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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Die Rente vor dem Kollaps wegen dem Geburtenrückgang und der steigenden "Altenlast" in Deutschland?

 
       
   

Eine Bibliografie der Debatte um die Finanznot der Rentenversicherung (Teil 4)

 
       
       
     
   
     
 

Vorbemerkung

Die Rente steht seit Jahrzehnten vor dem Kollaps. Immer ist es die Altenlast, die zum Bankrott führen soll. Aber stimmt das überhaupt? Die folgende Bibliografie soll zeigen, dass der ewig währende Zusammenbruch des Rentensystems viele Ursachen hat, der demografische Wandel ist bislang kein Faktor gewesen. Der Zusammenbruch wurde bereits auf das Jahr 2000, auf 2010, auf 2020 und nicht zuletzt auf das Jahr 2030 datiert. Das Rentensystem hat sich tatsächlich verändert, aber war das eine Notwendigkeit der demografischen Entwicklung? Man darf das bezweifeln, wenn man die Debatte über die Jahrzehnte verfolgt und mit den Fakten vergleicht. Das soll diese Dokumentation ermöglichen. Die Kommentare spiegeln den Wissensstand des Jahres 2014 wieder.

Kommentierte Bibliografie (Teil 4 - Die Jahre 2000 - 2005)

2001

ULRICH, Volker & Winfried SCHMÄHL (2001): Demographische Alterung in Deutschland - Ein Überblick, in: Dieselben (Hg.) Soziale Sicherungssysteme und demographische Herausforderungen, Tübingen: Mohr Siebeck, S.1-19

"Angesichts dieser langfristig stabilen Zusammenhänge enthält die Prognose bis zum Jahr 2050 (...) keine Überraschungen. Als wahrscheinlich wird die Entwicklung angesehen, daß die gegenwärtige Geburtenhäufigkeit in den alten Bundesländern auch zukünftig Gültigkeit besitzt",

erläutern ULRICH & SCHMÄHL angesichts der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 2000. Damit folgen die Autoren unkritisch der konservativen Sicht des Statistischen Bundesamtes, die sich gegen die Sicht der UN, die einen Anstieg der Geburtenrate (TFR) auf 1,5 bzw. 1,6 bis zum Jahr 2050 annimmt. Tatsächlich hat bislang noch kein einziger Frauenjahrgang nur eine Geburtenrate (CFR) von 1,4 erreicht.

2002

BEUTLER, Annette u.a. (2002): Der grosse Versprecher.
In vier Jahren hat Rot-Grün unter Gerhard Schröder einiges angepackt, aber bei den großen Themen Arbeitslosigkeit, Gesundheit und Aufbau Ost versagt,
in: Focus Nr.28 v. 08.07.

"Den von Vorgänger Norbert Blüm eingeführten »demographischen Faktor« wollte Riester abschaffen, weil er das Rentenniveau zu stark senke. Nun heißt das Instrument anders, der Abschlag aber ist stärker",

schreiben die Autoren zur Riester-Reform. Die Verlierer-Generation dieser Rentenreform wird von den Autoren bei den 40Jährigen ausgemacht, weil sie mehr Beiträge zahlen müssen, und dafür weniger staatliche Rente bekommen sowie nicht genügend Zeit um Aufbau einer privaten Altersvorsorge haben.

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG-Serie: Der demographische Balanceakt (Teil 1)

BONDE, Kerstin (2002): Demographischer Balanceakt.
Leidartikel,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.07.

Im Vorfeld der Bundestagswahl, in der der FAZ die Folgen der demografischen Entwicklung nicht genügend zur Sprache gebracht werden, kündigt uns Kerstin BONDE nun eine Artikelserie an, die dies korrigieren möchte:

"Die alternde Bevölkerung (...) wirkt sich (...) auf das Wachstum der Wirtschaft, auf Investitions- und Konsumentscheidungen, auf die Finanzmärkte, auf Steuereinnahmen und auf die Transferzahlungen zwischen den Generationen aus. Mit diesen umfassenden Folgen der demographischen Entwicklung befaßt sich diese Zeitung von diesem Samstag an in einer Artikelserie."

Besonders die öffentlichen Finanzen ist der Unternehmens- und der Reichenlobby ein Dorn im Auge:

"Sie werden von einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung in den kommenden fünfzig Jahren dramatisch in Mitleidenschaft gezogen, weil die deutschen Sozialversicherungssysteme stark am Steuertropf hängen."

Die Riester-Reform wird als Schritt in die richtige Richtung betrachtet, um die "Kostenexplosion" zu verhindern.

"Nachlassen wird der Druck auf die Beiträge voraussichtlich erst nach 2060, weil die Bevölkerungspyramide dann nicht mehr auf dem Kopf steht, sondern in einen Schlauch übergegangen sein wird",

erklärt uns BONDE als ob Bevölkerungsvorausberechnungen Wahrheiten wären, statt auf Annahmen zu beruhen, die sich schnell als falsch erweisen könnten. Zum Schluss wird die Generationengerechtigkeit beschworen:

"Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Balanciert wird längst auf Kosten der nächsten Generation. Auf die schrumpfende Bevölkerung muß der Staat sich mit seinen Leistungen einstellen",

erklärt uns BONDE die neoliberale Sicht, die angeblich aufgrund der demografischen Entwicklung alternativ los ist.

MUSSLER, Werner (2002): Der Alterungsprozeß bremst langfristig das Wirtschaftswachstum.
Anteil der Erwerbstätigen sinkt. Ungewisse Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Geburtenrate müsste steigen,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.07.

Werner MUSSLER beschreibt uns einen "gesamtwirtschaftlichen Strukturwandel", der durch den demografischen Wandel bewirkt werden soll. Dazu zitiert er Axel BÖRSCH-SUPAN, der zwei Auswirkungen des "Alterungsprozesses" benennt: zum einen wird die Produktionsweise, zum anderen die Konsumstruktur betroffen.

"In ungefähr 30 Jahren erwartet er rund 15 Prozent weniger Erwerbstätige als heute. »Wenn diese ein etwa gleiches Konsumniveau wie heute produzieren sollen, muß die Produktivität erheblich steigen«",

lässt uns MUSSLER wissen. Eine solche Produktivitätssteigerung setze entweder eine höhere Arbeitsproduktivität oder eine steigende Kapitalintensität voraus. Während die Kapitalintensität als Automatismus betrachtet wird, gilt die Erhöhung der Arbeitsproduktivität als umstrittenes Problem, bei dem es um die Definitionsmacht über die "altersspezifische Produktivität" geht. BÖRSCH-SUPAN geht von einem negativen Effekt der Alterung aus, weshalb er die Steigerung der Geburtenrate in den Mittelpunkt von Szenarien der Produktivitätsentwicklung stellt. Ausgangspunkt von zwei Alternativszenarien ist eine Geburtenrate von 1,36 Kindern pro Frau. Das Absinken auf 1,1 Kinder pro Frau (Spanien) wird erst gar nicht betrachtet, sondern nur der Anstieg auf 1,8 Kinder pro Frau (Frankreich, USA):

"In einer alternden Gesellschaft führt eine höhere Geburtenrate - mit einer Verzögerung von 20 Jahren - zu einer produktiveren Erwerbsbevölkerung",

heißt es dazu, wobei die höhere Produktivität des Ergebnisses bereits in der Annahme enthalten war.   

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG-Serie: Der demographische Balanceakt (Teil 4)

BRÖLL, Claudia (2002): Der Arbeitsmarkt kommt in die Jahre.
In zehn Jahren ist jeder dritte älter als 50. Geburtenrückgang kein Rezept gegen Arbeitslosigkeit. EU für höheres Rentenalter,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 01.08.

Claudia BRÖLL stellt uns das Paradebeispiel der BfA-Beschäftigungskampagne 50 plus vor. Angeblich soll bereits ab 2007 die Erwerbstätigen knapp werden:

"Zunächst dürften die Auszubildenden knapp werden; von 2008 an gibt es dann auch immer weniger Arbeitskräfte auf dem Markt. Der Fachkräftemangel, der sich bisher auf einzelne Branchen beschränkt, dürfte so zu einer gesamtwirtschaftlichen Erscheinung werden.
Schätzungen zufolge falle in den kommenden zehn Jahren als Ergebnis des Geburtenrückgangs 100.000 inländische Erwerbsfähige aus, in 20 Jahren sind es bereits 600.000, bis 2050 ist von mehren Millionen die Rede."

