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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Die Rente vor dem Kollaps wegen dem Geburtenrückgang und der steigenden "Altenlast" in Deutschland?

 
       
   

Eine Bibliografie der Debatte um die Finanznot der Rentenversicherung (Teil 6)

 
       
       
     
   
     
 

Vorbemerkung

Die Rente steht seit Jahrzehnten vor dem Kollaps. Immer ist es die Altenlast, die zum Bankrott führen soll. Aber stimmt das überhaupt? Die folgende Bibliografie soll zeigen, dass der ewig währende Zusammenbruch des Rentensystems viele Ursachen hat, der demografische Wandel ist bislang kein Faktor gewesen. Der Zusammenbruch wurde bereits auf das Jahr 2000, auf 2010, auf 2020 und nicht zuletzt auf das Jahr 2030 datiert. Das Rentensystem hat sich tatsächlich verändert, aber war das eine Notwendigkeit der demografischen Entwicklung? Man darf das bezweifeln, wenn man die Debatte über die Jahrzehnte verfolgt und mit den Fakten vergleicht. Das soll diese Dokumentation ermöglichen. Die Kommentare spiegeln den Wissensstand des Jahres 2014 wieder. 

Kommentierte Bibliografie (Teil 6 - Die Jahre 2010 - 2014)

2010

SCHMÄHL, Winfried (2010): Soziale Sicherung im Lebenslauf - Finanzielle Aspekte in längerfristiger Perspektive am Beispiel der Alterssicherung in Deutschland. In: Gerhard Naegele (HG) Soziale Lebenslaufpolitik, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S.550-582

Winfried SCHMÄHL stellt die Argumente vor, mit denen die Verlagerung der Finanzierungsverfahren der Alterssicherung hin zur privaten Altersvorsorge betrieben wird. Er macht darauf aufmerksam, dass in der Debatte um die Lebensstandardsicherung meist unberücksichtigt bleibt, dass die private Altersvorsorge im Gegensatz zur staatlichen Rente keine Dynamisierung besitzt, was bei längeren Ruhestandsspannen der Lebensstandardsicherung zuwiderlaufen kann.

Am Konzept der Generationengerechtigkeit kritisiert SCHMÄHL, dass dieses statt mit Längsschnittsdaten mit Querschnittsdaten belegt wird. Dabei wird unzulässigerweise von Altersgruppen auf Kohorten geschlossen, wodurch Verzerrungen entstehen.

Detailliert geht SCHMÄHL auf die Auswirkungen von sozialen Risiken wie Arbeitslosigkeit, Erkrankung, Invalidität, Kindererziehung, Pflege, Tod des Ehegatten, Selbständigkeit, Inflations- und Langlebigkeitsrisiken, demografische bzw. politische Risiken sowie die Förderung privater Vorsorge und ihren Einfluss auf die Sicherung und Verstetigung des Einkommens im Alter ein. Insbesondere wird auf die Risiken privater Altersvorsorge hingewiesen, da diese in der Vergangenheit häufig vernachlässigt bzw. zu niedrig veranschlagt wurden. In den letzten Jahren fand zudem eine Risikoverlagerung statt:

"Die Verlagerung von staatlicher zu privater Alterssicherung ist generell verbunden mit einer Verlagerung von Risiken
- vom Staat direkt zu den privaten Haushalten sowie
- von Arbeitgebern zu Arbeitnehmern/-innen"

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALREFORM-Debatte: Soziale Gleichheit im Sozialstaat

LECHEVALIER, Arnaud (2010): Generationengerechtigkeit und Rentenreform am Beispiel der Rentenanpassungsformel,
in: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 3 v. 01.09.

2012

HILPERT, Dagmar (2012): Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten? Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

HILPERT befasst sich in ihrem Buch mit dem Zeitraum 1949 - 1975, der als "Blütezeit des Wohlfahrtsstaats" bezeichnet wird. Deren Merkmal war

"nicht mehr die Beseitigung akuter Notlagen, sondern (...) die Absicherung breiter Schichten der Bevölkerung". (S.30)

HILPERT beschränkt sich auf drei Politikfelder: die Alterssicherung, die Familien- und die Wohnungspolitik:

"Alterssicherung stellte im Untersuchungszeitraum den ersten, Ehe und Familie den drittgrößten Posten des Sozialbudgets dar. Gleichzeitig waren die Rentner die größte Gruppe unter den Transferbeziehern, Familien seit Einführung des allgemeinen Kindergeldes 1974 die zweitgrößte." (S.29)

Daneben nimmt HILPERT auch den Sozialstaat als Berufsfeld in den Blick:

"Das letzte Kapitel der Studie »Mittelschichten des Wohlfahrtsstaats: Beschäftigungsfelder und beruflicher Aufstieg« (...) erörtert die Folgen, die sich für die Sozialstruktur aus der Expansion wohlfahrtsstaatlicher Berufe und Tätigkeitsfelder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergaben." (S.33)

Auf diesen Aspekt hat der Soziologe Berthold VOGEL mit seinem Buch Wohlstandskonflikte aufmerksam gemacht. VOGEL betrachtet die Mittelschicht deshalb als Profiteur dieser Entwicklung. HILPERT unterscheidet dementsprechend zum einen die Mittelschicht als Leistungsempfänger und zum anderen als Leistungserbringer.

