
Der Artikel
geht kaum über das hinaus, was das
von der Privatwirtschaft finanzierte IW Köln in seinen
Pressematerialien bereits zeitungsgerecht vorgefertigt hat.
"Besonders viele neue
Wohnungen, die nicht benötigt werden, entstehen zurzeit in
der Eifel, im Schwarzwald, im Bayerischen Wald und in Teilen
Mecklenburg-Vorpommerns",
heißt es bei Felicitas
WILKE. In der Pressemitteilung des IW Köln liest sich das
folgendermaßen:
"Anders
sieht die Lage in einigen ländlichen, strukturschwachen
Kreisen wie der Eifel, dem Schwarzwald oder weiten Teilen
Ostdeutschlands aus. Dort gibt es zu viele Wohnungen, die
gar nicht benötigt werden."
Im Anhang des
Politikpapiers
Der künftige Bedarf an
Wohnungen
des IW Köln sind ab Seite 17 alle 402 Kreise aufgelistet.
Daraus kann sich dann jede Zeitung die für ihr Einzugsgebiet
wichtigsten Regionen aussuchen...
LEMBKE, Judith
(2015): Wachsen oder schrumpfen.
Deutschland driftet auseinander. Wie Hiddenhausen und Ilvesheim.
Hier verwaisen Häuser, dort fehlen sie. Doch der Wandel lässt sich
gestalten. Ein Besuch in Ostwestfalen und Baden,
in: Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung
v. 23.08.
KOPPETSCH, Cornelia (2015): Die Zurückgebliebenen.
Soziologie: Warum wütet die rassistische Gewalt besonders im Osten?
Weil die Menschen dort als Rassisten geboren werden? Nein, bestimmt
nicht,
in:
Freitag Nr.35 v.
27.08.
"Fast eine
Million Menschen haben das Land seit 1990 verlassen.
Schulen, Läden und Arztpraxen müssen schließen. Häuserzüge
verwaisen und Dörfer werden zu Geisterstätten. Zurück
bleiben oft nur die Alten, die Sozialhilfeempfänger und
diejenigen, die sich im Westen keine Zukunft erhoffen. Die
Rückkehr der Wölfe ist nur ein Symbol des Prozesses, der im
Amtsdeutsch treffenderweise auch als Renaturalisierung
bezeichnet wird",
beschreibt die Soziologin
Cornelia KOPPETSCH die Situation im Freistaat
Sachsen, das als Hochburg der rassistischen Gewalt gilt.
STEINFÜHRER, Annett
(2015): "Landflucht" und "sterbende
Städte".
Diskurse über räumliche Schrumpfung in Vergangenheit und Gegenwart,
in: Geographische Rundschau, September
Annett STEINFÜHRER beschreibt
ihr Verständnis des Begriffs "Schrumpfung" anhand der
Definitionsbreite des Begriffs in der Debatte::
"Bei starker negativer
Bevölkerungsentwicklung wird im deutschen Kontext von »Schrumpfung«
gesprochen - wohl, weil dies die unmittelbare Assoziation ist, wenn
das sprachliche Gegenteil von »Wachstum« benannt werden soll. Auch
in die internationale Debatte um ökonomischen Niedergang und
Bevölkerungsrückgang hat der Begriff shrinkage Eingang
gefunden.
In der aktuellen Debatte sind zwei Begriffsverständnisse zu
unterscheiden. Im weiteren Sinne umfasst Schrumpfung ökonomische und
demographische Dimensionen. (...).
Im engeren Sinne wird Schrumpfung ausschließlich auf die
quantitative Bevölkerungsentwicklung - also das Verhältnis zwischen
der sogenannten natürlichen Bevölkerungsentwicklung (Geburten und
Sterbefälle) und den Zu- und Abwanderungen - bezogen (...). Dieser
Beitrag geht vom engeren demographischen Schrumpfungsverständnis
aus." (2015, S.4)
Um den Schrumpfungsprozess zu
charakterisieren, hat die Debatte unterschiedliche, meist wertende
Begriffe hervorgebracht. STEINFÜHRER nennt folgende Begriffe, die
mit unterschiedlichen Raumbezügen verbunden sind:
Begriff |
Bedeutung |
Raumbezug |
Abwärtsspirale |
Sinnbild der multidimensionalen negativen
ökonomischen, sozialen, infrastrukturellen und
sozialen Folgen von Schrumpfung |
Region, Stadt,
Quartier |
Bevölkerungsimplosion |
Fachbegriff der
1970er Jahre, offenbar als Pendant zu starkem
Bevölkerungswachstum ("Explosion") entwickelt
|
Gesamtstaat |
Landflucht |
dramatisierende, seit der 2. Hälfte des 19.
