2014
Martin Werding (2014): Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung
(Auftragsstudie der Bertelsmann Stiftung)
Nachdem die Welt und
die FAZ bereits letzte Woche auf die Kampagne gegen
Kinderlose vorbereitet hat und Hans-Werner SINN bereits im
November 2013 einen "Versuchsballon" gestartet hat, kann nun die
Bertelsmann-Stiftung ihre "neue Studie" in den Medien mit
der Pressemitteilung Fehler im System: Familien in
Rentenversicherung benachteiligt lancieren.
Der neoliberalen Bertelsmann
Stiftung geht es primär um
Entlastung des
Kapitals (Prinzip des katholischen Sozialstaats). Dies geht
am einfachsten, wenn man die Arbeitnehmer gegeneinander
ausspielt, z.B. indem man Eltern gegen Kinderlose aufhetzt.
Wie ideologisch die Studie
von Martin WERDING ist, beweist bereits, dass
"familienpolitische Leistungen" nicht danach bemessen werden,
inwieweit sie Kinderlosen tatsächlich zu Gute kommen, sondern
danach, ob sie auch Kinderlosen zu Gute kommen können. Im ersten
Falle müssten alle Maßnahmen anteilsmäßig berücksichtigt werden,
im zweiten Fall werden Maßnahmen durch gezielte
Nichtberücksichtigung außen vor gelassen:
"Mit einer
umlagefinanzierten Absicherung eines Großteils der Bevölkerung
bei Alter, Krankheit und Pflegebedürftigkeit greift der Staat
tief in das Verhältnis der Generationen und in die Sphäre der
Familie ein – weit tiefer als etwa im Feld der Familien- und
Bildungspolitik. (...). So enthält die derzeit jüngste
»Bestandsaufnahme der familienbezogenen Leistungen und
Maßnahmen des Staates»« für das Jahr 2010 (Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013a) bei einer
denkbar weiten Abgrenzung insgesamt 156 Einzelmaßnahmen mit
einem finanziellen Gesamtvolumen von 200,3 Mrd. Euro. Lässt
man Maßnahmen wie das Ehegattensplitting unberücksichtigt, die
nicht familien-, sondern ehebezogen gewährt werden, verbleiben
Ausgaben in Höhe von 125,5 Mrd. Euro, von denen 52,9 Mrd. Euro
als verfassungsrechtlich zwingender Familienlastenausgleich
und 55,4 Mrd. Euro als vom Gesetzgeber aktiv gestaltete
Familienförderung klassifiziert werden (Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013b: 4). Als
»Lastenausgleich« – und somit immerhin nicht als
»Familienförderung« – werden dabei auch die Ausgaben für die
Mitversicherung von Kindern in der Kranken- und
Pflegeversicherung (zusammen 17,1 Mrd. Euro) verbucht.
Dasselbe gilt für die Beiträge des Bundes für die Anrechnung
von Kindererziehungszeiten im Rentensystem (11,6 Mrd. Euro).
Da die laufenden Ausgaben für daraus resultierende
Rentenansprüche nur 6,4 Mrd. Euro betragen, erweist sich der
Rest allerdings als allgemeine Subvention des Rentenbudgets."
(2014, S.16)
Das Ehegattensplitting z.B.,
das fast ausschließlich Eltern und nicht nur Kinderlosen zu Gute
kommt, wird ideologisch herausgerechnet und geht damit erst gar
nicht in die Betrachtungen von WERDING ein.