In der Rentenpolitik sieht HILPERT nicht die Rentenreform von 1957, mit der die dynamische Rente eingeführt wurde als Höhepunkt, sondern die Rentenreform von 1972:

"Mit der Rentenreform von 1972 und den Beschlüssen zur Öffnung der Rentenversicherung auch für freie Berufe entwickelte sich die Mitgliedschaft in der Rentenversicherung allmählich zum »Normalfall«. Ende der achtziger Jahre erhielten 11,3 Millionen Personen Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Ingesamt bezogen 1989 in Westdeutschland 86 Prozent der Männer und Frauen über 65 Jahre eine staatliche Rente oder Pension. Die sog. »zweite Rentenreform« von 1972 stellte den Höhepunkt der Rentengesetzgebung in der Bundesrepublik dar. Sie sorgte mit der Einführung der Rente nach Mindesteinkommen und einer weiteren Erhöhung der durchschnittlichen Rentenleistungen für eine Verstetigung des Prozesses der »Vermittelschichtung« der Rentner." (S.338)

HILPERT sieht die Mittelschichten als Profiteure des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates. Dabei spielen gemäß HILPERT hinsichtlich der Abgabenlast vor allem zwei Gestaltungsprinzipien eine wichtige Rolle:

"Erstens waren Arbeiter generell sozialversicherungspflichtig; sie mussten Pflichtbeiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze zahlen. Angestellten hingegen stand es teilweise frei, in der Sozialversicherung zu bleiben oder ihre soziale Sicherung auf andere Weise zu betreiben. Zweitens überschritten Angestellte häufig die Beitragsbemessungsgrenze, womit der obere Teil des Einkommens sozialabgabenfrei blieb. Das war bei Arbeitern so gut wie nie der Fall." (S.342)

Bei HILPERT findet sich jedoch auch der Mythos vom demografischen Wandel wieder, wenn sie behauptet:

"Der Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt wird in der Forschung allgemein als Zäsur gewertet. Bis dahin war der Ausbau des Sozialstaats (...) beschleunigt worden. Mit der Rezession (...) und der nachfolgenden Periode reduzierten Wachstums verringerten sich die Einnahmen der Sozialversicherung, aber auch des Bundes und der Länder. Gleichzeitig vergrößerte sich die Nachfrage nach Sozialleistungen, bedingt durch steigende Arbeitslosigkeit, aber auch aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft."

Während der Anteil der Erwerbsfähigen (20-60Jährigen) von 1975 bis 1985 um 5,3 % stieg, erhöhte sich der Anteil der Älteren 60 + lediglich um 0,4 %. 1980 lag er sogar mit 19,5 % unter dem Wert von 1975. Der "Altenlast" ist also geringer geworden in jenen Jahren, in denen die Kostendämpfungspolitik betrieben wurde. Man betrieb diese Politik im Hinblick auf die Alterung nach der Jahrtausendwende, aber nicht aufgrund der angeblich damaligen Alterung der Gesellschaft. (S.347)

"Nachdem die Kürzungs- und Konsolidierungspolitik 1983/84 ihren Höhepunkt erreicht hatte, folgten bis 1989 wider expansive Schritte. Diese betrafen mit der Einführung eines Erziehungsgeldes und eines Erziehungsurlaubs für Väter und Mütter sowie mit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten als rentenerhöhende Beitragszeiten in der Rentenversicherung vor allem den Bereich Familienpolitik. Damit wurden Versäumnisse der vorangegangenen Jahrzehnte nachgeholt",

schreibt HILPERT. Man kann dies jedoch auch ganz anders sehen: den Beitragszahlern wurden versicherungsfremde Leistungen aufgebürdet, das Auslaufmodell Hausfrauenehe wurde hoch subventioniert, während die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verhindert wurde und somit der Anstieg der ungewollten Kinderlosigkeit beschleunigt wurde.

Die Überforderung der Rentenversicherung durch die Deutsche Einheit beschreibt HILPERT folgendermaßen:

"Die Wiedervereinigung 1990 stellte einen dramatischen Einschnitt in die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung der Bundesrepublik dar. (...). Ein großer Teil der Kosten und Folgekosten der deutschen Einheit wurde (...) auf die Kassen der Sozialversicherung abgewälzt. Das hatte nicht nur steigende Beitragssätze zur Folge und verteuerte die Arbeitskosten, sondern führte auch zu einer überproportionalen Belastung der unteren und mittleren Schichten." (S.348)

Nicht der demografische Wandel, sondern die Überforderung der Rentenversicherung durch versicherungsfremde Leistungen war also die Ursache für die Finanzprobleme in den 1990er Jahren.  

WEHLAU, Diana (2012): Rentenpolitik unter Druck. Einflussnahme und Lobbying der Finanzbranche am Beispiel der Riester-Rente. In: Christoph Butterwegge/Gerd Bosbach/Matthias W. Birkwald (Hrsg.) Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt a/M/New York: Campus Verlag, S.204-224

Diana WEHLAU beschäftigt sich mit der Frage, wie es den Lobbyisten der Finanzleistungsbranche gelungen ist, im System der Rentenversicherung an Einfluss zu gewinnen:

"Gegen Ende der 1990er Jahre verlor die »alte« rentenpolitische »Policy-Community« (...) deutlich an Stabilität, Geschlossenheit und Konstanz. Der Sozialbeirat - die vormals zentrale Instanz der rentenpolitischen Politikberatung in Deutschland - hatte im Zuge der Rentenreform 1992 seine zentrale Stellung im »Policy-Netzwerk« eingebüßt. Auch die Gewerkschaftsbewegung war geschwächt (...). Zugleich öffnete sich das Netzwerk sowohl institutionell-personell für neue Akteure, die auf das Politikfeld drängten, als auch normativ für neue rentenpolitische Konzeptionen: Die ministerielle Monopolstellung des Arbeits- und Sozialministeriums in der Rentenpolitik fußte bis dahin maßgeblich auf der überragenden Bedeutung der GRV im Gesamtsystem der Alterssicherung. (...). Spiegelbildlich erfuhren die zweite und die dritte Säule im Gesamtsystem eine Aufwertung und mit der Einführung der Riester-Rente seit 2001 auch eine direkte Förderung.
Die Zulassung und Regulierung kapitalgedeckter, individueller Vorsorgeprodukte wie auch Fragen der steuerlichen Förderung von Beiträgen zur privaten Altersvorsorge fallen (...) nicht in den Kompetenzbereich des Bundesarbeitsministeriums. Stattdessen ist in diesen Bereichen das Bundesfinanzministerium fachlich zuständig. (...). Das Finanzministerium firmierte in der Folge bei der Rentenreform 2001 erstmals als relevanter und impulsgebender Akteur auf diesem Politikfeld." (S.207f.)

Mit dem Regierungswechsel 1998 zu Rot-Grün sieht WEHLAU eine Ablösung der Verfechter des Sozialversicherungspraradigmas durch Verfechter des Mehr-Säulen-Paradigmas. Mit der Nichtberücksichtigung von Rudolf DREßLER und Winfried SCHMÄHL sowie der Einsetzung von Walter RIESTER als Arbeits- und Sozialminister sieht WEHLAU einen entscheidenden Schritt zur Durchsetzung des Mehr-Säulen-Paradigmas. Gleichzeitig gewannen die Branchenverbände der Finanzdienstleister, d.h. der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), der Bundesverband deutscher Banken (BdB) und der Bundesverband Investment- und Asset Management (BVI) Einfluss auf die Gesetzgebung in Anhörungsverfahren und Stellungnahmen. Außerdem bestanden personelle Verflechtungen zwischen Mitgliedern der Finanzausschüsse durch Nebentätigkeiten in der Versicherungswirtschaft. WEHLAU beschreibt zudem wie sich die Parteispendenpraxis veränderte:

"Die rot-grünen Koalitionsparteien hatten bis zu ihrem Regierungsantritt überhaupt keine Großspenden der Finanzbranche erhalten. Als sie aber die Stärkung der privaten Altersvorsorge angekündigt hatten, wurden sie mehrfach mit Großspenden bedacht." (S.218)

Als Wissenschaftslobbying bezeichnet WEHLAU die Unterstützung der Finanzbranche nahestehender Thinktanks, zu denen das Deutsche Institut für Altersvorsorge (DIA) und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) gehören." Die Autorin beschreibt auch die Rolle von Wissenschaftlern wie Bernd RAFFELHÜSCHEN und Bert RÜRUP.

WEHLAU sieht in der Teilprivatisierung der Altersvorsorge ein lukratives Geschäft für die Finanzbranche, die aufgrund des Börsenhypes um die Jahrtausendwende auch ein "finanzmarktfreundliches" Umfeld zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen konnte.

RÜRUP, Bert & Dirk HEILMANN (2012): Fette Jahre. Warum Deutschland eine glänzende Zukunft hat, München: Hanser

Dem Trend folgend, dass Schlechte-Laune-Titel nicht mehr gut ankommen, verpacken die Autoren ihre Empfehlungen zu weiteren Sozialreformen in schönfärberische Propaganda. So heißt z.B. eine Herausforderung Sozialversicherungssysteme und Arbeitsmarkt auf das Altern und Schrumpfen der Bevölkerung vorbereiten. »«

"Die durchschnittliche Geburtenzahl liegt in Deutschland seit den 1970er Jahren bei knapp 1,4 Geburten pro Frau und damit etwa ein Drittel unter dem Niveau von 2,1 Geburten, das die Bevölkerungszahl stabil halten würde. Ihren bisherigen Tiefpunkt hat diese Zahl 2006 mit nur 1,32 Geburten pro Frau erreicht. Von dort aus ist sie bis 2010 immerhin wieder auf 1,39 angestiegen" (S.183),

behaupten die Autoren. Das stimmt noch nicht einmal für das wiedervereinte Deutschland, denn 1994 lag die Geburtenrate bei 1,25. Aber die Lüge hat Logik, denn 2007 wurde das Elterngeld eingeführt, das RÜRUP empfohlen hatte.

"Eine deutlich geringere Bedeutung als die Geburtenrate und Lebenserwartung für die Größe und Altersstruktur der Wohnbevölkerung in Deutschland haben die Wanderungsbewegungen. Nachdem in den vorangegangenen 20 Jahren per Saldo noch fast 6 Millionen Menschen ins Land eingewandert waren, verliert Deutschland seit 2008 Menschen." (S.185)

Dumm gelaufen, denn bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist Deutschlands Bevölkerung - gegen jede Prognose - gewachsen: Von 2011 bis 2013 kamen wesentlich mehr Zuwanderer als zuvor.