Die Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt wird uns als weitgehend aussichtslos beschrieben:

"Maximal einen Rückgang der Arbeitslosenzahl um eine halbe Million in den kommenden Jahrzehnten hält zum Beispiel der Ökonom Viktor Steiner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin möglich. Problemgruppen wie Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose dürften es weiterhin schwer haben, eine Stelle zu finden. Auch die sogenannte Sucharbeitslosigkeit werde weiterbestehen. Der Grund liege in den hohen Beschäftigungshürden hierzulande."

Zu den Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Löhne werden uns zwei Szenarien vorgestellt: wenige Gutverdiener und der Kollaps der Sozialsysteme zum einen, viele Niedriglöhner und der Kollaps der Sozialsysteme zum anderen.

Um dem drohenden Fachkräftemangel und dem Kollaps der Sozialsysteme zu entgehen wird uns die Erhöhung der Müttererwerbsquote und die Beendung der Frühverrentungspraxis angepriesen:

"Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit arbeiten heute nur noch 33 Prozent der Männer im Westen in einem Alter zwischen 60 und 65 Jahren, in den neuen Ländern sind es sogar nur noch 23 Prozent. Im Durchschnitt gingen die Erwerbstätigen schon mit 60 Jahren in Rente".

Zum Schluss wird die EU-Kommissarin Anna DIAMANTOPOLOU zitiert, die ein höheres Renteneintrittsalter fordert.

KLOEPFER, Inge (2002): Wer schützt die Jungen vor den Alten?
Die Rentner bleiben ungeschoren. Die Jungen zahlen immer mehr. Bald kippt das System. Es sei denn: Frühverrentung wird abgeschafft, und alle arbeiten bis 68,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 10.11.

Inge KLOEPFER präsentiert uns die Vorstellungen des Ökonomen Axel BÖRSCH-SUPAN:

"Die Menschen müssten künftig bis zum 67. oder 68. Lebensjahr arbeiten. In Schweden etwa sei das schon der Fall.
Zweitens dürften Frührentner nicht länger besser wegkommen als jene, die später in Rente gehen. Denn die Frühverrentung lastet wie Blei auf dem System. Sie ist nach den Worten des Wissenschaftlers »die teuerste Form der Arbeitslosigkeit«. Er geht sogar noch weiter: »Die Frührente bedingt die Arbeitslosigkeit, weil sie von den Beitragszahlern bezahlt werden muss. Das erhöht die Lohnnebenkosten, was Arbeitsplätze vernichtet.« Der internationale Vergleich gibt ihm recht, dass die Frühverrentung nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze taugt – im Gegenteil: »Je mehr Frührentner ein Land sich leistet, desto höher ist die Arbeitslosigkeit.«"

Der internationale Vergleich, der die Behauptungen von BÖRSCH-SUPAN belegen soll, wird uns jedoch vorenthalten.

KLOEPFER erklärt uns, dass eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters für die Regierung derzeit zu heikel sei und deshalb die Rürup-Kommission eingesetzt werden soll, deren Zusammensetzung noch verhandelt wird. Walter RIESTER und Ulla SCHMIDT werden uns schon einmal als Anwälte der Alten in die Tradition von BISMARCK und BLÜM gestellt.

Andreas ESCHE ("Wirtschaftsexperte der Bertelsmannstiftung") schlägt in die gleiche Kerbe wie BÖRSCH-SUPAN.

"In eine tiefe Krise stürzt die Rentenversicherung etwa von 2020 an, genau dann, wenn die Baby-Boomer in Rente gehen",

erklärt uns KLOEPFER. Die Riester-Rente wird uns als Flop präsentiert, die die Rentenlücke nicht schließen könne:

"Es muß mehr für die Eigenvorsorge getan werden, um die sich auftuenden Versorgungslücken auszugleichen. Im Jahr 2040 nämlich werden die Rentner mit nur mehr gut 50 Prozent ihres Nettolohns rechnen können. Derzeit sind es 67 Prozent. Die Riester-Rente, so wie sie jetzt konzipiert ist, wird diese Lücken nicht füllen können. Denn dazu müßte der einzelne 40 Jahre lang 4 Prozent seines Bruttolohns gespart haben. Doch davon ist Deutschland weit entfernt. (...) Zwei Millionen Menschen hätten eine Riester-Rente abgeschlossen - statt 35 Millionen, sagt Börsch-Supan."

Die Zeichen der Zeit haben gemäß KLOEPFER nur jene erkannt, die mehr Eigenvorsorge betreiben, statt auf die Politik zu hoffen. Zum Schluss werden SPD und Gewerkschaften als Gegner aufgebaut, während die Grünen gelobt werden, weil sie sich "gegen die Beitragserhöhung gesträubt" hätten.

Zwei Grafiken der Finanzdienstleistungslobby MEA unter Axel BÖRSCH-SUPAN erklären uns zum einen die Beitragssatzentwicklung vor und nach der Renten-Reform bis 2050 und zum anderen die Brutto-Versorgungslücke pro Monat bis 2050. Seriöse Berechnungen sind das nicht, sondern Kaffeesatzleserei wie der Statistiker Gerd BOSBACH dies bezeichnet.

MAHLER, Armin & Michael SAUGA (2002): "Ich habe Läuse im Bauch".
Der Regierungsberater Bert Rürup über die Probleme der sozialen Sicherungssysteme, seine Pläne für eine grundlegende Renten- und Gesundheitsreform sowie die Gefahr des Scheiterns,
in: Spiegel Nr.47 v. 18.11.

"Ich stelle mir vor, ab dem Jahr 2011 das gesetzliche Renteneintrittsalter jedes Jahr um einen Monat zu erhöhen, bis im Jahr 2034 ein Renteneintrittsalter von 67 erreicht ist. (...).
Im Vorfeld müssen die bestehenden Anreize zum vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben beseitigt werden",

erläutert Bert RÜRUP seine Pläne für die Rentenreform. Die Gewinner und Verlierer beschreibt RÜRUP folgendermaßen:

"Es gibt (...) eine Sandwich-Generation: Wer heute älter als 55 ist, wird von den Leistungsrücknahmen im Zuge der jüngsten Rentenreform betroffen, hat aber nicht mehr genügend Zeit, ergänzend vorzusorgen. Die unter 30-Jährigen sind dagegen die Gewinner der Reform: Für sie wird die Altersversorgung, gemessen an der Situation vor der Reform, besser und billiger."

Für die Jahre ab 2015 ist gemäß RÜRUP eine andere Rentenformel notwendig. Die aktuellen Finanzierungsprobleme des Rentensystems basieren nicht auf dem demografischen Wandel, sondern auf einer falschen Einschätzung der Beschäftigungsentwicklung:

"Insbesondere Annahmen zur Beschäftigungsentwicklung waren wohl zu optimistisch. Deshalb müssen wir jetzt nachjustieren."

RÜRUP geht es jedoch nicht um die Lebensstandardsicherung der Rente, sondern um die Senkung der Lohnnebenkosten, die nach seiner Ansicht die Beschäftigungsentwicklung bestimmen. Seine schlichte Rechnung:

"ein Beitragspunkt weniger bedeutet 100000 Arbeitsplätze mehr."   

SPIEGEL -Titelgeschichte: Die Hoffnung und die Angst.
Wie die Deutschen ihre Krise überwinden können

JUNG, Alexander/BALZLI, Beat/MAUERER, Gerhard/PAULY, Christoph (2002): Vorbildliche Nachbarn.
Der deutsche Sozialstaat steht vorm Kollaps. Trotzdem fehlt der Mut zur Radikalkur. Länder wie die Schweiz, die Niederlande, Dänemark und Großbritannien krempelten Altersvorsorge, Gesundheitswesen wie Arbeitsverwaltung um und gehen gestärkt aus der Krise. Doch welche Rezepte sind die besten?
in: Spiegel Nr.1 v. 30.12.

"Was (...) können die Deutschen von Niederländern, Schweizern oder Briten lernen? Lassen sich die Reformkonzepte überhaupt übertragen? Vor allem: Wieso kriegen die anderen die Kurve - nur Deutschland nicht?
Jedes System hat seine Schwachstellen, vieles ist durchaus fragwürdig. Und kein Land hat letztgültige Antworten auf sämtliche Herausforderungen. Doch aus allen Konzepten kristallisiert sich eine Art kleinster gemeinsamer Nenner moderner Sozialpolitik heraus",

behaupten die Autoren. Die Übertragbarkeit der Reformkonzepte anderer Länder wird nicht diskutiert, sondern lediglich rechtliche Aspekte (Bestandsgarantien) berücksichtigt. Das Motto lautet: "Aktivieren statt versorgen". Dahinter steckt ein Menschenbild, das ihn auf einen behavioristischen Anreiz-Reaktions-Mechanismus reduziert. Beim Rentensystem gilt den Autoren die Schweiz als Vorbild. Der Beamte Bernd RAFFELHÜSCHEN, der sich gerne zum Kämpfer für mehr Generationengerechtigkeit stilisiert, erklärt warum Beamte nicht in eine Bürgerversicherung integriert werden können.