Jahrhunderts mit unterschiedlichen Interessen
verwendete Sprachformel zur Beschreibung der
Abwanderung aus ländlichen Räumen |
ländliche Räume |
Perforierte Stadt |
Sinnbild der
ungleichmäßig über den Stadtraum verteilten
baulichen Folgen von Schrumpfung |
Stadt |
Peripherisierung |
Fachbegriff der
neueren Regionalgeographie und -soziologie, der
die Dynamik regionaler Abkopplungsprozesse betont |
Region,
ländliche Räume |
Stadtumbau |
Fachbegriff zur
Beschreibung der planmäßigen Anpassung
schrumpfender Städte (vor allem durch Abrisse);
zugleich Name zweier
Bund-Länder-Städtebauförderprogramme |
Stadt |
Sterbend |
dramatisierendes Attribut zur Darstellung starken
Bevölkerungsrückgangs und ökonomischen Niedergangs |
Dorf, (Klein-)Stadt |
Verödung |
Sinnbild der
physischen Auswirkungen ökonomischer und
demographischer Schrumpfungsprozesse; Gegenbegriff
zur Urbanität |
Stadt(quartier) |
Wolfserwartungsland |
dramatisierendes Sinnbild starken
Bevölkerungsrückgangs, das auf
Nutzungsalternativen zur menschlichen Besiedlung
verweist |
Region,
ländliche Räume |
Wüstung |
Fachbegriff der
historischen Siedlungsforschung für eine
aufgegebene Siedlung oder Ackerflur |
Dorf,
Siedlungsteil |
|
Quelle: Annett
Steinführer 2015, S.5; eigene Zusammenstellung |
LEICK, Birgit (2015):
Wie demographische Schrumpfung Unternehmen herausfordert,
in: Geographische Rundschau, September
KÜPPER, Patrick (2015):
Demographischer Wandel und nachlassende Wirtschaftskraft,
in: Geographische Rundschau, September
GLORIUS, Birgit (2015):
Ärzte für
Sachsen.
Fachkräftezuwanderung als Lösungsansatz für demographische Probleme?
in: Geographische Rundschau, September
LEIBERT,
Tim (2015):
Abwanderung Jugendlicher aus
postsozialistischen ländlichen Räumen,
in: Geographische Rundschau, September
MEILI, Rahel & Heike MAYER (2015):
Zuwanderung und Unternehmensgründungen in peripheren Berggebieten in
der Schweiz,
in: Geographische Rundschau, September
DESTATIS (2015): Neue Veröffentlichung "25 Jahre Deutsche Einheit",
in: Pressemitteilung des
Statistischen Bundesamtes
v. 29.09.
Um die Publikation 25
Jahre Deutsche Einheit zu lancieren, lud das Statistische
Bundesamt heute zur
Pressekonferenz. Das Datenmaterial bietet jedoch nur einen
Überblick über 22 Jahre Deutsche Einheit, wobei überwiegend
nur die Jahre 1991 und 2013 gegenübergestellt werden.
In der Pressemitteilung
heißt es zur unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung in Ost
und West:
"In den ostdeutschen
Flächenländern hatten 2013 rund 12,5 Millionen Menschen ihre
Heimat (15 %). Ende 1991 war auf die neuen Länder mit 14,5
Millionen Menschen noch ein Anteil von 18 % der Bevölkerung
entfallen.
Der Verlust von etwa 2 Millionen Menschen in den neuen
Ländern (ohne Berlin) lag in der Abwanderung nach
Westdeutschland und im Geburtendefizit begründet: Bis 2013
zogen mehr Menschen aus dem Osten weg als zuzogen. In den
Jahren 2012 (– 14 900 Personen) und 2013 (– 10 500) hat sich
der negative Wanderungssaldo jedoch stark verringert und ist
2014 auf den bisher niedrigsten Stand gesunken (– 3 300).