"Eine wichtige Messgröße für die Struktur einer Gesellschaft ist der Altenquotient - dies ist das Verhältnis der Personen im Rentenalter, also über 65 Jahren, zu den potentiellen Erwerbspersonen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren. Entfielen 1991 in Deutschland auf 100 Menschen im Erwerbsalter noch 24 Menschen im Rentenalter, so waren es 2008 schon 34 Personen. 2030 werden der Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zufolge auf 100 Aktive 53 Rentner kommen." (S.185)

Der Altenquotient ist keine festgesetzte Relation, sondern RÜRUP & HEILMANN definieren ihn - ohne Begründung - als das Verhältnis der 15-65 Jährigen zu den 65 Jährigen und Älteren. Der Altenquotient ist auch keine wichtige Messgröße für die Struktur einer Gesellschaft, sondern er dient lediglich der Rechtfertigung von Renten- und sonstigen Sozialreformen. So sind die wenigsten 15Jährigen derzeit erwerbsfähig, noch sind in Zukunft alle über 65 Jährigen Rentner, da ja inzwischen - wie selbst die Autoren wissen müssten - die Rente mit 67 eingeführt ist.

Die Autoren verweisen mit ihren Zahlen zum Altenquotienten auf die Broschüre Demografischer Wandel in Deutschland, Heft 1, 2011. Dort werden die Erwerbspersonen jedoch als 20-65Jährige definiert und nicht wie die Autoren behaupten als 15-65Jährige (vgl. S.26, 2011). Die Entwicklung basiert auf der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Variante Untergrenze mittlere Bevölkerung (1-W1)(vgl. S.9, 2011). Diese Variante ist längst überholt. Sie nahm einen Zuwanderungsüberschuss von 100.000 an, während dieser inzwischen beim 3fachen Betrag liegt. Außerdem soll die Geburtenrate konstant bei 1,4 liegen und sich das durchschnittliche Gebäralter zudem um 1,6 Jahre erhöhen.   

Handlungsbedarf sehen RÜRUP & HEILMANN bei der Gesetzlichen Rentenversicherung erst ab 2030, denn schließlich hat RÜRUP dafür gesorgt, dass die Rente auf eine Grundsicherung hinauslaufen wird. Einzig der Beitragssatz von 22 % war den Reformern wichtig. Dieser ist jedoch zum einen von der Entwicklung sozialversicherungsfähiger Arbeit und zum anderen von der Belastung der Rentenversicherung mit versicherungsfremden Leistungen abhängig.

In Zukunft soll zum einen das Renteneintrittsalter weiter auf 69 Jahre angehoben werden und zum anderen die Erwerbsquoten erhöht werden. Die Autoren stützen sich dabei auf eine Bevölkerungsvorausberechnung, deren Annahmen zu erläutern, sie nicht nötig finden:

"Die mittlere Bevölkerungsprojektion des Statistischen Bundesamtes sagt voraus, dass in den nächsten Jahrzehnten der Rückgang der Personen im erwerbsfähigen Alter gut dreimal so stark sein wird wie der der gesamten Bevölkerung. Die Gesamtbevölkerung wird danach bis 2030 um 5 Prozent auf 77 Millionen, die Zahl der 20 bis 65-Jährigen jedoch um 15 Prozent auf 42 Millionen schrumpfen." (S.202)

FOCUS -Titelgeschichte: Mehr Geld im Alter.
Was jetzt passieren wird und wie Sie profitieren

KOWALSKI, Matthias/THEWES, Frank/WEBER, Herbert (2012): Mehr Geld im Alter!
Minirenten und Niedrigzinsen: Im Ruhestand drohen immer größere Löcher. Nun will die Politik mit einer Renten-Revolution das Problem entschärfen,
in: Focus,
Nr.17 v. 23.04.

"Gegen das persönliche Loch im Alter hilft vor allem eins: mehr Arbeit – auch aus purer Not",

heißt das Motto des Focus-Titels. Ursula von der LEYEN vollstreckt mit ihrem Rentenpaket gemäß dieser Sicht nur den Willen des Volkes. Zuschussrente und Kombirente sollen dies attraktiver machen.

"Ab 2013 verliert Deutschland alle drei Jahre eine Million Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren, hat das Institut zur Zukunft der Arbeit errechnet. Um den aktuellen Wohlstand zu halten, müsse jeder Deutsche im Schnitt eine Stunde mehr arbeiten – pro Tag. Trost der Forscher: Die zusätzliche Überstunde wird bezahlt",

verkündet der Focus. Dies ist natürlich völliger Unsinn, weil kaum ein 15-20-Jähriger arbeitet und auch zwischen 55 und 64 Jahre das faktische Renteneintrittsalter viel niedriger ist als das gesetzliche. Nicht mitgerechnet jene, die zwar erwerbsfähig, aber nicht -tätig sind.

Ganz am Ende des Beitrags erfährt der Leser dann, dass das Rentenpaket keineswegs beschlossene Sache ist. Von wegen Renten-Revolution! Rückblickend eher ein Renten-Flop.  

BÖLL, Sven/BRAUNS, Sebastian/DETTMER, Markus/SAUGA, Michael/SEITH, Anne (2012): In der Vorsorgefalle.
Das Niveau der gesetzlichen Rente schrumpft, Lebensversicherungen, Aktien oder Fonds werfen immer weniger Rendite ab: Vielen Bürgern, die vom goldenen Ruhestand träumen, droht ein böses Erwachsen,
in: Spiegel Nr.37 v. 10.09.