JUNG, Alexander/BALZLI, Beat/MAUERER, Gerhard/PAULY, Christoph (2002): Erst sparen, dann verteilen.
Wie die Schweden es geschafft haben, ihren Wohlfahrtsstaat zu modernisieren – und weshalb das Volk die harten Einschnitte der Politik akzeptiert,
in: Spiegel Nr.1 v. 30.12.

"Seit 1999 bekommen nur noch vor 1938 Geborene ihre Rente nach altem Recht. Die Altersvorsorge der Jahrgänge nach 1953 hingegen steht auf drei Pfeilern: einer Garantierente, die wie die Volkspension überwiegend steuerfinanziert ist, einer einkommensabhängigen Altersrente, die weit größere Bedeutung hat als früher, und einer Prämienrente, die der Versicherte am Kapitalmarkt anspart. Die Renten der Jahrgänge 1938 bis 1953 werden anteilig nach altem oder neuem System finanziert. Zudem wurde das Rentenalter flexibilisiert. Wer schon mit 61 Jahren ausscheiden will, muss mit 30-prozentigen Abschlägen rechnen; wer dagegen bis 70 durchhält, bekommt bis zu einem Drittel mehr Ruhegeld", berichten die Autoren über den Umbau des Rentensystems in Schweden. 

2003

SAUGA, Michael/SCHULT, Christoph/TIETZ, Janko (2003): Ende einer Illusion.
In aller Stille bereitet die Regierung tiefe Einschnitte in die gesetzliche Alterssicherung vor, die damit auf das Niveau einer Basisversorgung zusammenschmelzen dürfte. Schon planen Grüne und Union den Einstieg in einen grundlegenden Systemumbau,
in: Spiegel Nr.33 v. 11.08.

Die Autoren bereiten auf weitere drastische Einschnitte ins Rentensystem vor, denn durch einen Nachhaltigkeitsfaktor (vgl. RÜRUP 2002) soll das Rentenniveau weiter abgesenkt werden. Begründet wird dies durch den angeblichen Sachzwang Geburtenrückgang:

"Dass es den heutigen Senioren materiell gut geht, haben sie nicht nur den großzügigen Rentengesetzen aus den Aufbaujahren der Republik zu verdanken, sondern auch der eigenen Gebärfreudigkeit. Die heutige Rentnergeneration hat genau jene Babyboomer der fünfziger und sechziger Jahre großgezogen, die derzeit noch die Fabriken und Büros bevölkern und mit ihren Beiträgen die Alterskassen füllen. Wenn diese Generation aber in einigen Jahren selbst in den Ruhestand wechselt, bekommt sie unausweichlich die Quittung für die Kinder-nein-danke-Mentalität der vergangenen drei Jahrzehnte präsentiert. Weil seit Anfang der siebziger Jahre die Geburtenrate drastisch sank, fehlt es bald an Beitragszahlern, um das heutige Rentenniveau zu halten."

Belegt werden soll das durch Zahlen des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA), eine Lobbyorganisation der Finanzbranche.

GERMIS, Carsten (2003): Müssen wir mehr Kinder kriegen?
FAS-Wirtschaftsthema: Ja. Sonst zahlt keiner mehr für die Alten,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 05.10.

"Machen Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren heute noch 12,8 Prozent der Bevölkerung aus, werden es 2030 nur noch zehn Prozent wein. Der Anteil der Rentner, die älter als 65 Jahre sind, steigt in diesem Zeitraum von 16,4 auf 27,3 Prozent. 2040 gibt es mehr Deutsche, die älter als 80 Jahre sind, als Jugendliche unter 15",

erklärt uns Carsten GERMIS, als ob hier unumstößliche Fakten und nicht nur Bevölkerungsvorausberechnungen präsentiert werden. Eine Grafik zeigt uns, dass die Geburtenrate von 1,4 Kinder pro Frau in die Zukunft fortgeschrieben wird, wobei von einer Angleichung der neuen Bundesländer an das westdeutsche Niveau bis 2010 ausgegangen wird. Deshalb behauptet GERMIS folgendes:

"Wer 2030 Rente bekommt und wer dann arbeitet, ist heute bereits geboren."

Dies stimmt auch nur bedingt, wenn der Berufseinstieg genauso spät wie heutzutage erfolgen würde. Im Jahr 2030 sind 25-Jährige im Jahr 2005 und 20-Jährige erst im Jahr 2010 geboren worden. Für das Jahr 2040 gilt das entsprechend noch weniger, was uns GERMIS weismachen will.

PILLER, Tobias (2003): Italiens Gewerkschaften streiken gegen Berlusconis Rentenreform.
Gegen Einschränkung des Rechts auf Frührenten. Jüngere Italiener werden schlechter behandelt,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.10.

Tobias PILLER schildert uns Italien als Rentnerparadies. OECD, IWF und EU fordern deshalb "weiterhin entschlossene Rentenreformen". Eine Tabelle soll uns den Reformbedarf in einzelnen Ländern aufzeigen. Folgende Rentenausgaben sollen bis 2050 das Bruttosozialprodukt belasten:

Tabelle: Rentenausgaben in Europa (inklusive Unterstützungsleistungen für Personen ab 55 Jahren) in Prozent
des Bruttosozialprodukts (BIP)
Land 2000 2010 2020 2030 2040 2050
Österreich 14,5 % 14,9 % 16,0 % 18,1 % 18,3 % 17,0 %
Italien 13,8 % 13,9 % 14,8 % 15,7 % 15,7 % 14,1 %
Griechenland 12,6 % 12,6 % 15,4 % 19,6 % 23,8 % 24,8 %
Frankreich 12,1 % 13,1 % 15,0 % 16,0 % 15,8 %

-

Deutschland 11,8 % 11,2 % 12,6 % 15,5 % 16,6 % 16,9 %
Finnland 11,3 % 11,6 % 12,9 % 14,9 % 16,0 % 15,9 %
Dänemark 10,5 % 12,5 % 13,8 % 14,5 % 14,0 % 13,3 %
Belgien 10,0 % 9,9 % 11,4 % 13,3 % 13,7 % 13,3 %
Polen 9,8 % 11,8 % 13,1 % 13,6 % 13,8 % 13,2 %
Spanien 9,4 % 8,9 % 9,9 % 12,6 % 16,0 % 17,3 %
Schweden 9,0 % 9,6 % 10,7 % 11,4 % 11,4 % 10,7 %
Niederlande 7,9 % 9,1 % 11,1 % 13,1 % 14,1 % 13,6 %
Luxemburg 7,4 % 7,5 % 8,2 % 9,2 % 9,5 % 9,3 %
Großbritannien 5,5 % 5,1 % 4,9 % 5,2 % 5,0 % 4,4 %
Irland 4,6 % 5,0 % 6,7 % 7,6 % 8,3 % 9,0 %
Quelle: FAZ-Grafik v. 25.10.2003; Wirtschaftsrat der EU mit Daten aus dem Jahr 2005

GROHMANN, Heinz (2003): Die Alterung unserer Gesellschaft.
Ursachen, Wirkungen, Handlungsoptionen,
in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Heft 2-4, S.443-462

Der einflussreiche Statistiker Heinz GROHMANN betrachtet die "demographische Alterung" in Westdeutschland anhand des Altenquotienten, wobei er diese Betrachtung auf das Verhältnis von Personen Im Alter von 60 und mehr Jahren zur Zahl der Personen im Alter von 20 bis unter 60 Jahren beschränkt.

Es zeigt sich, dass dieser Altenquotient von 1951 bis Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich von 26 auf 39 gestiegen ist, um Anfang der 1980er Jahre auf 36 zurück zu gehen und auf diesem Niveau bis Ende der 1980er Jahre zu verharren. Um 1990 fiel der Altenquotient aufgrund der Zuwanderung sogar auf 35. Erst 1999 stieg er auf 40 an.

Vergleicht man diese Entwicklung des Altenquotienten mit den Finanzierungsproblemen der Rentenversicherung, dann zeigt sich, dass für den Zeitraum der BRD keinerlei Zusammenhang zwischen steigendem Altenquotienten und Finanzproblemen bestehen, sondern im Gegenteil die Finanzprobleme gerade in Zeiten fallender bzw. niedriger Altenquotienten bestanden.