Dies ist umso
unverständlicher, da WERDING beansprucht das "durchschnittliche
Erwerbsleben", also den Lebensverlauf und nicht nur eine
Lebensphase (Familien nach der Familiengründung) zu betrachten:
"Die Beiträge, die ein im
Jahre 2000 geborenes Kind bei in jeder Hinsicht
durchschnittlichem Erwerbsverhalten im Laufe seines gesamten
Lebens unter dem geltenden Recht an die gesetzliche
Rentenversicherung zahlen wird, übersteigen die dadurch
erworbenen Rentenansprüche voraussichtlich um rund 158.300
Euro (Barwert für 2010). Berücksichtigt wird dabei auch die
von einem solchen Kind im Durchschnitt zu erwartende Zahl von
Kindeskindern, die die Rente des ersten Kindes im Wesentlichen
selbst finanzieren werden." (2014, S.9)
In Deutschland blieben 2012
ca. 20 % der Frauen "lebenslang" kinderlos. Das Statistische
Bundesamt lieferte in seiner Broschüre
Daten zu Geburten, Kinderlosigkeit und Familien
(Tabellen zur Pressekonferenz am 07.11.2013) jedoch keine Daten
wie viele dieser Frauen verheiratet waren, also in den Genuss
des Ehegattensplittings kamen. Offenbar war der Anteil
ideologisch nicht ausschlachtbar, sonst wäre dies ganz sicher in
den Medien breit ausgetreten worden. Nähme man an, dass alle
kinderlosen Frauen verheiratet wären (was nicht der Fall ist,
sondern lediglich die Obergrenze darstellt), dann würden Eltern
mindestens zu 80 % vom Ehegattensplitting profitieren. Rechnet
man das auf WERDINGs Rechnung um, dann müssten mindestens 59,8
Milliarden Leistungen für Familien mehr veranschlagt werden.
Betrachtet man die
tatsächliche und nicht nur die ideologische Belastung, dann
werden nicht Kinderlose, sondern Eltern in der
Rentenversicherung subventioniert.
Dabei
ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass - entgegen der
Behauptung der Studie - keineswegs von der momentanen Situation
ausgegangen wird, sondern Daten der Vergangenheit interpretiert
werden, die man genauso gut anders interpretieren könnte:
"Demographie:
Die zusammengefasste Geburtenziffer bleibt dauerhaft konstant
auf ihrem langfristigen Durchschnittswert von knapp 1,4
Geburten je Frau. Die Lebenserwartung bei Geburt erhöht sich
bis 2060 für Frauen auf 91,2 Jahre, für Männer auf 87,7 Jahre.
Der Wanderungssaldo beträgt ab 2020 konstant 150.000 Personen
pro Jahr"
(2014, S.88),
heißt es zu den Annahmen von
WERDING.
Kein einziger Frauenjahrgang hat bislang nur 1,4 Geburten pro
gebärfähiger Frau erreicht. Stattdessen liegt die
Kohortenfertilität bei 1,5 Geburten, wenn man die um 1965
geborenen Frauen betrachtet.
Die um 1970 geborenen Frauen werden voraussichtlich sogar
eine höhere Fertilität erreichen.
Die aktuelle Schätzung des Statistischen Bundesamtes für 2013
deutet zudem auf eine steigende Geburtenrate hin - und dabei
sind noch nicht einmal die Ergebnisse des Zensus 2011
eingerechnet, die zusätzlich eine Steigerung der Geburtenrate
erwarten lassen.
WERDING rechnet mit einem
Wanderungssaldo von 150.000 Personen, während die
Saldi derzeit doppelt so hoch sind.
FAZIT: WERDING und die
Bertelsmann Stiftung machen mit falschen Zahlen Stimmung
gegen Kinderlose.
KAMMHOLZ, Karsten/SIEMS, Dorothea/WIEDEMANN, Johannes (2014):
Wirtschaft macht Front gegen Rentenpläne.
Koalition
will 60 Milliarden Euro zusätzlich bis 2020 ausgeben.
Mittelstandsvereinigung der Union fürchtet Welle von
Frühverrentungen,
in: Welt v. 17.01.
CREUTZBURG, Dietrich (2014): Koalition gegen höheren Beitrag für
Kinderlose.
Kinderlose
kämen in der Rentenversicherung zu gut weg, sagt eine Studie.
Sollen sie deshalb künftig höhere Beiträge zahlen? Das
Arbeitsministerium und die Rentenversicherung winken ab,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.01.
Dietrich CREUTZBERG
rekapituliert nochmals ausführlich die
Argumentation von
Martin WERDING, denn auch Falsches setzt sich fest, wenn
es oft genug in den Medien wiederholt wird. Erst in den
letzten Sätzen werden die Fakten präsentiert:
"Die Deutsche
Rentenversicherung wertete die Überlegungen der
Bertelsmann-Stiftung am Freitag als »unrealistische
Gedankenspiele«. Sie erläuterte, dass die Gesamtheit der
durch Kindererziehung erzielbaren Rentenanwartschaften schon
heute den rechnerischen Gegenwert einer Beitragszahlung von
bis zu 34.900 Euro je Kind erreichen könnten."