BÖLL u.a. verschanzen sich hinter der Sachzwanglogik der steigenden Lebenswertung und des Geburtenrückgangs, wobei sie Trends über 50 Jahre hinweg fortschreiben, als gäbe es keine Brüche bzw. nicht-demografische Faktoren:

"Noch in den sechziger Jahren bezogen Rentner im Schnitt zehn Jahre lang Altersgeld. Heute dauert ein typisches Rentnerleben fast doppelt so lang, und nichts spricht dafür, dass sich der Trend umkehren könnte. Im Gegenteil: Die Fortschritte von Medizin, Hygiene und Ernährung lassen die Lebenserwartung weiter steigen, prognostizieren die Experten, und zwar in nahezu ungebrochenem Tempo.
Was die meisten Menschen als Errungenschaft begrüßen, ist für private und staatliche Versicherungen eine schlechte Nachricht. Von einem »steigenden Langlebigkeitsrisiko« ist die Rede, das die Kosten in der Branche erhöht. Im Jahr 2060 müssen die Versicherungen Männern voraussichtlich bis zu 25 Jahre Rente überweisen, Frauen werden ihr Altersgeld sogar bis zu 27 Jahre beziehen.
Das steigert die Armutsgefahr, denn das Niveau der gesetzlichen Rente sinkt. Um die Folgen des Geburtenrückgangs aufzufangen, haben die Bundesregierungen seit Ende der neunziger Jahre die Rentenformel mehrfach korrigiert und die gesetzliche Altersgrenze auf 67 Jahre angehoben. In der Folge wird das Altersgeldniveau von derzeit 51 Prozent des letzten Nettogehalts auf 43 Prozent im Jahr 2030 schrumpfen.
"

Weder hat der Geburtenrückgang, noch hat die steigende Lebenserwartung die bisherigen Rentenreformen erzwungen, sondern die mit der kapitalistischen Wirtschaftsform verbundenen Konjunkturprobleme, die Massenarbeitslosigkeit der Babyboomer, die Frühverrentung der 68er-Generation, die Abwälzung der Lasten der Deutschen Einheit auf die Beitragszahler und die Ausbreitung des Niedriglohnsektors, um nur die wichtigsten Aspekte zu nennen.

Seit der Finanzmarktkrise wird nun sichtbar, dass die Kapitaldeckung keineswegs die Renditen bringt, die der jungen Generation als Anreiz versprochen wurden. Die Finanzbranche hat sich verspekuliert und das Kapital der Anleger verzockt. Die Konsequenzen trägt jedoch nicht die Finanzbranche, sondern sie werden auf die Anleger abgewälzt.

Die Autoren sehen aus der "Krise" einzig das Weiter-so-wie-bisher als Ausweg, wobei das Heil - nach den enttäuschten Erwartungen durch die Entwicklung des Finanzmarktes - nun noch stärker im Arbeitsmarkt gesehen wird. Ob der Arbeitsmarkt jedoch durch die in ihn gesetzten Erwartungen nicht überfordert wird, diese Frage ist für die Autoren tabu. 

DETTMER, Markus & Peter MÜLLER(2012): Unbeirrt rabiat.
Union: Mit ihrer Warnung vor einer Rentenapokalypse hat sich Ursula von der Leyen isoliert. Doch die Arbeitsministerin will nicht einlenken. Eher würde sie zurücktreten,
in: Spiegel Nr.37 v. 10.09.

DETTMER & MÜLLER kritisieren die von Ursula von der LEYEN angezettelte Rentendebatte um Altersarmut und die als Lösung propagierte Zuschussrente:

"Unbeirrt rabiat tritt von der Leyen im Rentenstreit seit Wochen auf. Anfang August hatten die Experten der Deutschen Rentenversicherung ihr Urteil über von der Leyens Gesetzesentwurf an das Ministerium geschickt. Es war ein 34-seitiger Verriss. Die Zuschussrente sei »in ihrer Zielsetzung unklar, in ihren Auswirkungen nicht zielgenau und hinsichtlich der Finanzierung nicht systemgerecht«. Von der Leyen war das egal."

2013

KOHLI, Martin (2013): Alter und Altern der Gesellschaft, in: Steffen Mau & Nadine M. Schöneck (Hg.) Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Teilband 1, Springer Verlag, S.11-24

"»Altern der Gesellschaft« wird heute gewöhnlich als demografischer Begriff verstanden (und nicht mehr als geschichtsphilosophischer): Er bezieht sich auf das zunehmende quantitative Gewicht der älteren Altersgruppen in der Gesamtbevölkerung (und nicht mehr auf die Vorstellung von Aufstieg und Niedergang einer Gesellschaft). Meist wird dies durch den Anteil derjenigen über einer bestimmten Altersgrenze (z.B. 60 oder 65 Jahren) gemessen, zuweilen auch durch das Verhältnis von Älteren zu Jüngeren (etwa in Form der »Belastungsquoten« - eines Begriffs, der insofern irreführend ist, als er das höhere Alter einseitig nur als gesellschaftliche »Last« auffasst)",

kritisiert KOHLI die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme oder in seinen Worten: der Naturalisierung:

"Naturalisierung heißt, dass von Menschen geschaffene gesellschaftliche Ordnungen sich als etwas Natürliches präsentieren; anders gesagt, dass Selbstverständlichkeit durch den Rekurs auf Biologisches gewonnen wird."

Im internationalen Vergleich sieht KOHLI den Alterungsgrad zwischen jenem der USA und Japan:

"In den USA wird sich der Anteil der über 65-Jährigen - ausgehend von 1960 - bis 2050 mehr als verdoppeln, in Deutschland fast verdreifachen und in Japan, das derzeit unter diesen Gesellschaften den schnellsten Alternsprozess aufweist, mehr als versechsfachen."

Unverständlich ist, dass der Beitrag noch die Ergebnisse der 11. statt der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung zitiert:

Im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der sozialen Systeme sind jedoch nicht nur die Anteile relevant, sondern auch die absoluten Zahlen. Nach den Ergebnissen der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung - mit konstanter Fertilität und einem jährlichen Wanderungssaldo von 100000 (Variante 1-W1) - wird die deutsche Gesellschaft als ganze bis 2050 von 81,9 auf 68,7 Millionen schrumpfen, die Zahl der Älteren (über 65) dagegen von 15,9 auf 22,9 Millionen zunehmen. Besonders stark ist der Zuwachs bei den über 80-Jährigen, nämlich von 4,3 auf 10,0 Millionen (Statistisches Bundesamt 2006)."

Dazu kommt, dass die Variante 1-W1 aufgrund der derzeit weit höheren Zuwanderung wenig realistisch ist. Auch die Konstanthaltung der Geburtenrate bis 2050 ist keineswegs realistisch.

KOHLI differenziert zwischen einem dritten ("junge Alte") und einem vierten ("alte Alte") Lebensalter, deren Grenze meist bei 75 oder 80 Jahren gesehen wird:

"Das dritte Alter wird durch historisch neue Merkmale - selbständige Lebensführung und neue Ziele - typisiert, während das vierte die Merkmale des früheren dritten annimmt - Rückzug und zunehmende Hinfälligkeit"

Den Begriff des "produktiven Alters" sieht KOHLI als Kampfbegriff gegen Altersdiskriminierung:

"Der Begriff »produktives Alter«, in den USA entstanden, ist inzwischen auch in Europa gebräuchlich (ErlinghagenHank 2008; Künemund 2006). Im weiteren Sinne wird er genutzt, um darauf hinzuweisen, dass auch im Alter Aktivität und Engagement einen großen Platz einnehmen. Damit soll der ausschließlichen Typisierung der Älteren als Leistungsempfänger oder gar Schmarotzer des Sozialstaates - die den öffentlichen Diskurs über »Generationengerechtigkeit« (intergenerational equity) prägt - der Boden entzogen werden."

Im Gegensatz zu typischen Kritik am deutschen Korporatismus, der um die Jahrtausendwende mit dem Begriff "Reformstau" gebrandmarkt wurde, sieht KOHLI ausgerechnet darin den Grund, dass es keine ernstzunehmende Interessenorganisation der Älteren gibt.

KOHLI weist zudem auf die Europäisierung der Rentenpolitik hin, die auf eine Verringerung der Frühverrentung hinausläuft:

"Als Teil ihrer Lissabon-Strategie setzte sich die EU im Jahre 2000 das Ziel, bis 2010 für die 55-65-jährige Bevölkerung eine Erwerbstätigenquote von 50 Prozent zu erreichen. Das schien damals vielen Beobachtern ein allzu ehrgeiziges Ziel zu sein. Heute zeigt sich, dass viele Länder dieses Ziel erreicht haben, darunter einige - wie Deutschland - mit einer erheblichen Zunahme, die man als klare Trendumkehr werten kann. Die Erwerbsbeteiligung der 60-65-jährigen Männer ist in Deutschland von 2000 bis 2010 von 30,3 Prozent auf 53,4 Prozent gestiegen, die der gleichaltrigen Frauen relativ gesehen sogar noch mehr, nämlich von 12,9 Prozent auf 35,4 Prozent. Auch bei den 55-60-Jährigen hat sich eine Zunahme ergeben: von 76,0 Prozent auf 84,4 Prozent für die Männer und von 55,9 Prozent auf 70,2 Prozent für die Frauen (Statistisches Jahrbuch 2011:90).

Bei der Verlängerung der Lebensarbeitszeit muss zwischen gesetzlichem und faktischem Renteneintrittsalter unterschieden werden:

Die Heraufsetzung des Rentenalters in Deutschland auf 67 Jahre wird in Zukunft zu einer weiteren Erhöhung der Erwerbsbeteiligung unter den Älteren führen. Eine höhere Altersgrenze ist allerdings nicht einfach nur durch einen Gesetzesakt realisierbar. Damit sie sich faktisch durchsetzen kann, muss es zu einem erheblichen strukturellen Umbau der Arbeitsorganisation kommen."

SCHMÄHL, Winfried (2013): Gründe für einen Abschied von der "neuen deutschen Alterssicherungspolitik" und Kernpunkte einer Alternative. In: Reinhard  Bispinck/Gerhard Bosch/Klaus Hofemann/Gerhard Naegele (HG) Sozialpolitik und Sozialstaat, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S.391-412

Winfried SCHMÄHL bezeichnet mit der "neuen deutschen Alterssicherung" die Gesetze, die mit der Riester-Reform 2001 ihren Beginn nahmen. Die dadurch entstehende "Vorsorgelücke" sollte den Börsen und Finanzdienstleistern ein Boom bescheren.

SCHMÄHL weist darauf hin, dass selbst die zusätzliche private Altersvorsorge zukünftig die Lebensstandardsicherung nicht ermöglicht, da sowohl durch das Nachhaltigkeitsgesetz 2004 als auch durch die nachgelagerte Besteuerung auf Alterseinkünfte das Niveau der Alterseinkünfte weiter gesenkt wurde. Eine Notwendigkeit für die neue deutsche Alterssicherung sieht SCHMÄHL - trotz des demografischen Wandels - nicht:

"Eine Erhaltung der GRV mit Lohnersatzfunktion bei hinreichendem Leistungsniveau wurde zwar politisch aus dem Katalog der für diskussionswürdig erachteten Möglichkeiten ausgeschlossen. Dennoch ist diese Alternative durchaus ökonomisch realisierbar unter realistischen Annahmen sogar weitgehend mit den postulierten Obergrenzen für den Beitragssatz vereinbar." (S.406)

Die Politik hat jedoch inzwischen Fakten geschaffen, die sich kaum mehr zurückdrehen lassen:

Bis "2009 ist das Leistungsniveau der GRV, gemessen am Zielwert der Netto-Eckrente aus dem »Rentenreformgesetz 1992«, bereits von 70 auf 63 Prozent gesunken, also um sieben Prozentpunkte bzw. zehn Prozent. Dieses Niveau liegt inzwischen unter dem, was mit dem »demographischen Faktor« der Kohl-Regierung als unterster Wert vorgesehen war und welcher von der rot-grünen Regierung als unsozial abgelehnt worden war." (S.406)

SCHMÄHL kritisiert, dass die Gewerkschaften gegen die Rente mit 67 statt gegen das Sinken des Rentenniveaus gekämpft haben. 

WERDING, Martin (2013): Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik und neue Reformen. Wie das Rentensystem stabilisiert werden kann, Bertelsmann-Stiftung: Gütersloh

WURZBACHER, Ralf (2013): "Und solche Leute beraten die Politiker…".
Bertelsmann-Stiftung frisierte Statistiken zur Bevölkerungsentwicklung – und wurde dabei erwischt. Gespräch mit Gerd Bosbach,
in:
junge Welt v. 22.03.

Gerd BOSBACH über den Verbreitung von falschen Zahlen zur Alterung in Deutschland durch die neoliberale Bertelsmann-Stiftung, die die Studie "Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik und neue Reformen: Wie das Rentensystem stabilisiert werden kann" in Auftrag gegeben hat:

"Ralf Wurzbacher: Wie kann Medienprofis solch ein Schnitzer unterlaufen?
Gerd Bosbach: Das waren keine Medienleute, sondern die Demographie-Experten von Bertelsmann. Die Zahlen sind so was von unplausibel, allein wenn man bedenkt, daß es um den bundesweiten Durchschnitt gehen soll. Für einzelne Regionen hieße das bis zu 90 Prozent über 64jährige. Das müßten Fachleute doch sehen! Also entweder waren das von eigenen Ängsten total verblendete Leute oder Bösewichter, die mit aller Macht die Rente erst ab 69 durchpeitschen wollen. Ich weiß es nicht. Aber Angst macht mir, daß die Politiker auf solche Leute hören."

LESSENICH, Stephan/DENNINGER, Tina/DYK, Silke van/RICHTER, Anna (2013): Gibt es ein Leben nach der Arbeit?
Zur diskursiven Konstruktion und sozialen Akzeptanz des "aktiven Alters",
in: WSI-Mitteilungen, Heft 5, S.321-328

LESSENICH/DENNINGER/DYK/RICHTER beschreiben in dem Beitrag sechs Sozialfiguren des Nacherwerbslebens:

(1) Der zufriedene Ruheständler (...) ist männlich, Akademiker mit einem überdurchschnittlichen Haushaltseinkommen und selbst gewählt aus qualifizierter Beschäftigung in den vorzeitigen Ruhestand gegangen. Die Kritiker einer produktivistischen Aktivierung des Alters sind unter den zufriedenen Ruheständlern besonders häufig vertreten.
(2) Der geschäftige Ruheständler hat hingegen ein überaus negatives Ruhestandsverständnis, mit dem eine positive Orientierung auf Facetten des Unruhestands korrespondiert. (...). Der geschäftige Ruheständler erweist sich mithin als Busy Talker, der sich trotz niedrigen Aktivitätsgrades und -radius als »nicht so richtig rentnertypisch« wahrnimmt - obwohl sein Alltag ruheständlerischer kaum sein könnte. Er ist eine männliche Sozialfigur, verfügt eher über eine nicht-akademische Ausbildung sowie über ein leicht unterdurchschnittliches Haushaltseinkommen.
(3) Die verhinderte Ruheständlerin erweist sich in diesem Lichte besehen als das genaue Gegenmodell: Sie hat dem zufriedenen Ruheständler vergleichbar eine positive Ruhestandsorientierung, ohne diese jedoch praktisch umzusetzen. Stattdessen ein hochgradig heteroproduktives, auf (...) andere gerichtetes Leben als »Super-Helferin« (...). Die verhinderte Ruheständlerin ist weiblich, westdeutsch und dem nicht-akademischen Milieu zugehörig.
(4) Die Unruheständlerin (...). Im Zentrum ihres Handelns steht autoproduktives, selbstbezogenes Engagement (...), für die es - als Bildungsbürgerin - wichtig ist, nach einem Leben voller Familien- und Erwerbspflichten endlich Zeit für sich zu haben.
(5) Der/die Produktive (...) hebt die Bedeutung und Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagements hervor. (...). Anders als die anderen von uns identifizierten Sozialfiguren des Nacherwerbslebens weist der/die Produktive keine augenfälligen sozialstrukturellen Merkmale auf.
(6) Die Gebremste schließlich erweist sich als Gegenpart zur verhinderten Ruheständlerin, fallen bei ihr doch gleichfalls Orientierungsrahmen und Praxis in extremer Weise auseinander, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen (...), wobei insbesondere finanzielle Prekarität, Ausgrenzungserfahrungen im ehrenamtlichen Kontext und Einschränkungen durch den Ehemann eine maßgebliche Rolle spielen. Die Sozialfigur der Gebremsten ist weiblich und verfügt über ein deutlich unterdurchschnittliches Haushaltseinkommen."
(2013, S.326f.)

DÜNN, Sylvia & Rainer STOSBERG (2013): Vom "Rentendialog" zum Entwurf des Alterssicherungsstärkungsgesetzes - Die Reformdiskussion 2011 bis 2013,
in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 2, Juni, S.139-154

DÜNN & STOSBERG betrachten die aktuelle Legislaturperiode im Hinblick auf die Umsetzung der rentenpolitischen Vorhaben des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und FDP vom 26. Oktober 2009. 2011 kam es nicht zur Einsetzung einer Regierungskommission, sondern es wurde ein "Rentendialog" begonnen. Es wurde ein Reformkonzept beschlossen, in dem die Einführung einer "Zuschuss-Rente", die Anpassung der Hinzuverdienstgrenzen bei vorzeitigem Rentenbezug ("Kombirente") und die Verbesserung der Absicherung bei Erwerbsminderung geplant war. Die Reformvorhaben werden dabei aus Sicht des Rentenversicherungsträgers bewertet.

STAIGER, Martin (2013): Abbau per Verwaltungsakt: Vom Sozial- zum Bittstellerstaat,
in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11, November, S.69-74

STAIGER beklagt die Verhinderung des Leistungsbezugs bei Hartz IV-Empfängern. So lehnt die DRV häufig Anträge auf Erwerbsminderung ab, sodass Widersprüche und Klagen vor dem Sozialgericht notwendig werden, um dem Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. STAIGER sieht deshalb den Sozialstaat auf dem Weg zum Bittstellerstaat.

SINN, Hans-Werner (2013): Das demographische Defizit - die Fakten, die Folgen, die Ursachen und die Politikimplikationen,
in: ifo Schnelldienst, Nr. 21 v. 05.11.

Der nationalkonservative Ökonom Hans-Werner SINN plädiert für ein Elternwahlrecht und eine Rente nach Kinderzahl, denn:

"Gerade auch die untere Mittelschicht der Gesellschaft, die früher hohe Geburtenraten aufwies, hat in der Kinderlosigkeit einen Weg entdeckt, den materiellen Aufstieg zu schaffen." (S.15)

Verschwiegen wird jedoch, dass mit der Einführung des Elterngeldes im Jahr 2007 gerade die obere Mittelschicht des Akademikermilieus gegenüber dem Rest der Gesellschaft begünstigt werden sollte.

GREIVE, Martin & Dorothea SIEMS (2013): Mit mir nicht!
SPD und Union planen teure Rentenleistungen. Das geht zulasten künftiger Beitragszahler, die ohnehin durch den Generationenvertrag benachteiligt sind. Protestschreiben eines Kindes,
in:
Welt am Sonntag v. 24.11.

Generationengerechtigkeit ist ein Kampfbegriff der Finanzbranche, um sich neue Einnahmequellen zu erschließen. Dazu gesellt sich meist noch das Phantom des "Medianwählers". Dieser ominöse Wähler trennt angeblich die Interessen der jungen von alten Wählern. Tatsächlich sind die Interessen der älteren Wähler keineswegs homogen, denn je älter die Menschen werden, desto heterogener sind deren Lebensverhältnisse.

Wie heterogen die Interessen der sogenannten Babyboomer sind, zeigt allein, dass Babyboomer wie Dorothea SIEMS, Jahrgang 1963, oder Bernd RAFFELHÜSCHEN, Jahrgang 1957, zu den Lobbyisten der Finanzbranche gehören. Sie gehören außerdem zur Phantomgemeinschaft des Medianwählers.

Im Gegensatz zum scheinbaren Generationenkonflikt (die Autoren bekämpfen ja nur den "öffentlichen" und nicht den "privaten" Generationenvertrag), trennt der Klassenkonflikt also der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, die Generationen tatsächlich.

Um dies zu verschleiern, machen sich die Autoren zu scheinbaren Anwälten zukünftiger Generationen. Dabei hat inzwischen selbst der prominente Soziologe Heinz BUDE, selbsternannter Anwalt des neuen Bürgertums, Abschied von der Generationengerechtigkeit genommen.

 
     
 
       
   

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Update: 10. Februar 2019