Dennoch konstruiert GROHMANN einen solchen Zusammenhang, um ihn auf die zukünftige Altersstrukturentwicklung zu projizieren. So wie die Vorausberechnungen für das Jahr 2000 hinsichtlich der Altersstrukturentwicklung "richtig" waren, werden sie auch für 2030 richtig sein, erklärt GROHMANN. Tatsächlich beruht die "Richtigkeit" jedoch nur auf zwei Falschprognosen, deren Fehler sich gegenseitig kompensierten, statt sich zu addieren:

"Ein wesentlicher Unterschied besteht (...) darin, dass sich der tatsächliche vom vorausgeschätzten Altersaufbau durch einen schmalen Streifen unterscheidet, der über alle Altersgruppen hinweg dazugekommen ist. Im Kindes- und Erwachsenenalter resultiert er vorwiegend aus dem Zuwanderungsüberschuss von fast 6 Millionen Menschen in der Zeit der politischen Wende in Deutschland und Osteuropa, im Rentenalter aus der gesunkenen Sterblichkeit. Im Altenquotienten kompensieren sich beide Entwicklungen, so dass dieser mit 43 genau richtig vorausgerechnet worden war." (S.447f.)

Kurzgefasst: Nur dadurch, dass die Zuwanderung unter- und die Sterblichkeit überschätzt wurde, ergab sich eine zufällige Übereinstimmung beim Altenquotienten. Für das Jahr 2030 schreibt er dieses Kompensationsmuster einfach unkritisch fort. Nach dem Motto, was für die Vergangenheit gestimmt hat, wird auch in Zukunft richtig sein. Anhand von Vorausberechnungen von BIRG u.a. zeigt GROHMANN den Entwicklungskorridor des Altenquotienten bis zum Jahr 2080 auf, wobei die Erhöhung der Geburtenhäufigkeit auf das Bestandserhaltungsniveau als Königsweg angesehen wird.

Für den fiktiven Fall einer stationären Bevölkerung (Die Geburten ersetzen die Sterbefälle), die auf der nationalkonservativen Vorstellung einer geschlossenen Gesellschaft basiert, in der Wanderungen ausgeschlossen sind, errechnet GROHMANN einen "idealen Altenquotienten" von 50. Aufgrund dieser normativen Grundüberzeugungen folgert er:

"Wir sehen daraus, dass der tatsächliche Altersaufbau in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahrzehnten bis heute aufgrund der historischen Entwicklung im 20. Jahrhundert (früher höhere Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit, Kriegsverluste) relativ günstig war und noch ist. Erst nach 2015 wird das ins Gegenteil umschlagen und dies mit fortschreitender Zeit immer dramatischer ohne Aussicht auf eine Rückkehr zur Normalität - wenn das Geburtenniveau bleibt, wie es ist. Damit ist nun auch ganz deutlich, welches die Ursachen der vorausgeschätzten immensen Alterung sind: In erster Linie und ganz entscheidend ist es das seit langem niedrige Geburtenniveau, das um mehr als ein Drittel unter dem zur Bestandserhaltung nötigen liegt. In weit geringerem Maße ist es die in die gleiche Richtung wirkende steigende Lebenserwartung, während Zuwanderungsüberschüsse von 150.000 Personen pro Jahr beiden nur begrenzt entgegenwirken können. Allein eine allmählich wieder auf das volle Reproduktionsniveau ansteigende Geburtenhäufigkeit würde die Alterung der Gesellschaft langfristig und dauerhaft auf ein Normalmaß zurückführen, das aber kaum noch in diesem Jahrhundert." (S.451)

In dieser Betrachtung mischen sich Moralvorstellungen einer geschlossenen Gesellschaft, die auf "natürlichen Bevölkerungsbewegungen" basiert mit einer angeblich wertneutralen Statistik. Dies wird besonders deutlich, wenn GROHMANN die Auswirkungen der "demografischen Alterung" auf die Rentenversicherung beschreibt. Hier werden die "nichtdemografischen Faktoren" lediglich erwähnt - aber im Gegensatz zu den demografischen Faktoren nicht beziffert:

"Diese Modellrechnungen unterscheiden sich von den rein demographischen dadurch, dass bei ihnen Einflussfaktoren, wie Erwerbseintrittsalter, Familienstand, Erwerbsstatus, Arbeitsverdienste, Erwerbsunfähigkeitsrisiko, Rentenhöhe, Rentenbezugsdauer u.a.m. Berücksichtigung fanden." (S.453)

Diese Faktoren bleiben bei der Betrachtung der "demografischen Alterung" allesamt ausgeklammert. Ihr Anteil wird nicht quantifiziert, sondern es werden lediglich "Lösungen" präsentiert, die einzig unter dem Aspekt der Beitragssatzstabilität diskutiert werden. Als Lösungen werden die Änderung der Rentenformel, die Ausweitung des Versichertenkreises, Veränderung im Erwerbsverhalten, Zuwanderungsüberschüsse, Kapitaldeckung, Erhöhung des Bundeszuschusses und der Wiederanstieg der Geburtenhäufigkeit genannt.

Während GROHMANN 1981 noch einen Beitragssatz von 25 % akzeptabel hielt, soll nunmehr der Beitragssatz 20 % nicht übersteigen. Zu deutsch: Es sind Änderungen der politischen Zielsetzungen, die das Rentensystem bedrohen, nicht der demografische Wandel an sich. GROHMANN verweist hinsichtlich der Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung zwar auf die "immense Zunahme der Frühverrentung und die Folgen der Wiedervereinigung". Argumentativ bleibt er aber bevölkerungspolitischen Sichtweise, d.h. der Nichtberücksichtigung nicht-demografischer Faktoren, verhaftet, wenn er die Profiteure und die Schuldigen identifiziert:

"Damit ist (...) der Generation, die in ihrer Kindheit und in ihrer weiteren Lebensplanung durch den Krieg oder die unmittelbare Nachkriegszeit hart getroffen worden ist und die in ihrem generativen Verhalten die dauerhafte Bestandserhaltung der Bevölkerung nicht in Frage gestellt hat, eine Alterssicherung gewährt worden, die bis heute beispielhaft in der Welt ist.
Und das gilt seit der Wiedervereinigung auch für den Teil der Bevölkerung, der infolge der kriegsfolgenbedienten Teilung unseres Landes bis dahin merklich schlechtere Lebensbedingungen im Alter hatte." (S.455)

Die Überlebenden der Kriegs- bzw. Aufbaugeneration "profitierten" zudem in erster Linie vom Tod ihrer Altersgenossen:

"Allerdings kam dem zugute, dass in dieser Zeit - unter anderem ebenfalls als Folge des Krieges - die Altersstruktur der Bevölkerung die Finanzierung der Renten erheblich erleichtert hat. Bei einem völlig ausgeglichenen dauerhaft konstanten Altersaufbau wäre nämlich (...) von Anfang an ein Beitragssatz von 21 % nötig gewesen, wohingegen tatsächlich Beitragssätze zwischen anfangs 14 %, heute 19,5 % ausgereicht haben." (S.455)

Die Schuldigen für die Beitragsentwicklung der Zukunft beschreibt GROHMANN folgendermaßen:

"Bemerkenswerterweise ist es gerade diejenige Generation, die bisher zu einem Drittel kinderlos geblieben ist und damit die demographische Alterung ausgelöst hat, die jetzt die Folgen zu tragen nicht bereit ist." (S.457)

Tatsächlich betrug die Kinderlosigkeit zum damaligen Zeitpunkt nur um die 20 %, was jedoch noch bis Mitte der Nuller Jahre totgeschwiegen wurde. Es war vor allem die normative amtliche Statistik und der politische Unwille, die diesen Sachverhalt verschleierten. Oder anders gesagt: Weil in Deutschland angeblich nur die Falschen die Kinder bekommen, wurde die höhere Akademikerinnenkinderlosigkeit in den Fokus und damit in den Vordergrund gerückt, obgleich sie im Gegensatz zur Zwei-Kind-Norm in Westdeutschland (und das damit verbundene Verschwinden der kinderreichen Familie) für die Bevölkerungsentwicklung weniger entscheidend war.

Typisch für GROHMANN ist sein voluntaristischer Ansatz, der den Geburtenrückgang nicht auf strukturelle Rahmenbedingungen (z.B. mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Heiratsmarktengpass bzw. Partnerwahlmuster), sondern einzig auf den Willen bzw. Einstellungen zurückführt.

Man könnte z.B. auch ganz anders argumentieren, nämlich dass eine "Bevölkerungspolitik" schon in den 1970er Jahren die Massenarbeitslosigkeit hätte verhindern müssen, um die Familiengründung der "Babyboomer" zu erleichtern. Tatsächlich wird Bevölkerungspolitik jedoch sehr selektiv begründet, z.B. in der Rentenpolitik einzig unter dem Aspekt der Beitragssatzstabilität. Nie werden die gesamten Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die Wirtschaft und die Sozialsysteme betrachtet. Diese Selektivität weist auf die Instrumentalisierung der Bevölkerungspolitik als Interessenpolitik hin, wie sie sich im Argument Generation wieder findet.

In einer Ausweitung des Bundeszuschusses sieht GROHMANN eine Diskreditierung des Äquivalenzprinzips von Beitragssatz und Rentenhöhe:

"Während der Bundeszuschuss noch vor 20 Jahren nicht einmal die versicherungsfremden Leistungen deckte, werden inzwischen fast 30 % der Rentenausgaben durch den Bundeszuschuss samt Ökosteuer finanziert", (S.458)

schreibt GROHMANN und suggeriert damit fälschlicherweise, dass der Bundeszuschuss inzwischen die versicherungsfremden Leistungen abdeckt. Dies ist aber nicht der Fall, sondern einzig die versicherungsfremden Leistungen sind in den letzten Jahren ausgeweitet worden (vor allem die Anrechnung von Kindererziehungszeiten).

Die Risiken einer kapitalgedeckten Altersvorsorge in den Dimensionen Anlagemöglichkeiten, Anlagensicherheit, Wertentwicklung und Rendite  sieht GROHMANN durchaus, sieht sie jedoch aufgrund der demografischen Entwicklung und der weltweiten Mobilität von Kapital und Arbeit als alternativlos an. Damit wird auch die Zunahme der sozialen Ungleichheit im Alter billigend in Kauf genommen.

2004

MARSCHALLEK, Christian (2004): Die "schlichte Notwendigkeit" privater Altersvorsorge.
Zur Wissenssoziologie der deutschen Rentenpolitik,
in: Zeitschrift für Soziologie, Heft 4, August, S.285-302

Die Zielsetzung seines Beitrags umschreibt Christian MARSCHALLEK folgendermaßen:

"Mit meiner Untersuchung möchte ich den Deutungswandel hinsichtlich der wahrgenommenen Probleme der GRV, der Lösungsmöglichkeiten und der Rolle kapitalgedeckter Altersvorsorge nachvollziehbar machen, der dem Maßnahmenwandel vorausging (...). Nur durch diesen Deutungswandel – und nicht allein anhand demographischer oder ökonomischer Daten – wird die deutsche Rentenpolitik verständlich. Weder die Problemdeutung noch der Lösungsvorschlag sind »notwendig«. Dies ist mein theoretisches Argument. Gleichzeitig versuche ich, folgende empirische These zu belegen: Erst aus der Verknüpfung von spezifischen Deutungen der langfristigen demographischen Entwicklung, der Wirkung der Lohnnebenkosten auf die Arbeitslosigkeit und der Funktionsgrundlagen der GRV ergibt sich im politischen Prozess die »Notwendigkeit« einer zusätzlichen privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge. Sie ermöglicht, das seit 1957 bestehende politische Versprechen lebensstandardsichernder Renten unter den prophezeiten demographischen Bedingungen langfristig aufrechtzuerhalten und die Lohnnebenkosten bereits kurzfristig niedrig zu halten" (S.286)

MARSCHALLEK kritisiert insbesondere den Altenquotient als unangemessenen Indikator für die Rentenfinanzprobleme:

"Eine Argumentation, welche die Finanzierungsprobleme der Alterssicherung nur an der Entwicklung des Altersquotienten festmachen will, basiert auf einem unzulänglichen Indikator. Sie ist unterkomplex, da sie dazu tendiert, bestimmte Altersgruppen pauschal als Rentenempfänger oder Beitragszahler zu charakterisieren. Genauso wenig wie jede Person über 60, 65 oder 67 Jahren einen Anspruch auf Leistungen aus der GRV hat, sind alle Mitglieder der „erwerbsfähigen“ Altersgruppe tatsächlich Beitragszahler in der GRV. Zu dieser Gruppe zählen auch Studenten, Hausfrauen, geringfügig Beschäftigte, Erwerbsunfähige, Beamte, Arbeitslose, etc., die selbst keine Beiträge entrichten und für die auch nur begrenzt „Arbeitgeber- Beiträge“ gezahlt werden.3 Auch stehen den langfristig zu erwartenden demographisch bedingten Belastungen in der Altersvorsorge mögliche Entlastungen auf anderen Gebieten gegenüber (sinkende Kosten für Kinder und Jugendliche, steigende Erwerbsneigung von Frauen, demographisch bedingte Entlastung des Arbeitsmarktes, gegebenenfalls sich verlängernde Erwerbsphasen. Die gesamtgesellschaftlichen finanziellen Belastungen auf Grund demographischer Veränderungen lassen sich letztlich nur anhand der Relation von tatsächlich Erwerbstätigen zu Nicht-Erwerbstätigen abschätzen. Hierfür ist der Altersquotient weitgehend ungeeignet." (S.286)

Als eine Alternative schlägt MARSCHALLEK einen Nichterwerbstätigenquotient vor:

"Gestützt auf die Vorhersagen des Prognos-Gutachtens 1998 könnte man die dort prognostizierte Zahl der (abhängig) Erwerbstätigen den Nichterwerbstätigen – ermittelt als Differenz aus Bevölkerungszahl und (abhängig) Erwerbstätigen – in Form eines Quotienten gegenüberstellen. Als Bezugsgröße im Nenner kann man entweder nur die abhängig Beschäftigten (Nichterwerbstätigenquotient [NEQ] 1) oder alle Erwerbstätigen (NEQ 2) einbeziehen (...). Dieses Zahlenverhältnis dürfte sich in den nächsten vierzig Jahren nicht radikal verschlechtern (vgl. auch Thiede 1986 und Huber/Stephens 2001: 236, 238),5 während die Lohneinkommen vermutlich weiter steigen werden." (S.286f.)

Tabelle 1: Entwicklung der Nichterwerbstätigenquotienten (NEQ) in Deutschland
Jahr 1960 1995 2010 2040
Bevölkerung (Mio.) 55,4 81,8 82,6 72,0
abhängig Beschäftigte (Mio.) 20,3 31,2 29,5 24,0
Erwerbstätige (Inland)(Mio.) 26,3 34,8 33,1 27,0
NEQ 1 1,73 1,62 1,80 2,00
NEQ 2 1,10 1,35 1,50 1,67
Quelle: Christian Marschallek, 2004, S.287

Die Notwendigkeit einer privaten Altersvorsorge ist für MARSCHALLEK kein Sachzwang, sondern ein Deutungsmuster:

 "Die Herstellung eines solchen Sachzwangs aus demographischen Bedingungen bleibt eine Akteurskonstruktion. Diese ist als Deutungsmuster politischer Akteure alles andere als selbstverständlich. Sachverhalte lassen sich unterschiedlich interpretieren, Probleme können alternativen Ursachen zugeschrieben werden. Daher ist die Rentenreform 2001 nicht einfach als Reaktion auf objektive Zwänge zu verstehen, sondern muss auf der Ebene politischer Akteure und ihrer Deutungen untersucht werden." (S.288f.)

Bereits in den 1960er Jahre kann MARSCHALLEK in den Bundestagsdebatten demografisch motivierte Deutungsmuster nachweisen, die sich immer wieder in den Debatten finden. Dem damaligen Rentnerberg entspricht in umgekehrter Akzentuierung das "demografische Zwischenhoch", während das "Hochplateau" sein Pendant in den "Babyboomern" hat:

"Gegen Ende des ersten Deckungsabschnittes der GRV und am Vorabend der ersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit wurde (...) der Kostenbelastung der Rentenversicherung aufgrund steigender Rentnerzahlen erhebliche Bedeutung beigemessen. So stellte Bundesarbeitsminister Katzer in der ersten Beratung des dritten Rentenversicherungsänderungsgesetzes (3. RVÄndG) am 7. Oktober 1966 fest, dass sich die Relation von Versicherten zu Rentnern in den Folgejahren verschlechtern werde. Selbst bei wieder ansteigender Geburtenrate in den nächsten 10 bis 15 Jahren müsse mit zusätzlichen finanziellen Belastungen in der Rentenversicherung gerechnet werden (...). Umstritten war zunächst, ob es sich dabei um eine vorübergehende oder eine dauerhafte Belastung handelt. Das ursprünglich für dieses demographisch induzierte Phänomen geprägte Deutungsmuster »Rentnerberg« implizierte, dass einem Anstieg der Rentenfälle irgendwann ein Rückgang auf das ursprüngliche Niveau folgen werde. Der Abgeordnete Springorum (CDU/CSU) jedoch äußerte bereits in der ersten Beratung des 3. RVÄndG, dass sich das günstige Zahlenverhältnis zwischen Rentnern und Beitragszahlern aus der vorangegangenen Dekade »in absehbarer Zeit« nicht wieder einstellen werde (...). Diese Ansicht setzte sich in dem auf Grund des zwischenzeitlichen Regierungswechsels außergewöhnlich langen Zeitraum zwischen erster und zweiter Lesung durch. Sie wurde von dem Abgeordneten Schellenberg (SPD) in der Debatte vom 2. Juli 1969 mit dem Bild eines »Hochplateaus« umschrieben (...). Demnach hatte man sich auf eine längere demographische Belastungsphase in der GRV einzustellen."

Bereits in den Bundestagsdebatten des Jahres 1978 wird der angebliche Kausalzusammenhang zwischen Beitragssatzsteigerungen und demografischem Wandel hergestellt:

"Von zwei Abgeordneten wurde der Zeitpunkt des Eintretens demographisch bedingter Probleme in der GRV genauer terminiert. Demnach sei das Problem erst in den 1990er Jahren (Abgeordneter Cronenberg [FDP] in der ersten Beratung des 21. RAG am 16. März 1978, ...) oder sogar erst nach dem Jahr 2000 (Abgeordneter Glombig [SPD] in der zweiten Beratung des 21. RAG am 8. Juni 1978, ...) zu erwarten. Neu an der Problemdefinition ist auch die konkrete Quantifizierung eines auf Grund der demographischen Entwicklung erforderlichen Beitragssatzes zur GRV. So wird vom Abgeordneten Franke (CDU/CSU) in der ersten Beratung des 21. RAG am 16. März 1978 (...) ein Prognos-Gutachten zitiert, demzufolge im Jahre 2030 mit einem Beitragssatz zur GRV in Höhe von 26,6 bis 41,5 Prozent zu rechnen sei." (S.294)

MARSCHALLEK sieht bereits in den 1970er Jahren eine Tendenz dazu, dass Finanzprobleme nicht-demografischer Art mit dem Hinweis auf den langfristig zu erwartenden demografischen Wandel vermischt wird: 

"Fasst man die Debatten der 1970er Jahre zusammen, zeigt sich, dass die Konjunktur des Arguments, die GRV stehe vor demographischen Problemen, dem jeweiligen Stand der Rentenfinanzen folgte. Tauchten in den Rentenkassen kurzfristige Probleme auf, wurde auch auf die langfristige Wirkung der demographischen Entwicklung verwiesen, deren negative Folgen durch politische Entscheidungen nicht noch verstärkt werden dürften. Diese Vermischung der Zeithorizonte bleibt auch für die künftigen Debatten typisch." (S.295)

Die Massenarbeitslosigkeit als Ursache der Finanzprobleme wird gemäß MARSCHALLEK in den 1980er Jahren vom Mainstream geleugnet, während in den 1990er Jahren das Globalisierungsargument die notwendige Senkung der Lohnnebenkosten (womit die Beitragssätze der Rentenversicherung gemeint sind) unterfüttert. Das alternative Deutungsmuster, dass die Deutsche Einheit für die Finanznot der Rentenversicherung mitverantwortlich sei, wurde nie deutungsmächtig. Die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme hat sich um die Jahrtausendwende dann vollständig durchgesetzt. Damit konnte auch die Notwendigkeit der privaten Altersvorsorge ohne große Widerstände gerechtfertigt werden.

WSI-MITTEILUNGEN-Schwerpunkt: Privatisierung - Aktivierung - Eigenverantwortung. Zukunftsperspektiven für die Sozialpolitik?

BÄCKER, Gerhard (2004): Der Ausstieg aus der Sozialversicherung.
Das Beispiel Rentenversicherung,
in: WSI-Mitteilungen Nr.9, September

Gerhard BÄCKER beschreibt die Richtungsänderung in der Alterssicherung, die mit der Riester-Rentenreform im Jahr 2001 eingeleitet wurde, die einen teilweisen Systemwechsel beinhaltet. Aufgrund des Übergangs zu einer Politik der Beitragsstabilisierung kommt es zu einer Senkung des Niveaus der gesetzlichen Rente, die BÄCKER folgendermaßen beschreibt:

"Das von der Bundesregierung gesetzte Mindestsicherungsziel sieht Werte von 46% (2020) und 43 % (2030) – Netto-Renten jeweils vor Steuern – vor. Derzeit liegt der Wert bei etwa 53 %. Zu diesem Absinken kommt es, weil der Beitragssatzstabilität absolute Priorität eingeräumt wird – ob das nun mit »Nachhaltigkeit« oder »Generationengerechtigkeit« begründet wird. Die (schrittweise) Besteuerung der Renten nach dem Alterseinkünftegesetz wird darüber hinaus zu einem weiteren Absinken des Nettoniveaus führen, da die verfügbaren Nettoeinkommen durch die steuerliche Absetzbarkeit der Rentenversicherungsbeiträge steigen, während die Netto-Renten durch die steigende Steuerbelastung relativ geringer ausfallen."

Die kapitalgedeckte Altersvorsorge soll deshalb die gesetzliche Rentenversicherung nicht mehr wie bisher ergänzen, sondern teilweise ersetzen. Damit sei das Ziel einer den Lebensstandard sichernden gesetzlichen Rente zugunsten einer "einnahmeorientierten Ausgabenpolitik" aufgegeben worden. Dies hat gemäß BÄCKER zur Folge, dass die Altersarmut steigen wird, wie er mit Prognosen des Rentenversicherungsträgers belegt:

"Mit der Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors steigt die Anzahl der Jahre, die durchschnittlich verdienende ArbeitnehmerInnen einzahlen müssen, um Altersarmut (im Sinne des Unterschreitens des Bedarfsniveaus der Sozialhilfe/Grundsicherung) zu vermeiden, nach Berechnungen des Verbands deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) (2004) auf 28 Jahre in 2015 und 31 Jahre in 2030 an. Gemessen an heutigen Maßstäben liegt diese Zahl sehr nahe an den durchschnittlichen Versicherungszeiträumen von ArbeitnehmerInnen."

BÄCKER sieht dadurch die Akzeptanz und Legitimation der Alterssicherung gefährdet. Die Rentenformel führe zudem dazu, dass die Planbarkeit des Ruhestandes durch den Nachhaltigkeitsfaktor unsicherer wird. Der kapitalgedeckten Altersvorsorge fehle außerdem ein Solidarausgleich im Gegensatz zum Umlagesystem:

"So werden in der Rentenversicherung Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Krankheit, der Kindererziehung, der Pflege und der Ausbildung angerechnet, ohne dass die Betroffenen in diesen Phasen eigene Beiträge entrichten müssen. Ein solcher Solidarausgleich ist bei der privaten Vorsorge nicht möglich, entlastend wirkt nur die staatliche Förderung."

Dadurch vergrößern sich gemäß BÄCKER die Einkommensdifferenzen im Alter. Die betriebliche Altersvorsorge könnte zwar als verpflichtende Zusatzversorgung Funktionen des sozialen Ausgleichs übernehmen, nur hätte dies keinerlei Vorteile gegenüber einer gesetzlichen Rente, sondern zeige nur, dass diese keineswegs unmodern sei.

Die derzeitigen Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung sind nach BÄCKER nicht dem demografischen Wandel geschuldet, sondern im Gegenteil werde die Rentenversicherung derzeit sogar entlastet:

"Falsch ist (...) die immer wieder verbreitete These, dass der demographische Umbruch für die gegenläufige Entwicklung von Ausgaben und Einnahmen ursächlich sei. Ganz im Gegenteil wird die Rentenversicherung von der demographischen Seite derzeit eher entlastet, da sich noch stark besetzte Jahrgänge im erwerbsfähigen Alter befinden. Der Umschwung wird erst gegen 2010 einsetzen, dann werden die stark besetzten Jahrgänge im Rentenbezugsalter stehen. Die gegenwärtigen Probleme sind im Wesentlichen Folge der Arbeitsmarktkrise. Die hohen Arbeitslosenzahlen führen auf der Einnahmenseite zu Aufkommenslücken; noch schwerwiegender wirkt sich der Rückgang der Beschäftigtenzahlen aus, die den Zuwachs der registrierten Arbeitslosigkeit deutlich übertreffen, da es hierfür keinerlei Ausgleich gibt. Beitragseinnahmen gehen auch verloren durch die Ausdehnung der Mini- und Midi-Jobs, durch die faktische Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und durch die mit der Riester- Rente eingeführte Möglichkeit, Entgeltansprüche steuer- und sozialversicherungsfrei für eine betriebliche Altersversorgung verwenden zu können."

Es birgt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet nach 2010 der demografische Wandel wiederum kein Problem für die Rentenfinanzierung darstellt. BÄCKER weist aber auch darauf hin, dass nicht-demografische Faktoren für die Finanzierung ausschlaggebend sind:

"Durch die Begrenzung der Debatte nur auf demographische Quoten wird verdrängt, dass die Finanzierungsfähigkeit der Alterssicherung entscheidend von der Entwicklung des Arbeitsmarktes (Ausschöpfen des Beschäftigungspotenzials und Abbau der Arbeitslosigkeit) und der Wachstumsraten von Produktivität und Arbeitnehmereinkommen abhängt."

Die Kapitaldeckung sei zudem keine Lösung für die demografische Entwicklung, weil auch die Kapitalmärkte nicht unabhängig davon seien. BÄCKER hält die Argumente der Befürworter einer kapitalgedeckten Altersvorsorge für Augenwischerei:

"Aus gesamtwirtschaftlicher und -gesellschaftlicher Perspektive macht es keinen Sinn, steigende Ausgaben für die Alterssicherung, wenn sie öffentlich, d.h. über Beiträge und/oder Steuern finanziert werden, als Zwangsabgaben und als Ausdruck einer nicht mehr akzeptablen Belastungsexpansion zu erklären, die selben Ausgabenzuwächse demgegenüber, wenn sie privat, d.h. über Versicherungsprämien finanziert werden, für hinnehmbar zu halten."

BÄCKER sieht Differenzen lediglich bei den Einstellungen (anti-etatistische Tendenzen bei Besserverdienenden) und den Entlastungsmöglichkeiten der Politik, die für Mängel der Kapitalmärkte nicht unmittelbar verantwortlich gemacht werden können. Dies vernachlässigt die Möglichkeit von Verantwortungszuschreibungen durch die Finanzdienstleister, die regelmäßig die staatliche Regulierung als Ursache niedriger Renditen der Versicherten behaupten.

BÄCKER sieht in der gegenwärtigen Alterssicherungspolitik Tendenzen, die Rentenversicherung auf eine "steuerfinanzierte, bedarfsbezogene Grundsicherung" zu reduzieren und damit eine Abkehr von der "lohn- und beitragsbezogenen Rentenversicherung". Dies befördere Rentenmodelle, die einem Systemwechsel zur Grundrente entspräche. BÄCKER ist hinsichtlich dieser Modelle skeptisch.

Für BÄCKER stellen die demografischen Herausforderungen für die Rentenversicherung kein Problem dar, sofern stärker steigende Beitragssätze nicht tabu seien. In der Kommunikation der Probleme kapitalgedeckter Altersvorsorgesysteme sieht BÄCKER eine wichtige Aufgabe, denn "die von den Banken und den Privatversicherungen finanziell" unterstützten Lehrstühle und Forschungseinrichtungen würden solche Probleme negieren.

2005

KONRAD, Kai A. & Wolfram F. RICHTER (2005): Zur Berücksichtigung von Kindern bei umlagefinanzierter Alterssicherung,
in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Heft1, S.115-130

KONRAD & RICHTER vergleichen eine Beitragsdifferenzierung (Rente nach Kinderzahl), d.h. die Geburtenförderung, mit den Effekten einer Förderung der Humankapitalbildung, d.h. einer effizienteren Bildungspolitik die zu einer höheren Arbeitsproduktivität führen soll. Die Autoren sehen also in der Bildungspolitik ein funktionales Äquivalent zur Bevölkerungspolitik (Rente nach Kinderzahl), um die Funktionsfähigkeit von Wirtschaft und Sozialstaat zu gewährleisten. Zudem sehen sie in der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine zielgenauere Möglichkeit der Geburtensteigerung. Ihr Fazit lautet deshalb:

"Zusammenfassend gilt, dass von einer Beitragsdifferenzierung keine nachhaltige Lösung der Finanzierungsprobleme umlagefinanzierter Alterssicherungssysteme zu erwarten ist. Die Politik kann das Fertilitätsverhalten zielgenauer und kostengünstiger durch andere Instrumente beeinflussen. Neben dem Fertilitätsverhalten ist das Ausmaß an Ausbildungsanstrengungen junger Menschen für die Entwicklung des Beitragsaufkommens in den Alterssicherungssystemen von zentraler Bedeutung. Als Mittel zur Beeinflussung solcher Investitionsentscheidungen erscheint eine Beitragsdifferenzierung sogar vollkommen ungeeignet."

KONRAD & RICHTER kritisieren das Pflegeurteil des Bundesverfassungsgerichts aus wohlfahrtsökonomischer Sicht als einen "Akt politischer Gestaltung" und nicht als Sachzwang, der sich aus der Funktionsweise der Alterssicherung ergibt:

"Das charakteristische Element der Umlagefinanzierung von Sozialversicherung ist (...) nicht die Konstanz des Beitrags- und Leistungsrechts, sondern der Zwang, Beitragseinnahmen und Leistungsausgaben auf jährlicher Basis zum Ausgleich zu bringen. Von daher stellen Anpassungen im Beitrags- und Leistungsrecht das System nicht selbst infrage; sie sind vielmehr Teil des Systems. Bei einem Rückgang der Beitragszahler werden die notwendigen Anpassungen für die Versicherten allenfalls schmerzhafter spürbar als bei einem stetigen Zustrom. Dies relativiert die These von der konstitutiven Bedeutung der Kindererziehung für die umlagefinanzierte Sozialversicherung. Generative Beiträge sind im finanzierungstechnischen Sinne nicht eigentlich konstitutiv; sie schaffen lediglich die Möglichkeit, die Leistungsausgaben auf mehr Beitragszahler umzulegen und den Anpassungsdruck bei veränderten Bedingungen zu mildern."

Man kann gegen diese mechanistische Auslegung einwenden, dass die Rentenversicherung keineswegs lediglich eine Beziehung zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern darstellt. So beruhen versicherungsfremde Leistungen wie z.B. die Anerkennungszeiten für Kindererziehung, Anerkennung von Ausbildungs- und Arbeitslosigkeitszeiten oder die Rentenzahlung an ehemalige DDR-Bürger nicht auf Leistungen für Beitragszahler, sondern sind gesamtgesellschaftlich zu begründende Aufgaben, die der Steuerfinanzierung bedürfen. Gegen dieses Prinzip wird jedoch seit Jahrzehnten immer wieder verstoßen. Dies ist einer der Hauptgründe für die Finanznot der Rentenkasse.     

FOCUS -Titelgeschichte: Die Chancen der neuen Rente.
Wie Sie sich jetzt optimal absichern können

KOWALSKI, Matthias & Melanie CONTOLI (2005): Das Geheimnis der drei Bausteine.
Altersvorsorge: Die alte Formel "Staatsrente plus Erspartes" hat ausgedient. Alle müssen jetzt ihre Zukunftssicherung neu planen,
in: Focus,
Nr.9 v. 28.02.

KOWALSKI & CONTOLI erklären die Teilprivatisierung der Altersvorsorge zur großen Chance:

"nie hatten die Deutschen größere Chancen, sich eine eigene Privatrente aufzubauen, die mit hoher Sicherheit zuverlässiger sein wird als das marode Staatssystem. Dafür lohnt es sich umzulernen."

Es handelt sich also um einen Beitrag zum Thema "Finanzialisierung". Altersvorsorge wird damit zur neuen Lebensaufgabe. Die neue "Rürup-Rente" soll das "Langlebigkeitsrisiko" abdecken. Es gilt aber auch:

"Stirbt der Versicherte, freut sich die Versicherung, denn das Geld fällt ihr zu."

Neben der neuen "Rürup-Rente" preist der Focus auch die "Riester-Rente" an. Mit der nachgelagerten Besteuerung von Renten könnten sich jedoch für viele Rentner die Renditen verringern.

Offenbar ist der Wille zur privaten Altersvorsorge jedoch nach Ansicht der Versicherungswirtschaft ungenügend ausgeprägt:

"»Viele haben von dem Thema 'private Altersvorsorge' die Nase voll«, befürchtet Gabriele Hoffmann vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) Eine gefährliche Reaktion. Ab April will der Verband mit einer groß angelegten Informationskampagne bei den Deutschen für die neue Rente werben. Dabei müsse man »etwas Positives rüberbringen«, denn mit Versorgungslücken, Rentenlöchern, Renditekürzungen oder sonstigen Horrorszenarien seien die Menschen offenbar genervt worden.
Sollten die Deutschen der neuen privaten Vorsorge die freiwillige Gefolgschaft verweigern, so hat die Regierung schon einen anderen Plan in der Schublade: die Zwangsvorsorge - damit könnten Riester, Rürup & Co. zur Bürgerpflicht werden."

WEIßENBERGER, Erich (2005): Die Umsetzung des Kinder-Berücksichtigungsgesetzes in den Bestandsrenten der gesetzlichen Rentenversicherung,
in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 4-5, April/Mai, S.292-308

WEIßENBERGER beschreibt den immensen bürokratischen Aufwand der Rentenversicherung, der durch das Kinderberücksichtigungsgesetz (KiBG) aufgrund des Pflegeurteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001 und der daraufhin vom Bundestag beschlossenen Umsetzung, erforderlich wurde.

"Mit dem KiBG wurde für die in der sozialen Pflegeversicherung pflichtversicherten Rentner der Geburtsjahrgänge ab 1940 ein Beitragszuschlag für Kinderlose in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten eingeführt."

In der Pflegeversicherung wird der Anteil der Kinderlosen nicht ausgewiesen. Offenbar wusste man bereits damals, dass der Anteil lebenslang Kinderloser, der in der Öffentlichkeit kursierte weit überhöht war. Für die Rentenversicherung ergeben sich jedoch Anhaltspunkte über den Anteil lebenslang Kinderloser für das Jahr 2005:

"Von den insgesamt rund 21 Mio. der zum Rentenauszahlungstag 29.04.2005 laufend geleisteten Zahlungen der gesetzlichen Rentenversicherung (...), ist in 1,07 Mio. Renten jeweils ein Beitragszuschlag für Kinderlose bei Berechnung der Pflegeversicherungsbeiträge berücksichtigt worden. (...).
Inwieweit sich die (...) festgestellten Fallzahlen aufgrund von Rückabwicklungen, in denen die Elterneigenschaft gegenüber dem zuständigen Rentenversicherungsträger nachträglich nachgewiesen werden wird, kurzfristig noch vermindern, bleibt abzuwarten."

Daraus ergibt sich, dass es unter den Rentnern des Jahres 2005 höchstens 5,1 % lebenslang Kinderlose gibt.

SCHWENN, Kerstin (2005): Eichel muß Geld für die Rente zurücklegen.
Wachstumsschwäche erfordert vorgezogenen Bundeszuschuss. IW für Rente nach Kinderzahl,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 09.05.

Kerstin SCHWENN erklärt uns zuerst die Finanznöte der Rentenversicherung, die nichts mit dem demografischen Wandel zu tun haben. Nichtsdestotrotz wird uns eine Rente nach Kinderzahl als angebliche Lösung der Finanzprobleme vorgeschlagen. Das arbeitgebernahe IW Köln sieht aufgrund von Fehleinschätzungen zur Geburtenentwicklung eine Kopplung der Rente an die Kinderzahl als Ausweg aus der Misere. Dazu wird uns eine Grafik präsentiert, die mit Das Ende der geburtenstarken Jahrgänge überschrieben ist und uns folgende Kinderzahlen einzelner Frauenjahrgänge präsentiert:

Frauenjahrgang Frauen ohne Kind Frauen mit 1 Kind Frauen mit 2 Kindern Frauen mit 3 Kindern Frauen mit 4 und mehr Kindern durchschnittliche Kinderzahl
1940 11 % 26 % 34 % 19 % 10 % 1,97
1945 13 % 30 % 35 % 14 % 8 % 1,78
1950 16 % 29 % 34 % 13 % 7 % 1,69
1955 22 % 25 % 34 % 12 % 7 % 1,62
1960 26 % 22 % 32 % 12 % 8 % 1,60
1965 32 % 18 % 31 % 11 % 8 % 1,48

Auf dieser Website wurde dargelegt, dass diese nationalkonservativen Schätzungen zur Kinderlosigkeit weit überhöht sind. Zudem wird uns verschwiegen, dass es sich hier um Schätzwerte für Westdeutschland und nicht für Deutschland handelt.

Mit der Rente nach Kinderzahl sollen Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden und als lachende Dritte können die Arbeitgeber sich über eine Entlastung freuen. Es geht hier letztlich also um eine Entsolidarisierung der Arbeitgeber.

SCHWENN erklärt uns, dass der Rentenanspruch von Kinderlosen (nicht jedoch von Eltern mit zu wenig Kindern) folgendermaßen gekürzt werden soll:

"Nach dem Modell soll derjenige, der keine Kinder erzieht, gegen die künftigen Beitragszahler-Generationen keinen vollen Rentenanspruch mehr haben. Vielmehr soll ein Anspruch nur in der Höhe entstehen, in der er sich indirekt - beispielsweise über Steuern - an Kindererziehungskosten anderer beteiligt. Dieser Anteil liege nach Berechnung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft bei 45 Prozent, heißt es beim IW."

Ein weiterer Fehlschluss liegt darin, dass von einer sinkenden Geburtenrate ausgegangen wird, sodass man auf unrealistisch niedrige Ausgaben für die Beitragsrente im Jahr 2030 kommt. Für steigende Geburtenraten werden uns dagegen keine Berechnung vorgelegt. Daran erkennt man unseriöse Berechnungen, denn seriöse Rechnungen enthalten immer auch Szenarien für alternative Entwicklungen.

KAUFMANN, Franz-Xaver (2005): Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt a/M: Suhrkamp Verlag

SCHMIDT, Helmut (2005): Unsere Rentensünden.
Immer weniger Beitragszahler, immer mehr Rentner: Die möglichen Auswege sind seit langem bekannt und tauchen doch in den Wahlprogrammen nicht auf,
in: Die ZEIT Nr.32 v. 04.08.

"Eigentlich wäre seit Anfang der sechziger Jahre erkennbar gewesen, dass die Kinderzahl pro Frau in beängstigendem Maße sank",

meint Altbundeskanzler SCHMIDT. Im Nachhinein ist man eben immer schlauer, nur damals arbeitete man nach den gleichen Berechnungsprinzipien wie heute.

Noch 1963 wurde von Karl SCHWARZ eine Bevölkerungsvorausberechnung geliefert, die einen rasanten Bevölkerungszuwachs prognostizierte. Heute wird mittels der gleichen Prinzipien, also beruhend auf den Vorstellungen von gestern, ein weiterer Geburtenrückgang vorausgesagt. Nichts spricht dafür, dass wir heute schlauer sind als damals. Es kommt sogar noch schlimmer: Unsere Bevölkerungsstatistik ist völlig veraltet. Für Ostdeutschland sind seriöse Trendaussagen überhaupt nicht mehr zu treffen, weil unsere Statistik ehezentriert ist.

Über 50 % der Geburten in den neuen Ländern sind außerehelich. Die Zuordnung dieser Geburten zu den Frauen ist deshalb nicht möglich. Über den Anteil der Kinderlosen kann auch deswegen nur spekuliert werden. Olga PÖTZSCH vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden hat dieses Desaster, das zwar seit langem bekannt ist, aber selten thematisiert, deutlich gemacht.

Sowohl die Bundesregierung als auch das Bundesverfassungsgericht betreibt Politik, ohne zu wissen, ob die Annahmen über die Bevölkerungsstruktur stimmen. Entscheidend ist, welche Experten jeweils gehört werden.

Das Pflegeurteil aus dem Jahr 2001 lieferte den Präzedenzfall für diese Art von politischer Willkür, der die empirische Basis fehlt.

SEIDL, Claudius & Heinrich WEFING (2005): Wir brauchen eine außerparlamentarische Opposition.
Unsere Gesellschaft verpraßt das Vermögen und die Ressourcen ihrer Kinder und Enkelkinder - und wenn sich das nicht schnell ändert, drohen dramatische Konsequenzen: Die Rentenkassen werden sich leeren, die sozialen Sicherungssysteme kollabieren. Junge Bundestagsabgeordnete wehren sich. Eine Krisensitzung,   
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 04.09.

Alexander BONDE (Grüne), Günter KRINGS (CDU), Swen SCHULZ (SPD) und Daniel BAHR (FDP) - allesamt Politiker aus der Generation Golf - schwadronieren über Generationengerechtigkeit. Um sich zu profilieren ist ihnen JEDES Mittel recht, selbst vor sozialpolitischer Demagogie wird da nicht zurückgeschreckt:

"Krings: Die wirtschaftliche Krise heute, die hat mit Demographie noch gar nichts zu tun. Aber darüber muß man notfalls hinwegsehen. Man darf dann schon mal sagen: Die Schwierigkeiten, die wir jetzt haben, das sind die Vorboten der künftigen Katastrophen".

Darf man diese Politiker überhaupt noch ernst nehmen, wenn sie wissentlich Lügen in Umlauf bringen?

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 05. März 2014
Update: 09. Februar 2019