NIENHAUS, Lisa
(2014): Frau Merkel und die kleine Clara.
Die Rentenpläne
der großen Koalition werden die Jugend von heute belasten. Noch ist
sie zu jung, um sich zu wehren. F.A.S.-Redakteurin Lisa Nienhaus
erklärt ihrer Tochter, warum die Rentenreform teuer für sie wird,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 19.01.
Die FAS macht
Stimmung gegen den geplanten Rentenentwurf der
Bundesregierung, der die Omas von NIENHAUS' Kind besser
stellen würde und damit den "privaten Generationenvertrag"
(Solidarität innerhalb der Familie) zu Ungunsten des
"öffentlichen
Generationenvertrags" (Rente) stärken würde:
"Deine Omas zum Beispiel
bekommen beide vier Rentenpunkte mehr, das sind im Schnitt
112 Euro mehr im Monat – schließlich haben sie je vier
Kinder groß gezogen. Und Kinder versorgen ist auch Arbeit.
(...). Dafür könnten sie einmal im Monat mit dem ICE zu uns
und wieder zurück fahren und euch sogar noch jedem ein Buch
als Geschenk mitbringen."
Daran ist schon falsch,
dass es bei der Rente nur um Generationenbeziehungen geht, wie
NIENHAUS weismachen möchte. Es geht einerseits um die Relation
von Beitragszahlern und Beitragsempfängern. Diese ist abhängig
von der Konjunktur (statt von Generationenverträgen) und der
Anzahl versicherungspflichtiger Arbeitsplätze. Beitragszahler
müssen nicht in Deutschland geboren sein, sondern sie können
auch zuwandern.
Ganz entscheidend ist
jedoch die Entwicklung der Produktivität und wie diese in der
Bevölkerung verteilt wird. Dieser Aspekt bleibt ausgeblendet,
wenn nur von Generationenverträgen schwadroniert wird. Die
Grundsatzfrage ist deshalb, warum das Kapital immer mehr
entlastet und die Arbeit immer mehr belastet wird. Das
betrifft auch nicht nur die Rente, sondern alle Zweige der
Sozialversicherung.
Dann wäre z.B. darüber zu
streiten, warum z.B. die Mütterrente, wenn sie schon
eingeführt werden soll, von den Beitragszahlern und nicht von
allen bezahlt werden soll. Wenn Kinder so wichtig wären für
die ganze Gesellschaft wie uns die FAS immer sagt,
warum soll also nur die Arbeit und nicht auch das Kapital
daran beteiligt werden?
Gerne wird in der FAS
behauptet, dass uns Vollbeschäftigung drohen würde. Wenn dem
wirklich so wäre, was hindert uns also daran die
Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit wieder mehr in
die Balance zu bringen?
Das alles erzählt NIENHAUS
nicht, denn dann wäre ihr schöner Job als
Wirtschaftsredakteurin bei der FAS weg...
RUDZIO, Kolja
(2014): Milliarden für die Alten.
Wie gerecht sind die Rentenpläne der großen Koalition gegenüber der
jüngeren Generation,
in: Die ZEIT Nr.5 v. 23.01.
"Ein Maßstab für Gerechtigkeit könnte sein, dass jede
Rentnergeneration nur den Anteil von den Einkommen der
Jüngeren für sich verlangt, den sie selbst früher abgegeben
hat. Danach dürfte der Rentenbeitrag heute nur bei 17 oder 18
Prozent liegen, denn so wenig haben viele derzeitige
Ruheständler einst in die Rentenkasse eingezahlt. Stattdessen
steigt der Abzug vom Lohn tendenziell an",
meint Kolja RUDZIO im
neoliberalen Wirtschaftsteil.
Generationengerechtigkeit nennt sich der Versuch, das
Kapital zu entlasten, indem man die Arbeitnehmer (Eltern gegen
Kinderlose, Reiche gegen Arme usw.) gegeneinander ausspielt.
Anfang der Nuller Jahre hat
man den Jungen sagenhafte Renditen versprochen, damit
sie die Teilprivatisierung der Altersvorsorge akzeptieren.
Nachdem sich diese Renditeversprechungen als haltlos erwiesen
haben, hetzt man nun einzelne Arbeitnehmergruppen
gegeneinander auf. Wenn zwei sich streiten, freut sich der
Dritte: das Kapital.
"Und künftige Generationen
werden eine leere Rentenkasse vorfinden, die ihnen kaum noch
Gestaltungsspielraum lässt",
verkünden uns Markus
DETTMER & Christian REIERMANN im aktuellen Spiegel.
Schon seit fast 40 Jahren drohte der Rentenkasse der Kollaps.
Demnach müsste unser Rentensystem schon längst
zusammengebrochen sein. 1985 rechnete uns z.B.
Renate MERKLEIN
im Spiegel ein
Horrorszenario für das Jahr 2000 vor.
Allen Horrorszenarien zum
Trotz, mit denen Rentenreformen als alternativlos durchgesetzt
werden sollten, wächst Deutschland bereits seit 3 Jahren und
statt der 59,14 Millionen Einwohnern, lebten im Jahr 2000 ca.
67 Millionen Einwohner in Westdeutschland. Das sind 8
Millionen Menschen mehr als uns der Spiegel im Jahr
1985 als jene Variante mit der größten Wahrscheinlichkeit
präsentiert hat. In einem Zeitraum von nur 15 Jahren haben
sich unsere Bevölkerungsstatistiker um 8 Millionen Menschen
verrechnet!
Man sollte also statt
Vorausberechnungen der Gegenwart, viel mehr die Prognosen der
Vergangenheit heranziehen. Das bewahrt vor Hysterie, die
lediglich dem Kapital nützt.
BAUREITHEL, Ulrike
(2014):
Die Generationen-Lüge.
Groko: Kaum liegen in Berlin die Rentenpläne auf dem Tisch, geht das
Gezeter gegen die Alten wieder los. Aber das ist ein Scheingefecht,
in: Freitag Nr.4 v. 23.01.
HANDELSBLATT-Titelgeschichte:
Die Renten-Illusion.
Wer für die schwarz-roten Beschlüsse zahlen muss |
RÜRUP, Bert & Peter THELEN
(2014):
Die Renten-Illusion.
Die Regierung dreht die Rentenpolitik der letzten 25 Jahre zurück.
Mehr als 160 Milliarden Euro werden Rente mit 63 und Mütterrente
kosten - vor allem die 20- bis 45-Jährigen müssen zahlen. Bisherige
Reform-Erfolge werden vernichtet,
in: Handelsblatt v. 24.01.
Bert RÜRUP, Politikberater
und Lobbyist der Finanzbranche, und Peter THELEN,
Handelsblatt-Redakteur, loben die 1992er Rentenreform
einer "informellen Großen Koalition", die just im November
1989 verabschiedet wurde:
"Sie hatte den Mut, die
Folgen bis 2030 durchzurechnen. Die Idee damals: Lasten
zwischen Rentnern, Versicherten und Steuerzahler gerecht zu
verteilen"
Bis zur Finanzkrise im Jahr
2007 verlief alles optimal für die Kapitaldeckungslobby. Das
Beitragssatzstabilitätsziel für 2030 konnte vom Jahr 1989 von
28 % auf 24 % im Jahr 1999 und sogar auf bis zu 22 % im Jahr
2007 verringert werden. Dies ging zuallererst zu Lasten der
Arbeitnehmer. Von dieser Position aus, kritisieren die Autoren
nun die Rentenpläne der Regierung:
"Der größte Sündenfall
(...) ist die Rente mit 63 (...). Das bedeutet praktisch die
Rente mit 61. So verfällt die neue Große Koalition dem alten
Fehler: flüchtige Überschüsse der Rentenversicherung - die
Wirtschaft floriert seit 2009, die Bevölkerung altert nicht
mehr so schnell - werden in langfristige Ausgaben
verwandelt.
Über die (...) