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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Die Rente vor dem Kollaps wegen dem Geburtenrückgang und der steigenden "Altenlast" in Deutschland?

 
       
   

Eine Bibliografie der Debatte um die Finanznot der Rentenversicherung (Teil 5)

 
       
       
     
   
     
 

Vorbemerkung

Die Rente steht seit Jahrzehnten vor dem Kollaps. Immer ist es die Altenlast, die zum Bankrott führen soll. Aber stimmt das überhaupt? Die folgende Bibliografie soll zeigen, dass der ewig währende Zusammenbruch des Rentensystems viele Ursachen hat, der demografische Wandel ist bislang kein Faktor gewesen. Der Zusammenbruch wurde bereits auf das Jahr 2000, auf 2010, auf 2020 und nicht zuletzt auf das Jahr 2030 datiert. Das Rentensystem hat sich tatsächlich verändert, aber war das eine Notwendigkeit der demografischen Entwicklung? Man darf das bezweifeln, wenn man die Debatte über die Jahrzehnte verfolgt und mit den Fakten vergleicht. Das soll diese Dokumentation ermöglichen. Die Kommentare spiegeln den Wissensstand des Jahres 2014 wieder. 

Kommentierte Bibliografie (Teil 5 - Die Jahre 2006 - 2009)

2006

BODE, Ingo (2006): Die Rente auf dem Markt.
Zur Organisation und Kultivierung der privaten Altersvorsorge,
in: Sozialer Sinn, Heft 1, S.107-130

Ingo BODE befasst sich mit den Folgen der Teilprivatisierung der Altersvorsorge und der Konsequenzen für die Haushalte:

"Die Überzeugung von der »schlichten Notwendigkeit« der privaten Altersvorsorge (Marschallek 2004) ist im politischen System fest etabliert und findet ihre Entsprechung in Medienkommunikationen, die auf verschiedene Weise (qua Ratgeberliteratur, Produktanalysen oder Expertendiskurse) signalisieren, dass die Sicherstellung einer ausreichenden Altersversorgung heute als eine persönliche Angelegenheit und Gegenstand strategischen Markthandelns zu begreifen ist."

BODEs Gegenstand ist die Dienstleistungsbeziehung zwischen individuellem Anleger und Finanzproduktanbietern. Dabei steht die Riester-Rente im Fokus, da der Autor davon ausgeht, dass die betriebliche Altersvorsorge zukünftig weiter an Bedeutung verlieren wird. Dabei ist bedeutsam, dass der Trend weg von garantierten Rentenzusagen ("defined benefits") hin zu einem vereinbarten Beiträgen ("defined contributions"). Dies bedeutet eine Risikoverlagerung auf den  individuellen Anleger. Gemäß BODE spielt bei solchen individuellen Vereinbarungen der Zufall eine große Rolle:

"Der (Individual-)Modus der Organisation privater Altersvorsorge impliziert zufallsbedingt uneinheitliche Marktzugänge."

Zu deutsch: Der Ertrag der privaten Altersvorsorge, den ein individueller Anleger erzielt, kann stark schwanken. Dabei spielt das individuelle Verhandlungsgeschick, die Auswahl an Finanzdienstleistern vor Ort usw. eine wichtige Rolle. BODE geht deshalb davon aus, dass es durch die Zufälligkeiten im Bereich der privaten Altersvorsorge zu sozialen Ungleichheiten quer zu "klassischen Schichtunterschieden" kommt.  

STAIGER, Martin (2006): Potemkins Rente,
in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2, Februar, S.203-212

STAIGER beschreibt die Folgen der Zunahme atypisch Beschäftigter:

"Obwohl die Zahl der Beschäftigten steigt, nimmt die Zahl der sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse rapide ab. So ist innerhalb eines Jahres, zwischen August 2004 und August 2005, die Zahl der Erwerbstätigen mit Arbeitsort in der Bundesrepublik um rund 113000 gestiegen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten dagegen sank im gleichen Zeitrum um rund 615000 auf etwa 26 Millionen Personen. So hat die Politik der Förderung atypischer Beschäftigungsverhältnisse dazu geführt, dass die Chance, ein ganzes Berufsleben lang sozialversichert beschäftigt zu sein, über die letzten Jahre kontinuierlich gesunken ist.
Damit schrumpft für eine wachsende Zahl von Menschen einerseits die Anwartschaft auf eine gesetzliche Rente und zum anderen die Möglichkeit nennenswert privat vorzusorgen."

Alternativen zur gegenwärtigen Situation im Rentensystem sieht STAIGER in der Steuerfinanzierung, Bürgerversicherung oder in der Wertschöpfungsabgabe.

NIEJAHR, Elisabeth (2006): Die Entdeckung des Alters.
Das Gute an der Rentendebatte: Die Deutschen merken, worauf es künftig ankommt,
in: Die ZEIT Nr.8 v. 16.02.

Elisabeth NIEJAHR verkündet, dass die Verlierer der vergangenen Rentenreformen - die Post-68er -  die Reformen widerstandslos abnickten:

"Schon die vergangenen Rentenreformen gingen den Babyboomern nie schnell und weit genug: Erst kämpften sie dafür, dass Helmut Kohl als Kanzler den demografischen Faktor in seine Rentenreform aufnahm. Später forderten sie Gerhard Schröder auf, das Rentenniveau möglichst weit abzusenken. All das schadete nicht den Rentnern von heute, sondern denen von morgen. Insgesamt, so die Berechnungen des Rentenexperten Bert Rürup, haben die Reformen von Kohl und Schröder zur Verringerung der Rentenansprüche um dreißig Prozent geführt. Verkehrte Welt: Die Verlierer nicken – und die anderen klagen."

KIRSCH, Guy & Klaus MACKSCHEIDT (2006): Arbeiten bis 90.
Warum eigentlich nicht? Einige Bemerkungen zu einem nach oben hin offenen Renteneintrittsalter,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.05.