Die Zahl der Geburten sank in den neuen Ländern zwischen
1990 und 1994 um mehr als die Hälfte von 163 000 auf 71 000.
Danach nahm die Zahl der Neugeborenen jedoch wieder leicht
zu und lag seit 2000 bei rund 100 000 Kindern pro Jahr.
Diese Entwicklungen führten in Ostdeutschland zu einer
schnelleren Alterung der Gesellschaft: 63 % der dortigen
Bevölkerung waren 2013 älter als 40 Jahre (1991: 46 %).
In den westlichen Flächenländern nahm die Bevölkerung
hingegen um gut 4 % zu – dazu trug die Zuwanderung aus den
neuen Ländern und vor allem aus dem Ausland bei."
Weiter wird über das
Wohnbauprogramm "Aufbau Ost" berichtet:
"Das Programm »Aufbau
Ost«sorgte in den Jahren nach der Vereinigung für einen Boom
im Wohnungsbau. Auf dem Höhepunkt des Baubooms in den neuen
Bundesländern im Jahr 1997 befand sich mehr als ein Viertel
aller in Deutschland fertiggestellten Wohnungen in den
ostdeutschen Flächenländern. Insgesamt wurden seit 1991
knapp 8 Millionen neue Wohnungen in Deutschland gebaut –
fast zwei Drittel davon in den bevölkerungsreichen
Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen
und Niedersachsen."
Dass ab dem Jahr 2001 mit
dem Abrissprogramm Ost, euphemistisch "Stadtumbau Ost"
genannt, zwischen 2001 und 2011 ca. 300.000 Wohnungen
abgerissen wurden, darüber schweigt die Pressemeldung. Annett
STEINFÜHRER schreibt dazu in ihrem Artikel "Landflucht" und
"sterbende Städte"
in der aktuellen Ausgabe der Geographischen Rundschau:
"In Ostdeutschland und im
Ostteil Berlins wurden zwischen 2001 und 2011 ca. 300000
Wohnungen abgerissen, davon 92 % mit Stadtumbau-Förderung.
Der Rückbau betraf vor allem kommunale und
genossenschaftliche Wohnungsbestände. Private Immobilien
blieben (...) weitgehend unangetastet".
KASTNER, Bernd
(2015): Hilfe.
Hardheim in Baden-Württemberg hat 4.600 Einwohner - und 1.000
Flüchtlinge. Über einen Ort, der sich trotz der vielen Menschen sehr
alleingelassen fühlt,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
07.10.
THÜNEN INSTITUT (2015): Dörfer im Wandel.
Eine Langzeitstudie beleuchtet die Entwicklung ländlicher
Lebensverhältnisse in 14 ausgewählten Orten in Deutschland –
Wissenschaftler und Politiker diskutieren Ergebnisse in Berlin,
in:
Pressemitteilung des Johann
Heinrich von Thünen-Instituts v.
29.10.
Übersicht der untersuchten
Dörfer in der Studie Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952,
1972, 1993 und 2012:
VOGT, Luisa/BIERNATZKI, Ralf/KRISZAN,
Michael/LORLEBERG, Wolf (2015): Ländliche Lebensverhältnisse im
Wandel 1952, 1972, 1993, 2012, Braunschweig: Johann Heinrich von Thünen-Institut, Thünen Report Nr.32, Vol. 1: Dörfer als
Wohnstandorte
"(N)ach dem Indikatoren-Set des Bundesinstituts für Bau-, Stadt-
und Raumforschung (BBSR 2012) für die Darstellung räumlicher
Disparitäten bilden die Untersuchungsdörfer die Vielfalt räumlicher
Strukturen in der Bundesrepublik für Anfang der 2010er Jahre fast
vollständig ab. Das BBSR typisierte dabei allerdings auf Ebene der
Gemeinden, während die Untersuchungsdörfer nicht zwingend kommunalen
Status besitzen. Denkbar wäre entsprechend, dass intrakommunale
Differenzen zu einer für ein Teilgebiet einer Gemeinde
unzutreffenden Charakterisierung führen. Räumliche Disparitäten bzw.
die Entwicklung(schancen) von Gemeinden machte das BBSR an folgenden
Kriterien fest: Bevölkerungsentwicklung in Prozent bezogen auf die
Jahre 2005 bis 2010, Gesamtwanderungssaldo je 1000 Einwohner (als
Dreijahresdurchschnitt gemessen), Arbeitsplatzentwicklung in Prozent
(Fünfjahreszeitraum), Arbeitslosenquote (im Zweijahresdurchschnitt),
Realsteuerkraft in Euro je Einwohner (ebenfalls im
Zweijahresdurchschnitt) sowie die Kaufkraft in Euro je Einwohner"
(2015, S.12),
erläutern die Autoren bezüglich
der Entwicklung der untersuchten Dörfer. Für die
Bevölkerungsentwicklung in den Orten wird nicht der Untersuchungsort,
sondern nur die Bevölkerungsentwicklung der
Gemeinde/Stadtteilbevölkerung angegeben, die aus der folgenden
Tabelle ersichtlich ist:
Tabelle:
Entwicklung der
Bevölkerung in den Untersuchungsgebieten 1993 bis 2013 |
Ortschaft |
Gemeinde/Stadt
(Bundesland) |
Bevölkerungsstand |
1993-2013
(in %) |
BBSR-
Klassifikation |
1993 |
2003 |
2013 |
Bischoffingen |
Vogtsburg
(Baden-Württemberg) |
5.507 |
5.708 |
5.737
(1) |
+
4,2 % |
wachsend |
Bockholte |
Werlte
(Niedersachsen) |
7.567 |
9.104 |
9.631
(1) |
+
27,3 % |
wachsend |
Elliehausen |
Göttingen-Elliehausen
(Niedersachsen) |
2.177 |
2.716 |
2.938 |
+ 35,0 % |
schrumpfend |
Falkenberg |
Falkenberg
(Bayern) |
3.687 |
3.920 |
3.750 |
+
1,7 % |
wachsend |
Finneland (2) |
Burgenlandkreis
(Sachsen-Anhalt) |
k.A. |
k.A. |
1.126 |
k.A. |
stark schrumpfend |
Freienseen |
Laubach
(Hessen) |
10.329 |
10.280 |
9.654 |
-
6,5 % |
schrumpfend |
Gerhardshofen |
Gerhardshofen
(Bayern) |
1.616 |
2.487 |
2.499 |
+
54,6 % |
wachsend |
Glasow |
Glasow
(Mecklenburg-Vorpommern) |
256 |
196 |
160 |
-
37,5 % |
schrumpfend |
Groß Schneen |
Friedland (3)
(Niedersachsen) |
7.146 |
7.538 |
7.046
(1) |
-
1,4 % |
wachsend |
Kusterdingen |
Kusterdingen
(Baden-Württemberg) |
7.579 |
8.238 |
8.187 |
+
8,0 % |
wachsend |
Mildenberg |
Zehdenick
(Brandenburg) |
16.321 |
14.903 |
13.684
(4) |
-
16,2 % |
stark schrumpfend |
Ralbitz |
Ralbitz-Rosenthal
(Sachsen) |
1.837 |
1.855 |
1.716 |
-
6,6 % |
schrumpfend |
Spessart |
Spessart
(Rheinland-Pfalz) |
729 |
764 |
749 |
+
2,7 % |
schrumpfend |
Westrup |
Stemwede
(Nordrhein-Westfalen) |
13,772 |
14.558 |
13.364 |
-
3,0 % |
stabil |
|
Quelle: 2015, S.19;
BBSR-Klassifikation S.12f.; eigene Darstellung
Anmerkung: (1) Bevölkerungsstand im Jahr 2012; (2)
Gemeinde erst im Jahr 2009 entstanden;
(3) Ohne Durchgangslager; (4) Bevölkerungsstand im Jahr
2011 |
Das Problem dieser Tabelle ist,
dass sich die Untersuchungsorte anders entwickeln können als die
Gemeinde. Ende 2016 lebten z.B. in der Kaiserstuhlgemeinde Vogtsburg
5.894 Einwohner (+ 6 Einwohner im Vergleich zum Vorjahr), während im
Ort Bischoffingen nur 628 Einwohner (- 8 Einwohner im Vergleich zum
Vorjahr) lebten (Angaben: Website der Gemeinde und Wikipedia, Stand
05.04.2017). In der Untersuchung
Die Zukunft der Dörfer des Berlin-Instituts wäre die
Gemeinde aufgrund ihrer Größe (mehr als 500 Einwohner) nicht als
Dorf klassifiziert worden.
HELMLE, Simone & Carmen KUCZERA
(2015): Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993,
2012, Braunschweig: Johann Heinrich von Thünen-Institut, Thünen
Report Nr.32, Vol. 2: Typisch ist das vermeintlich Untypische:
Alltag von Dorfbewohnern
KEIL, Andreas/RÖHNER, Charlotte/JESKE,
Ina/GODAU, Michael/PADBERG, Stefan/MÜLLER, Jennifer/SEYFI, Nur/SCHRAVEN,
Mira (2015): Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972,
1993, 2012, Braunschweig: Johann Heinrich von Thünen-Institut,
Thünen Report Nr.32, Vol. 2: Kindheit im Wandel
BEETZ, Stephan unter Mitarbeit
von anderen (2015): Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952,
1972, 1993, 2012, Braunschweig: Johann Heinrich von Thünen-Institut,
Thünen Report Nr.32, Vol. 4: Soziale Unterstützungsstrukturen im
Wandel
EVERS-WÖLK, Michaela/OERTEL,
Britta/THIO, Sie Liong/KAHLISCH, Carolin/SONK, Matthias (2015):
Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993, 2012,
Braunschweig: Johann Heinrich von Thünen-Institut, Thünen Report
Nr.32, Vol. 5: Neue Medien und dörflicher Wandel
TUITJER, Gesine (2015): Ländliche
Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993, 2012, Braunschweig:
Johann Heinrich von Thünen-Institut, Thünen Report Nr.32, Vol. 6:
Ländliche Arbeitsmärkte: Chancen für Frauen – Frauen als Chance
WEINGARTNER, Maximilian (2015): Das Landleben verändert sich - die
Zufriedenheit bleibt.
Seit einiger Zeit zieht es viele Deutsche in Ballungsräume und
Großstädte. Sind die Menschen auf dem Land unglücklich? Mitnichten,
zeigt eine Umfrage. Doch auch sie haben Schwierigkeiten,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 30.10.
Maximilian
WEINGARTNER berichtet über die vom Projektkoordinator des
Thünen-Instituts, Heinrich Becker, am Donnerstag vorgestellte
Langzeitstudie des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Als
Ergebnis der Studie fasst er zusammen:
"Die
unterschiedliche Entwicklung der Untersuchungsdörfer seit
1952 kann nach Schlussfolgerung der Studie nicht allein auf
einzelne Faktoren zurückgeführt werden, etwa die
verkehrliche Lage oder regionale, wirtschaftliche und
demographische Entwicklungen."
MÜLLER, Benedikt (2015): Der große
Frust.
Wer eine Wohnung sucht, kam
bisher kaum an Immobilienscout 24 vorbei - das Internetportal
beherrschte das Geschäft. Doch immer mehr Mieter und Makler sind
davon genervt und suchen nach Alternativen. Mittlerweile gibt es
diese,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
24.11.
ASENDORPF, Dirk (2015): Landleben 2.0.
Wie rettet man Dörfer vor dem
Aussterben? Darüber machen sich Demografen und Software-Ingenieure
Gedanken. Schnelle Internetanschlüsse können helfen, entscheidend
ist jedoch etwas anderes,
in:
Die ZEIT Nr.50 v. 10.12.
Der Sound der
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme hört sich
folgendermaßen an:
"zwei Drittel aller
Deutschen (leben) in ländlichen Gebieten, über die Hälfte in
Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern. Und von diesen
Kleinstädten schrumpfen viele unaufhaltsam: Zuerst schließt
der letzte Laden, dann die letzte Arztpraxis und am Ende
auch die letzte Kneipe. Frei werdende Immobilien finden
keine Käufer mehr, Leerstand breitet sich aus - was
potenzielle Zuzügler erst recht verschreckt. So entsteht
eine Abwärtsspirale des Bevölkerungsschwundes".
Der O-Ton dieses Sounds wird seit Jahren von einem
neoliberalen Privatinstitut verbreitet, das sich das
Sterben der Dörfer auf seine Fahnen geschrieben hat. Schon in
den 1950er Jahren wurden die Dörfer in Deutschland totgesagt.
Die Langzeitstudie
Dörfer im Wandel des Thünen-Instituts, das 1952, 1972,
1993 und 2012 ausgewählte Dörfer untersuchte, zeigt, dass
angeblich sterbende Dörfer durchaus eine Zukunft haben. In
einer Pressemitteilung heißt es dazu:
"Die Studie macht sehr
heterogene ländliche Entwicklungen deutlich, die in weiten
Teilen nicht mit dem landläufigen Bild ländlicher
Entwicklungen übereinstimmen. Eines der auffälligsten
Ergebnisse: Die Problem- oder »Rückstandsdörfer« aus der
ersten Untersuchung von 1952 haben diese Situation längst
überwunden. »Dabei kann die unterschiedliche Entwicklung der
Untersuchungsdörfer nicht auf einzelne Faktoren wie
verkehrliche Anbindung, wirtschaftliche oder demografische
Entwicklung zurückgeführt werden«, sagt der Leiter der
Verbundstudie, Dr. Heinrich Becker vom Thünen-Institut. »Die
Entwicklungen sind vor allem das Ergebnis der
Entwicklungsanstrengungen vor Ort. Dabei verstanden es die
örtlichen Entscheidungsträger vielfach, die verschiedenen
staatlichen Unterstützungsprogramme in ihrem Sinn zu
nutzen.«"
Wer wie Dirk ASENDORPF
allein demografische Daten und ihre lineare Fortschreibung in
die Zukunft als Indikator der Zukunftsfähigkeit aufzählt, der
vernachlässigt ökonomische ("strukturschwache Gebiete"),
politische (Gestaltungsspielraum von lokalen und
überregionalen Akteuren, z.B. Gestaltung des
Länderfinanzausgleichs) und soziokulturelle Faktoren (z.B.
Geschichtskonservatismus,
Demographismen,
Selbststigmatisierung der Bevölkerung) als Aspekte der
Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume.
Auch die Ausspielung
verschiedener Faktoren gegeneinander ist kontraproduktiv. So
spitzt ASENDORPF dies im weiteren Artikel auf die Frage zu:
"Lässt sich das
Dörfersterben tatsächlich mithilfe moderner Technik
verhindern? Oder sind eher andere, soziale Impulse gefragt,
um das Landleben attraktiver zu machen?"
Telekommunikation gegen
ehrenamtliches Engagement heißt hier die falsche Alternative,
die politische und kulturelle Faktoren beiseite lässt und
einzig den Gemeinsinn als Allheilmittel propagiert. Solche
Sozialromantik vernachlässigt z.B. das Zusammenspiel
unterschiedlicher politischer Ebenen. So entscheidet sich die
Frage nach der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, die im
Grundgesetz garantiert ist, keineswegs im letzten Dorf,
sondern auch in gesamtgesellschaftlichen Diskursen, die von
neoliberalen Privatinstituten forciert werden.
REICHEL, Reiner (2015): Flüchtlinge aufs Land.
Die Wohnungsnot könnte einfach
gelindert werden - außerhalb der Ballungsgebiete herrscht Leerstand,
in: Handelsblatt
v. 11.12.
Beim IW Köln macht offenbar
jeder seine eigene interessengeleitete Bevölkerungsprognose.
Während Philipp DESCHERMEIER die hohe Zuwanderung in der
diesjährigen IW Köln-Bevölkerungsprognose bis 2030 ganz
herausrechnete, damit der Fachkräftemangel weiterhin beklagt
werden kann, geht nun sein IW Köln-Kollege Michael VOIGTLÄNDER
dagegen von einer hohen Zuwanderung bis 2020 aus.
Anders als Reiner REICHEL
behauptet, stammt die jüngste Bevölkerungsvorausberechnung des
Statistischen Bundesamtes nicht aus dem Jahr 2009 - nur weil
das REICHEL gelegen kommen würde, sondern vom April diesen
Jahres.
Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg ist noch
aktueller und hat nicht nur
wie das Statistische Bundesamt den Zuwanderungsüberschuss
angepasst, sondern auch schon die Geburtenrate - wenn auch
nicht in dem Ausmaß wie das aufgrund der tatsächlichen
Geburtenentwicklung der Fall sein müsste.
SIEVERS, Markus (2015): Der Reichtum steigt
regional.
Da sich Konzerne in
Ballungsgebieten ansiedeln, fallen ohnehin strukturschwache Regionen
weiter zurück,
in:
Frankfurter Rundschau v.
22.12.
NIEWELO, Gianna (2015): The Dorf.
Früher musste man nach New York
ziehen, wenn man die Welt erleben wollte, zumindest aber nach
Saarbrücken. Nur nicht auf dem Land bleiben. Heute ist auch die
Provinz irgendwie chic. Wie konnte das passieren?
in: Süddeutsche
Zeitung v. 29.12.
Nachdem
das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung
forderte, dem langsamen Sterben der stadtfernen Dörfer in
Deutschland ein schnelleres Ende zu bereiten, weil deren
Infrastruktur unrentabel sei, hat nun zumindest rhetorisch
eine Gegenbewegung zur Ehrenrettung des Dorfes eingesetzt:
"Provinz - das Klischee
verbindet mit dem Begriff Kleinstädte und Dörfer, die
überaltern und veröden. Mit gottverlassenen Straßen,
Industriebrachen, Ärztemangel. Es verbindet damit Orte, aus
denen gerade die Jüngeren fliehen. (...).
Aber Provinz, das meint eben auch die Summe der Gegenden, in
denen mehr als 55 Millionen Deutsche leben: auf dem Land,
oder zumindest abseits der Metropolen. Die Zeitschrift
für Ideengeschichte widmete sich vor ein paar Monaten
gleich auf 120 Seiten dem Thema, sie forderte ein »Recht auf
Dorf«. Soziologen holen in Streitschriften zur Ehrenrettung
aus. Sie verweisen darauf, dass Dörfer wie Kleinstädte ihren
Mief verloren hätten und heute die meisten der Vorzüge
böten, die früher der Großstadt vorbehalten waren",
schreibt Gianna NIEWELO.
Warum jetzt? Es ist weniger das Dorf als die Kleinstadt, dem
die Ehrenrettung gilt. Die in der Flüchtlingskrise
überforderten Städte brauchen die Provinz zur Entlastung:
"In der öffentlichen
Wahrnehmung sind es die Städte, die sich um Flüchtlinge
kümmern (...).
Dabei sind langfristig vor allem auch die kleineren Kommunen
gefordert, weil dort Wohnraum vorhanden und bezahlbar ist.
In Rheinland-Pfalz nehmen die Landkreise etwa drei von vier
Asylbewerbern auf, auch in Baden-Württemberg überwiegt die
Unterbringung in Orten wie Weingarten oder Rottenburg. (...)
Die Provinz entlastet die Städte."
NIEWELO zitiert den
Humangeografen Gerhard HENKEL, um den Unterschied zwischen dem
statistischen Begriff "ländlicher Raum" und Provinz zu
verdeutlichen:
"Denn während die
Bezeichnung »ländliche Räume« eine statistische Größe ist -
weniger als 150 Menschen leben auf einem Quadratkilometer -,
ist der Provinz-Begriff für jeden frei interpretierbar. Für
den Berliner ist Düsseldorf Provinz, in Düsseldorf schaut
man auf Trier herab. Von wirklich dünn besiedelten Regionen
wie dem Bayerischen Wald, dem Allgäu oder dem Hunsrück ganz
zu schweigen."
Es ist noch nicht lange
her, da wurde in der SZ die Abschaffung der
Pendler-Pauschale gefordert, damit die Menschen vermehrt in
die Städte ziehen. Die Stadtflucht der (besserverdienenden)
jungen Familien sollte rückgängig gemacht werden.
Reurbanisierung wurde begrüßt. Jetzt - im Zeichen der
Flüchtlingskrise entdeckt man das Land. Warum nicht schon als
der demografische Wandel die Zukunft der Dörfer bedrohte?
Warum wurde nicht gegen die Zentralisierung der Arbeitsplätze
in den Ballungsräumen politisch vorgegangen?
Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland
sollte im Zeichen der Demografiepolitik ausgehebelt werden.
Nun also besinnt man sich wieder des ländlichen Raums, nachdem
das Leben in der Stadt zum Albtraum zu werden droht.