KIRSCH & MACKSCHEIDT denken über die Möglichkeiten der Steigerung der Arbeitsfähigkeit und -willigkeit von älteren Arbeitnehmern nach. Ihr Ansatz ist das "Auseinanderklaffen von Leistungs- und Lohnkurve" in Zeiten des Hire und Fire, denn wenn Loyalität nichts mehr zählt und dauerhafte Arbeitsverhältnisse abnehmen (sollen), muss nach Ansicht der Autoren die Kluft zwischen Leistungs- und Lohnkurve geschlossen werden, d.h. sowohl jüngere als auch ältere Arbeitnehmer sollen weniger Lohn erhalten als Arbeitnehmer im mittleren Lebensalter. Arbeitslosigkeit von Jugendlichen, Älteren und Minderqualifizierten ist nach dieser Ansicht lediglich das Problem zu hoher Löhne.

Und wie erhöht man die Arbeitswilligkeit? Ganz einfach:

"Vielmehr könnte und sollte ein Teil der erworbenen Rentenansprüche des Betroffenen dazu verwendet werden, den Lohn so weit zu erhöhen, daß es sich für ihn lohnt, im Arbeitsverhältnis zu bleiben."

Diese Subvention der Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer verkaufen die Autoren als Win-Win-Situation. Die "Entstaatlichung des Lebens" wird zur Freiheit stilisiert, obwohl sie nichts anderes als Abhängigkeit vom Markt bedeutet.      

FASSHAUER, Stephan (2006): Besteht ein Zusammenhang zwischen Alterssicherungssystem und Geburtenrate?
Anmerkungen aus theoretischer und empirischer Sicht,
in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 6, Juni, S.305-324

Stephan FASSHAUER geht der Frage nach, ob - wie z.B. von Sozialpopulisten wie Jürgen BORCHERT, Hans-Werner SINN oder Martin WERDING behauptet, die Ausgestaltung des Alterssicherungssystem einen Einfluss auf die Geburtenrate hat. Verfechter einer Rente nach Kinderzahl behaupten in der Regel, dass das Rentensystem kein 3-Generationenvertrag sei, sondern lediglich 2 Generationen berücksichtige. Die Beweisführung wurde gemäß FASSHAUER bislang jedoch nur formal, aber nicht empirisch erbracht:

"Den Überlegungen von Schreiber und Nell-Breuning fehlte eine entsprechende formale und/oder empirische Begründung. Die modelltheoretische Begründung folgte erst mehrere Jahrzehnte später beispielsweise durch Klanberg oder Werding. Bei ihren Darstellungen stehen Auswirkungen eines 2- und alternativ hierzu eines 3-Generationenvertrages auf das Geburtenverhalten im Mittelpunkt.
Die theoretische, formale »Beweisführung« dafür, dass ein 2-Genertionenvertrag zu einer geringeren Geburtenrate führt als ein Generationenvertrag, der alle Lebensphasen berücksichtigt, ist gegenüber einem empirischen Beleg deutlich einfacher."

FASSHAUER kritisiert insbesondere zwei Aspekte einer solchen Sichtweise: zum einen das Fehlen einer optimalen Geburtenrate und zum anderen die Nicht-Quantifizierbarkeit der abgeleiteten Ergebnisse:

"Das Fehlen einer - wissenschaftlich fundierten - optimalen Geburtenrate im Hinblick auf die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt ist für die gesamte Familienpolitik, aber auch in besonderem Maße für alle humankapitaltheoretischen Ansätze mit dem Anspruch, konkrete Politikmaßnahmen draus ableiten zu wollen, ein wesentliches Manko. Bisher ist eine solche Bestimmung nicht gelungen. Die Diskussionen in Wissenschaft und Politik greifen deshalb meist auf das sog. Ersatzniveau von 2,1 Geburten pro Frau zurück. Diese Größe muss aber keinesfalls die gesamtwirtschaftlich optimale Geburtenrate sein. Die gesamtwirtschaftlich optimale Geburtenrate kann durchaus bei 1,4 oder auch bei 2,8 liegen - sie hängt eben nicht nur vom Altersicherungssystem, sondern noch von einer großen Anzahl weiterer Einflussgrößen (Arbeitsmarktbedingungen, Bildungspolitik, Kinderbetreuung, Wanderungsbewegungen, ...) ab. Damit wird zugleich deutlich, weshalb bisher eine gesamtgesellschaftlich optimale Geburtenrate nicht beziffert werden kann - es sind zu viele Einflussfaktoren zu beachten, die in einer modelltheoretischen Analyse nicht mehr handhabbar sind.
(...).
Hinzu kommt, dass die modelltheoretisch abgeleiteten Ergebnisse nicht quantifiziert werden können. (...) Anhaltspunkte dafür, welche Bedeutung das Alterssicherungssystem für den Kinderwunsch hat, lassen sich deshalb nicht aus der ökonomischen Theorie, sondern, wenn überhaupt, aus empirischen Untersuchungen ableiten. Bei diesen Studien wird explizit hinterfragt, warum die Menschen sich für Kinder entscheiden. Dabei wird deutlich, dass die Ausgestaltung des Alterssicherungssystems keinen oder höchstens nur einen sehr geringen Einfluss auf die Fertilitätsrate haben kann."

Aufgrund dieser Schwierigkeiten geht FASSHAUER einen anderen Weg. In Anlehnung an Jochen PIMPERTZ sollen "externe Effekte" von Kindern im Sozialversicherungssystem "internalisiert" werden. Weil jedoch die Berechnung realer externer Effekte nicht möglich ist, weshalb lediglich konstruierte, sog. "pekuniäre Effekte" berechnet werden. Es zeigt sich jedoch, dass auch hier das Problem einer optimalen Geburtenrate im Hinblick auf die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt besteht.

Aufgrund der Mängel aller dieser Herangehensweise flüchtet FASSHAUER in die Empirie und nimmt die Entwicklung der Geburtenrate zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Das ist wenigstens politisch korrekt, denn:

"Ausgangspunkt der Überlegungen zur Förderung von Familien in der Rentenversicherung ist nicht die Umsetzung eines »vollständigen Generationenvertrages« oder die Verwirklichung theoretischer Modelle, sondern (...) die Abnahme der Geburtenrate."

Einen Beleg dafür, dass das Alterssicherungssystem dafür verantwortlich ist, kann FASSHAUER nicht liefern. Stattdessen kritisiert er, dass die Berücksichtigung von familienpolitischen Leistungen im Rentensystem bei den Verfechtern einer Rente nach Kinderzahl unberücksichtigt bleiben. So gibt es Kindererziehungszeiten, Aufwertungen von Beitragszeiten bis zum 10. Lebensjahr von Kindern, Kinderberücksichtigungszeiten und Kinderzuschläge in der Witwen-/Witwerrente. Diese familienpolitischen Leistungen wurden in den letzten Jahrzehnten und Jahren sukzessive ausgebaut. Sein Fazit lautet deshalb:

"In Bezug auf die empirischen Untersuchungen zeigt sich, dass die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung für Erziehung von Kindern bereits erheblich sind, aber häufig unbeachtet bleiben. Auch die in zunehmendem Maße familienpolitischen Begünstigungen im Bereich der staatlich geförderten Zusatzvorsorge werden nicht adäquat berücksichtigt. Diese Kenntnisse sind wichtig, wenn konkrete Vorschläge für eine verstärkte Förderung von Kindern im Rentensystem diskutiert werden."

LOOSE, Brigitte L. (2006): Haben Kinderlose mehr Geld im Alter?
Alterseinkommen von Eltern und Kinderlosen im Vergleich,
in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 6, Juni, S.347-364

Aufgrund von Forderungen nach einer Rente nach Kinderzahl befasst sich Brigitte L. LOOSE mit der Einkommenssituation von Eltern und Kinderlosen.

"Datengrundlage für die folgende Analyse ist die für den aktuellen Alterssicherungsbericht der Bundesregierung (ASB) vorgenommene Sonderauswertung der Erhebung »Alterssicherung in Deutschland 2003« (ASID)."

Mit der Untersuchung werden also nur vor 1939 geborene Frauen erfasst, deren Lebensformen, Erwerbstätigkeiten und Kinderzahlen deutlich von denen jüngerer Frauenjahrgänge abweichen. LOOSE kommt für diese Frauengeneration zum Schluss, dass sich Eltern und Kinderlose kaum in ihrer sozioökonomischen Lage unterscheiden. Ihr Fazit:

"Die verkürzte These, dass Kinder generell ein Risiko für die Alterssicherung der Eltern darstellen, ist ebenso wenig durchgängig belegbar, wie die These, dass Kinderlose über eine bessere Absicherung im Alter verfügen.
Bei der kontrovers geführten öffentlichen Auseinandersetzung um Verteilungsfragen zwischen Familien und Kinderlosen geht es nicht um die Entdeckung einer neuen Kategorie sozialer Ungleichheit, sondern vielmehr um eine Wertedebatte. Diese läuft allerdings Gefahr, alt bekannte Kategorien sozialer Ungleichheit zu überdecken, die sich u.a. infolge geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und daraus resultierender Strukturen der Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt ergeben und damit hinter den bereits erreichten Stand geschlechtersensibler Analyse zurückfallen."

Die Autorin weist zudem daraufhin, dass die Einkommensdifferenzen zwischen Ost- und Westdeutschen in jeder Hinsicht größer sind als jene zwischen Eltern und Kinderlosen.

2007

RITTER, Gerhard A. (2007): Sozialpolitik in der deutschen Wiedervereinigung,
in: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 1, S.57-70

"Die Krise des deutschen wie auch des europäischen Sozialstaates hatte ihre tieferen Ursachen besonders in der Alterung der Bevölkerung, der Veränderung der Arbeitswelt durch den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, der Verschärfung des Wettbewerbs durch die Globalisierung und in Finanzierungsproblemen der Sozialpolitik. Sie wurde durch die Wiedervereinigung nicht hervorgerufen, aber doch entscheidend verschärft" (2007, S.58),

meint der Historiker Gerhard A. RITTER. Dies ist insofern falsch, weil der demografische Wandel zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung keinerlei Rolle spielt, sondern im Gegenteil - historisch gesehen - der Altenquotient extrem niedrig war. Welche Lasten den Arbeitnehmern dagegen durch die Übertragung des westdeutschen Rentensystems auf Ostdeutschland aufgebürdet wurden, das zeigen die Fakten recht deutlich:

"Zum Schutz des Besitzstandes der DDR-Rentner wurden sogenannte »Auffüllbeiträge« gezahlt, die zum 1. Juli 1992 91 Prozent der über 2 Millionen Rentnerinnen in einer Durchschnittshöhe von etwa einem Drittel des Nettozahlbetrages erhielten. Bei Männern waren die Zahl der Empfänger von Auffüllbeiträgen und deren durchschnittlicher Anteil an den Renten allerdings erheblich niedriger. Die Auffüllbeträge wurden nicht dynamisiert und ab 1996 in fünf Stufen bei Rentenanpassungen abgeschmolzen.
(...).
Die Masse der Rentner zählte zu den klaren Gewinnern der deutschen Einheit. Die durchschnittlichen Renten stiegen von monatlich 475 Ostmark im Juni 1990 im Zeitraum von vier Jahren um mehr als das Zweieinhalbfache auf 1.214 D-Mark an (BMAS 1998: 311).
(...).
Neben der Masse der Rentner zählten die Kriegsopfer, deren Versorgung in der DDR im Rahmen der allgemeinen Sozialversicherung auf einem sehr niedrigen Niveau geregelt worden war, zu den klaren Gewinnern der Einheit." (2007, S.63f.)

JÄGER, Manfred (2007): Rentenlücken in Deutschland,
in: IW-Trends, Nr. 1, S.65-76

JÄGER geht ganz selbstverständlich von der falschen Annahme aus, dass die Haushalte aufgrund der "demografischen Entwicklung" die Altersvorsorge zunehmend selbst in die Hand nehmen müssen. Wie Christian MARSCHALLEK jedoch aufzeigte, gibt es keinen solchen Sachzwang, sondern die Teilprivatisierung der Altersvorsorge ist ein politischer Akt, der einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit entspricht, die durch die politische Gesetzgebung einen strukturellen Zwang ausübt. Gewinner sind die Finanzdienstleister. In diesem Zusammenhang muss der Beitrag von JÄGER betrachtet werden. Er interpretiert Vermögenslücken als Rentenlücken, wobei er die 1960-1972 Geborenen betrachtet. Grundlage ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003.

Die Methode von JÄGER ist mehr als fragwürdig, denn sie beruht auf Annahmen über die weitere Entwicklung von Wirtschaft und Rentensystem über bis zu 3 Jahrzehnten. Ein Rückblick über die Gesetzesänderungen im Bereich der Rente der vergangenen 3 Jahrzehnten könnte davor bewahren, solche Rentenlücken-Prognosen allzu ernst zu nehmen. Sie dienen in erster Linie der Generierung von Profit im Bereich der Finanzdienstleistung durch Verängstigung der Bevölkerung und dem gleichzeitigen Verspechen die Lösung des Problems anbieten zu können.

Wie wir heute wissen, hat die Finanzkrise, die in dem Beitrag noch gar nicht berücksichtigt werden konnte, die Renditeaussichten stark verringert. Aus diesem Grunde sind die reinen Zahlenwerte obsolet. Ergiebiger ist bei solchen Rentenlückenberechnungen die Vorgehensweise und die Annahmen. Dabei stellt sich die zentrale Frage wie realistisch diese sind und ob es dabei Ausblendungen gibt. So ergibt sich z.B. aus dem Übergang zur nachgelagerten Besteuerung von Renten ein Problem, das in solchen simplen Modellen wie von Jäger nicht adäquat erfasst werden kann. Der Autor ist sich der Anfälligkeit seiner Berechnung bewusst, wenn er schreibt:

"Die Höhe der berechneten Rentenlücken hängt von zahlreichen Annahmen ab. Vor allem die Zielersatzquote, die Sparquote, die reale Rendite und das Alter beim Eintritt in die Rente beeinflussen das Ergebnis." 

DYK, Silke (2007): Kompetent, aktiv, produktiv?
Die Entdeckung der Alten in der Aktivgesellschaft,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.05.

Silke van DYK kritisiert den allzu vereinfachenden Wandel des Altersbildes, den sie der Gerontologie anlastet:

"Statt kritischer Reflexion der Implikationen und Ambivalenzen einer Aktivierung des Alters liefert die deutschsprachige wissenschaftliche Diskussion die Stichworte für eine entproblematisierende Weichzeichnung des aktiven Alters. Verhaftet im altenpolitischen Lobbyismus der gerontologischen Forschung und bemüht um eine Abgrenzung gegen Defizitvorstellungen des Alters wird die alltagspolitische Plausibilität des aktiven, erfolgreichen und produktiven Alters als erstrebenswerte Zielperspektive reproduziert und die in der Normalisierung der mittleren Lebensphase angelegte (...) Altersfeindlichkeit ausgeblendet."

Van DYK fordert entgegen dieser homogenisierenden Sicht die Kenntnisnahme der Heterogenität des Alters:

"Chancen und Risiken, Freiheiten und Einschränkungen sind (...) je nach sozialer Schicht, Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit - sehr unterschiedlich verteilt. Ein homogenisierender Blick auf das Alter wird der Facettenvielfalt des Alters, die nicht nur durch eine Pluralisierung der Lebensstile, sondern eben auch durch soziale Ungleichheit bedingt ist, nicht gerecht. (...). Eine kritische wissenschaftliche Rezeption der politischen Entdeckung des erfolgreichen und produktiven Alters sollte (...) an diesen Ungleichheiten ansetzen und zur Debatte stellen, inwiefern das propagierte Bild des produktiven Alter(n)s am Alltag einer kleinen, privilegierten Minderheit orientiert ist, deren (neue) Freiheiten zu (disziplinierenden) Normierungen für andere werden." 

KAUFMANN, Franz-Xaver (2007): Bevölkerungsrückgang als Problemgenerator für alternde Gesellschaften,
in: WSI-Mitteilungen, Heft 3, März, S.107-114

"Deutschland (erscheint) heute als demografisches »Pionierland«, und zwar hinsichtlich der Lowest Fertility, wie Demografen das Absinken der Fertilität unter einen Wert von 1,5 bezeichnen. Ab dieser Größenordnung wird es aufgrund eines demografischen Verstärkereffektes zunehmend schwieriger, den regressiven Trend umzukehren. (...). In dieselbe Richtung wirken auch (...) in Deutschland bereits empirisch beobachtbare Einstellungsänderungen (...). Und überdies scheint Kinderlosigkeit mit ihrer faktischen Verbreitung zunehmend auch normativ »salonfähig« zu werden. Dorbritz (2005) spricht sogar von einer entstehenden »Kultur der Kinderlosigkeit«. Etwa ab dem Geburtsjahrgang 1950 polarisiert sich die Bevölkerung in Deutschland in Familien und Kinderlose",

behauptet der Sozialstaatsforscher Franz-Xaver KAUFMANN eine Abwärtsspirale, die Ende der 1970er Jahre in noch rigiderer Fassung der Astronom SCHMIDT-KALER in Umlauf gebracht hat.

"Schon seit 1972 reichen die Geburten nicht mehr aus, um die Sterbefälle zu kompensieren, und ab ca. 2010 wird sich auch der kompensierende Effekt der Zuwanderung im bisherigen Umfang erschöpfen und die Bevölkerung aller Voraussicht nach zunächst geringfügig, aber allmählich immer stärker zurückgehen. Demografische Wachstums- und Schrumpfungsprozesse entfalten unter gleichbleibenden Annahmen eine zunehmende Wucht",

prophezeit KAUFMANN. Es waren jedoch die "gleichbleibenden Annahmen", die sich derzeit als falsch erwiesen haben. KAUFMANN prognostiziert die Alterslast sogar bis zum Jahr 2090, wobei er zwischen 60-80Jährigen und 80 Jahre und älteren Personen differenziert. Eine solche Fortschreibung muss zurecht als Kaffeesatzleserei bezeichnet werden.

BRÜNNING, N./MORITZ, H.-J./ÖTTL, S./THEWES, F./TUTT, C. (2007): Trickreiche Umverteilung.
Weil der Nachwuchs ausbliebt, wollen die Politiker den Jungen mehr geben, ohne den Älteren etwas zu nehmen,
in: Focus,
Nr.19 v. 07.05.

Ein Schaubild zeigt die Anzahl Lebendgeborener von 1970 bis 2004. Ein Text erläutert, dass im Vergleich zu 1970 32,6 % Kinder zur Welt kamen. Ein anderer Text erklärt dann:

"Bei einer Geburtenrate von 1,3 Kindern je Paar ist jede Generation um ein Drittel kleiner als die vorherige."

Ein weiteres Schaubild zeigt die Veränderung der Jungen zu den Alten in den Jahren 2003 bis 2005. Danach sind die unter 6-Jährigen um 4 % zurückgegangen, die 6-15-Jährigen ebenfalls, während die 65 Jahre und Älteren um 7 % zugenommen haben. Der Rückgang der Kinderzahlen wird als "Demographie-Dividende" bezeichnet, die zur Umverteilung für den Ausbau der Ganztagskinderbetreuung genutzt werden könne.

Einer Politik zu Gunsten der Jungen stehe jedoch eine wachsende Altenmacht entgegen:

"Eine Politik zu Gunsten der Jungen scheint zumindest bis etwa 2020 durchsetzbar. Dann erreichen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer die zwischen 1955 und 1965 geboren wurden, nach und nach das Rentenalter und schaffen so neue Mehrheiten im Wahlvolk. Sie werden mehr Investitionen für Ältere und in die Pflege verlangen."

Die Autoren zitieren deshalb Sachsens CDU-Ministerpräsidenten Georg MILBRADT, der ein Elternwahlrecht fordert. Das Schlusswort gehört dann dem Pessimismus des nationalkonservativen Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG. 

2008

FROMMERT, Dina/OHSMANN, Sabine/REHFELD, Uwe G. (2008): Altersvorsorge in Deutschland 2005 (AVID 2005).
Die neue Studie im Überblick,
in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 1, Januar, S.11-19

Der Beitrag macht insbesondere deutlich, dass die Datenlage zur Beurteilung künftiger Rentenleistungen mehr als unzureichend ist. So werden z.B. die Auswirkungen des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung nicht abgebildet. Es zeigt sich zudem, dass die Einführung der Rente mit 67 weniger zur Verlängerung der Erwerbsarbeitszeit geführt hat, sondern Zeiten der Arbeitslosigkeit bzw. Haushaltsführung zugenommen haben (vgl. MELZ 2008). Dies kommt einer Rentenkürzung gleich:

"Eine Verlängerung des Erwerbslebens führt (...) nicht zwangsläufig zu verlängerter Erwerbstätigkeit, sondern kann beispielsweise auch zu längerer Arbeitslosigkeit oder Haushaltsführung führen."

Die Studie AVID 2005 erfasst die Geburtsjahrgänge 1942-1961.

STRENGMANN-KUHN, Wolfang (2008): Altersarmut in Deutschland - empirische Bestandsaufnahme und sozialpolitische Perspektiven,
in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 1, Januar, S.120-133

Der Artikel zeigt, dass mit der Umstellung der Messung von Armut auch eine Neubewertung von Familie und Alter verbunden ist. Historische Vergleiche müssen deshalb berücksichtigen, dass mit dem Übergang von der "alten" zur "neuen" OECD-Skala, die Altersarmut gegenüber der Kinderarmut allein aufgrund des Messverfahrens geringer geworden ist:

"Werden die Armutsgrenzen auf Basis dieser beiden Äquivalenzskalen miteinander vergleichen, so liegt die von Alleinstehenden bei Verwendung der modifizierten OECD-Skala höher, während bei größeren Haushalten die Armutsgrenze unter Verwendung der ursprünglichen OECD-Skala höher ist. Das hat zur Konsequenz, dass im ersten Fall insbesondere Ältere, im zweiten Fall Kinder und Familien ein höheres Armutsrisiko haben."

Während im ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung noch die alte OECD-Skala verwendet wurde, wurde im dritten Armuts- und Reichtumsbericht die neue OECD-Skala verwendet.

Ein weiterer Aspekt ist, dass Untersuchungen danach beurteilt werden müssen, ob bei ihnen beim Vermögen Wohneigentum mitberücksichtigt wird:

"Im Unterschied zum SOEP wird bei den Ergebnissen der Europäischen Union der Mietwert eigenen Wohnraums (noch) nicht zum Einkommen gezählt. Dies soll erst ab 2007 der Fall sein, weil dieser erst dann in allen Ländern erhoben wird, was insbesondere für die ältere Bevölkerung, die häufiger über eigenes Wohneigentum verfügt, zu Verzerrungen führt."

Auch für STRENGMANN-KUHN ist der Altenquotient für die Entwicklung des Rentensystems weniger aussagekräftig als nicht-demografische Faktoren:

"Das double aging (Verringerung der Geburtenzahlen und gleichzeitig Erhöhung der Lebenserwartung) führt bekanntermaßen dazu, dass der  Altenquotient in den nächsten Jahrzehnten stark steigen wird. Der Altenquotient ist allerdings nur ein Einflussfaktor für die Stabilität der Rentenversicherung. Die Rendite (...) ist die Lohnsummenwachstumsrate bzw. allgemeiner: der Anstieg der Einkommenssumme, für die Beiträge gezahlt wird. Es ist also nicht nur die rein demografische Entwicklung von Bedeutung, sondern erstens die Entwicklung der Anzahl der Beitragszahlerinnen und -zahler, weswegen allein durch die Erhöhung des Renteneintrittsalters eine erhebliche Entlastung erfolgt. Zweitens spielt die Entwicklung des Einkommens, das verbeitragt wird, eine ebenso wichtige Rolle."

Nicht die Erhöhung des Renteneintrittsalter ist von Bedeutung wie STRENGMANN-KUHN behauptet, sondern die Entwicklung des faktischen Renteneintrittsalter, denn die Erhöhung des Renteneintrittsalters könnte genauso gut zu mehr Arbeitslosigkeit älterer Menschen führen, wobei dazu auch die sogenannte "verdeckte Arbeitslosigkeit" gezählt werden muss.

Entscheidend ist jedoch, dass die Veränderung der Rentenformel den Zielkonflikt zwischen Beitragssatzstabilität (Kapitalinteresse) und Lebensstandardsicherung (Arbeitnehmerinteresse) zugunsten der Beitragssatzstabilität auflöst und damit das Rentenniveau an Faktoren anbindet, deren Entwicklung ungewiss ist:

"Die Politik hat (...) insbesondere durch die Veränderung der Rentenformel die Entwicklung der Beitragssätze weitestgehend stabilisiert (...). Faktisch wurde damit eine Abkehr von einem Defined-benefit-System eingeleitet, also ein »Übergang von einer 'ausgabenorientierten Einnahmenpolitik' zu einer 'einnahmenorientierten Ausgabenpolitik'« (Rürup 2005: 31). Die Folge ist allerdings, dass das zu erwartende Rentenniveau erstens sinken und zweitens unsicher werden wird".

Zum Schluss zeigt STRENGMANN-KUHN Alternativen zur gegenwärtigen Ausgestaltung des Rentensystems auf. 

REIL-HELD, Anette (2008): Verteilungsaspekte der Altersgrenzenanhebung,
in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 1, Januar, S.134-145

"Der deutsche Bundestag hat im Frühjahr 2007 das RV-Altersanpassungsgesetz verabschiedet, wodurch die Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre angehoben wird. Diese Reformmaßnahme ist eine adäquate Reaktion auf die Alterung der Bevölkerung",

meint REIL-HELD vom Mannheim Research Institute for Economics of Aging (MEA), das vom Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) gesponsert wird.

"Der Rentnerquotient, der das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen beschreibt, wird neuesten Berechnungen zufolge von etwa 50 Prozent in 2005 auf rund 70 Prozent in 2040 ansteigen (Börsch-Supan und Wilke 2007). (...).
Eine Ursache für die Entwicklung ist der deutliche und sehr erfreuliche Anstieg der Lebenserwartung, der auch weiterhin anhalten wird. Umstritten ist nur das Ausmaß des künftigen Anstiegs. Das Statistische Bundesamt geht beispielsweise in seiner neuesten 11. koordinierten Bevölkerungsprognose bis 2050 bei Männern von einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung von 7,6 Jahren in seiner Basisannahme und von sogar 9,5 Jahren in der optimistischeren Variante aus. Damit wird die Lebenserwartung von Männern in 2050 85,4 Jahre und von Frauen 89,8 Jahre betragen. Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung geht von einem noch stärkeren Anstieg der Lebenserwartung auf deutlich über 90 Jahre aus (Schnabel, Kistowski und Vaupel 2005). Börsch-Supan und Wilke (2007) ermitteln durch eine Fortschreibung der nach dem 2. Weltkrieg beobachtbaren Trends Werte, die mit 85,7 bzw. 91,7 Jahren zwischen den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes und des Max-Planck-Insituts liegen."

Aufgrund der Annahme, dass eine steigende Lebenserwartung auch mit einer besseren Gesundheit einhergeht, sieht REIL-HELD eine "dynamische Sichtweise" angebracht, die auch als "New Age Thinking" bezeichnet wird. Demnach werden flexible Altersquotienten angenommen, die dem Anstieg der Lebenserwartung angepasst werden:

"Die Abgrenzung der Bevölkerung im Rentenalter verschiebt sich hierdurch beispielsweise von heute 60 Jahren auf 66 Jahre in 2050, die Altersgrenze der Hochbetagten von 85 auf 93 Jahre in 2050. Bei dieser »lebenserwartungsgemäßen« Betrachtung sieht die Alterung der Bevölkerung weit weniger dramatisch aus als bei der statischen Sichtweise. Der Altersquotient steigt in deutlich geringerem Ausmaß. (...). Dies verdeutlicht zum einen, dass die gelegentlich dramatisierend »Vergreisung« genannte Entwicklung der Bevölkerungsstruktur nicht nur eine Frage der Zahlen, sondern vor allem der Sichtweise ist."

REIL-HELD kritisiert die Ausnahmeregelungen von der Rente mit 67, da damit versicherungsfremde Leistungen verbunden seien, die nicht dem Beitragsäquivalenzprinzip entsprechen.

Dass die Lebenserwartung stark mit dem sozioökonomischen Status zusammenhängt, d.h. Geringverdiener früher sterben, ist für REIL-HELD kein Problem:

"Die Problematik wird dadurch gemindert, dass bei Versicherten mit niedrigem Einkommen die Wahrscheinlichkeit größer ist, frühzeitig erwerbsgemindert zu werden. (...). Die »Wegtypisierung«, d.h. die Nicht-Berücksichtigung des individuellen Risikos ist ein zentrales Merkmal der Sozialversicherung. Deshalb werden beispielsweise auch Frauen nicht anders behandelt als Männer (...) und Berufsgruppen mit hohem Erwerbsminderungsrisiko mit einem Beitragszuschlag belegt."       

MELZ, Jörg (2008): Der neue Zwang zur Altersarbeit,
in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2, Februar, S.8-12

MELZ befasst sich u.a. mit den Nicht-Erwerbstätigen innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung, die bei der Betrachtung der Altenlast unberücksichtigt bleiben, aber zur Finanznot der Rentenversicherung - neben der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse - wesentlich beitragen:

"Die beiden Hauptformen zur Entlastung des Arbeitsmarktes sind die Frühverrentung und der »erleichterte Leistungsbezug« von Arbeitslosengeld für Personen ab 58 Jahre. Beide Formen haben sich in den letzten Jahren gegenläufig entwickelt. Während die Frühverrentung rapide zurückgedrängt wurde, nahm seit 1999 der »erleichterte Leistungsbezug« für Personen ab 58 Jahre zu. Dabei handelt es sich um nichts anderes als um verdeckte Arbeitslosigkeit. Aktuell beziehen 435000 ältere Personen Arbeitslosengeld I und rund 150000 Personen Arbeitslosengeld II. Diese Personengruppe steht dabei dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung und wird auch nicht als arbeitslos in der Statistik geführt. Andernfalls würde die Arbeitslosenzahl der Älteren bei 1,5 Millionen liegen und wäre allein dadurch doppelt so hoch wie die Arbeitslosenquote der unter 50jährigen. Zählt man die 1,5 Millionen Frührentner noch hinzu, entlasten beide Formen der verdeckten Erwerbslosigkeit den Arbeitsmarkt um rund drei Millionen Personen."

Der Soziologe Christian MARSCHALLEK hält deshalb die Betrachtung des Nicht-Erwerbstätigen-Quotienten (NEQ) als aussagekräftiger als den Altenquotienten, der üblicherweise zur Begründung der Notwendigkeit privater Altersvorsorge herangezogen wird.  

KONIETZKA, Dirk & Esther GEISLER (2008): Sozialstruktur und Demografie,
in: Soziologische Revue, Heft 2, April, S.160-169

In ihrer Sammelbesprechung zu Büchern über den demografischen Wandel kritisieren KONIETZKA & GEISLER die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme. Anhand verschiedener Bevölkerungsvorausberechnungen zeigen sie Irrtümer und Fehlschlüsse auf:

"Horstmann/Hage hatten in ihrer Veröffentlichung im Jahr 1953 das in der Mitte der 1950er-Jahre herannahende »golden age of marriage« und den einsetzenden Geburtenboom nicht auf dem Bildschirm. Tatsächlich waren die 50er- und 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem Rückgang des Erstheiratsalters, universaler Heiratsneigung und steigenden Geburtenraten in vielerlei Hinsicht eine demografische Ausnahmephase (vgl. auch Ehmer, 51, 118). Das Beispiel zeigt weiterhin, dass selbst in einem relativ kurzen Prognosezeitraum (sieben Jahre vom Jahr der Veröffentlichung an gerechnet) massive Fehlprognosen nicht auszuschließen sind. Das Beispiel von Schwarz (1963) illustriert ebenfalls das Problem einer verlässlichen Vorausberechnung von Geburtenzahlen. Nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung seiner Daten setzte ein Umbruch im Bereich von Fertilität und Familie ein, der bis heute in weiten Teilen Europas das demografische Verhalten prägt. Es hat weitere zwanzig Jahre gedauert, bis dieser Wandel als dauerhaftes Phänomen registriert und als »zweiter demografischer Übergang« theoretisch auf den Begriff gebracht wurde."

Am Beispiel der Fehlinterpretation der Geburtenrate (TFR) in Ostdeutschland und am Beispiel der Debatte um Kinderlosigkeit zeigen die Autoren weitere Irrtümer auf. Selbst in Sachen der Altersstruktur sind Bevölkerungsvorausberechnungen mit Vorsicht zu betrachten, denn wenn man wie SANDERSON & SCHERBOV (2007) zwischen retrospektivem und prospektivem Alter unterscheidet, dann ist nicht mehr klar, ob die Bevölkerung gealtert oder nicht vielmehr jünger geworden ist:

"In Westdeutschland ist Sanderson/Scherbov (44) zu Folge das retrospektive Medianalter der weiblichen Bevölkerung zwischen 1960 und 2000 von 37,0 auf 41,1 Jahre gestiegen, während das prospektive Medianalter dagegen im gleichen Zeitraum von 40,1 auf 37,3 Jahre gesunken ist."

Angesichts des beschriebenen Umgangs mit demografischen Kennzahlen konstatieren KONIETZKA & GEISLER:

"Wir registrieren mit einem gewissen Befremden, wie wenig reflektiert in der aktuellen Debatte auf demografische Maßzahlen und wie häufig auf vermeintlich objektive Daten, die keiner genaueren empirischen Überprüfung standhalten, zurückgegriffen wird." 

HOCKERTS, Hans Günter (2008): Neuere deutsche Alterssicherungspolitik.
Die Epoche der dynamischen Rente währte von 1957 bis 2001. Was sie einst allein erreichen sollte, dürfte künftig nur noch in Kombination mit betrieblicher und privater Altersvorsorge möglich sein: die Sicherung des erarbeiteten Lebensstandards. Der Rückblick auf die Rentenreformen der deutschen Nachkriegsgeschichte gerät daher zu einem Nachruf,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.04.

Der Historiker Hans Günter HOCKERTS skizziert die Geschichte der zentralen Rentenreformen von 1957 bis 2001. Er sieht in dem Missbrauch des Rentensystems im Zuge der Wiedervereinigung (Beitragssatzerhöhung statt Steuererhöhung aufgrund der Vereinigungsprobleme sowie Frühverrentungspraxis) ein Hauptproblem der Finanzprobleme des Rentensystems in den 1990er Jahren. Vor diesem Hintergrund muss die Teilprivatisierung der Altersvorsorge gemäß HOCKERTS gesehen werden:

"Insgesamt drangen drei Faktoren mit Macht auf eine Neuvermessung der Alterssicherung: das Interesse der Anbieter und Vermittler von Finanzmarktprodukten, das Streben nach einer Senkung der Lohnnebenkosten und der »demographische Faktor«. In diesem Spannungsfeld bildete sich die »neue deutsche Alterssicherung« heraus, die sich seit 2001 in der langfristigen Senkung des gesetzlichen Rentenniveaus bemerkbar macht." 

DROBINSKI, Matthias (2008): Die Rente und der Neid,
in: Süddeutsche Zeitung v. 22.04.

"Es ist die Tragik der in den Baby-Boomer-Jahren zwischen 1960 und 1968 Geborenen, dass sie nun unter der Abgabenlast stöhnen und in 25 Jahren als Rentenproblem in die Geschichte eingehen werden. Dann erst werden die wahren Probleme der Alterssicherung zutage treten, wird die Rentenfinanzierung an ihre Grenzen geraten, die Altersarmut zunehmen", meint Matthias DROBINSKI.

FAIK, Jürgen (2008): Sehen die Jungen alt aus?
Generative Aspekte von Wohlstand,
in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 5, Oktober, S.419-434

Jürgen FAIKs Anliegen ist die Rechtfertigung der Rente mit 67 als Beitrag zu mehr Generationengerechtigkeit. Dabei werden die real existierenden Generationenbeziehungen jedoch nur sehr eingeschränkt betrachtet, wie der Autor gleich zu Beginn zugeben muss:

"Tiefergehende Untersuchungen zu den Generationenbeziehungen in Deutschland müssten auch noch den Familienkontext, das Pflegethema, geschlechterbezogene Aspekte, den Erwerbs- und Gesundheitsstatus usw. berücksichtigen."

Da dies unterbleibt, sind seine theoretischen Ausführungen über Generationengerechtigkeit als Teil sozialer Gerechtigkeit, zwar erhellend, aber für die empirische Beweisführung irrelevant. Der Begriff "Generationengerechtigkeit" wird stattdessen als reiner Kampfbegriff benutzt.

FAIK behauptet, dass die Generationengerechtigkeit eine Querschnitts- und Längsschnittperspektive aufweist, d.h. er vermischt Altersgruppen- und Kohortengruppenanalyse, obgleich Generationengerechtigkeit nur als Kohortenbegriff Sinn macht, denn ansonsten wäre sie überflüssig und könnte durch den traditionellen Begriff der sozialen Gerechtigkeit ersetzt werden. Erklären lässt sich diese "pragmatische Sicht" lediglich durch die unzureichende Datenlage, denn während das sozioökonomische Panel (SOEP) Längsschnittbetrachtungen ermöglicht (was nicht heißt, dass der Survey auch lediglich als Querschnitt benutzt werden könnte), basieren die Einkommens- und Verbrauchsstichproben lediglich auf Querschnittsbetrachtungen.

Das Konzept der Generationengerechtigkeit erfasst FAIK durch das Renditekonzept, d.h. ein reines Längsschnittsmaß:

"Die Rendite ergibt sich dabei rechnerisch als derjenige Zinssatz, bei dem der Barwert der Beiträge aus der Sicht eines Versicherten z.B. zu Beginn seines Erwerbslebens (oder z.B. zum Verrentungszeitpunkt) dem Barwert der Renten entspricht. Diesen Zinssatz nennt man internen Zinssatz."

Das Sinken der Renditen der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) ist für FAIK identisch mit den Folgen der Auswirkungen des demografischen Wandels, d.h. alle nicht-demografischen Faktoren wie die Funktionsbedingungen des Wirtschaftssystems bzw. des Arbeitsmarkts werden ausgeblendet. Die kritische Sozialwissenschaft bezeichnet solch eine Sichtweise als Demografisierung gesellschaftlicher Probleme.

Stattdessen zeigt sich, dass das Renditekonzept eigentlich kein Kollektivkonzept ist, wie es die Betrachtungsweise "Generationengerechtigkeit" nahe legt, sondern ein individuelles Risikokonzept. So führt der Autor auf, dass die Rendite keineswegs per se sinkt, sondern z.B. geschlechtsspezifische Differenzen aufweist:

"Im geschlechtsbezogenen Vergleich zeigt sich, dass - unabhängig vom Renteneintritt - Frauen im Durchschnitt jeweils höhere Renditen im Sinne höherer interner Zinssätze als ledige Männer aufweisen. Die vergleichsweise höhere Rendite bei Frauen ergibt sich daraus, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der weiblichen (Standard-)Rentenbezieher höher als jene der männlichen (Standard-)Rentenbezieher ist."

Man könnte also gleichfalls Renditen für unterschiedliche sozioökonomische Statusgruppen oder unterschiedliche Lebensformen errechnen. Oder anders ausgedrückt: Das Renditekonzept im Sinne von Generationengerechtigkeit zu interpretieren setzt voraus, dass sich die Bevölkerungsstruktur (Anteil der Frauen/Männer, Anteil der Einkommensgruppen usw.) nicht verändert, denn dann würde sich auch die Rendite verändern. Dies aber wird nicht berücksichtigt, sondern die Bevölkerungsstruktur wird implizit fortgeschrieben. Ganz davon abgesehen, dass eine veränderte Altersstruktur auch eine veränderte sozioökonomische Struktur impliziert.

FAIK beschreibt die Vermögens- und Einkommensungleichheit unterschiedlicher Altersgruppen in der Vergangenheit und schreibt diese Erkenntnisse in die Zukunft fort. Vor dem Hintergrund von Brüchen, wie sie z.B. die Finanzmarktkrise darstellt, zeigen sich die Schwächen einer solchen Sicht: Sie kann veränderte Rahmenbedingungen wie sie durch die Enttäuschung der Renditeversprechungen faktisch eingetreten sind, nicht berücksichtigen, weshalb das Konzept der Generationengerechtigkeit in den letzten Jahren an Plausibilität stark eingebüßt hat.

Am Ende des Beitrags räumt der Autor deshalb ein, dass alles auch ganz anders kommen könnte. 

2009

BERNER, Frank/LEISERING, Lutz/BUHR, Petra (2009): Innenansichten eines Wohlfahrtsmarktes.
Strukturwandel der privaten Altersvorsorge und die Ordnungsvorstellungen der Anbieter,
in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 1, März, S.56-89

BERNER u.a. beschreiben die Sicht von Neil GILBERT ("enabling state") und Franz-Xaver KAUFMANN ("Steuerungsstaat") auf den Umbau des Sozialstaats. Die private Altersvorsorge beschreiben die Autoren als Wohlfahrtsmarkt, der nicht als Dienstleistungs- Güter- oder Arbeitsmarkt fungiert, sondern als Finanzmarkt, der wiederum untergliedert ist in Altersvorsorgemärkte, Beratungsmärkte und Finanzmärkte im eigentlichen Sinne. Dieser Wohlfahrtsmarkt zielt auf "Einkommenssicherheit im Alter" ab, die wiederum durch unterschiedliche Marktsegmente gewährleistet werden soll. BERNER u.a. unterscheiden 5 Unternehmenstypen im Bereich der Altersvorsorgemärkte: Lebensversicherungsunternehmen, Pensionskassen, Pensionsfonds, Banken und Kapitalanlagegesellschaften. Die Autoren beschreiben wie sich der Wohlfahrtsmarkt durch die Riester-Reform 2001 ausdifferenziert hat.

MATTHES, Nadja/KOWALSKI, Matthias/HIRZEL, Joachim/OBST, Anja/SCHÖNSTEIN, Jürgen/SCHWAB, Fritz (2009): Keine Angst um die Rente - aber gesund bleiben.
Überraschende Erkenntnis: In Deutschland lösen sich viele Probleme der Sozialsysteme in Zukunft quasi von selbst. Nur in der Kranken- und Pflegeversicherung scheinen die Kosten auf Dauer kaum finanzierbar,
in: Focus,
Nr.25 v. 15.06.

Die Autoren referieren eine PROGNOS-Studie. Im Jahr 2025 haben sich die Mentalitäten der Deutschen an die Sachzwänge angepasst und arbeiten frohgemut länger:

"Die Bevölkerungsentwicklung ist eindeutig und sehr vorhersehbar: Wer heute nicht geboren ist, kann 2025 keinen Rentner im Ruhestand ernähren. Der Anteil der über 65-Jährigen an der Erwerbsbevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren steigt um fast zehn Prozentpunkte auf 40 Prozent an. Ein schwacher Trost, dass Japaner und Finnen die Alterung ihrer Gesellschaften mit 49 bzw. 41 Prozent noch härter trifft".

Das Alterseinkünftegesetz von 2005, mit dem die nachgelagerte Rentenbesteuerung eingeführt wurde, wird gelobt, weil es die Spielräume für die private Altersvorsorge erhöht. Die Finanzdienstleister wird das freuen...

 
     
 
       
   

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Update: 06. Februar 2019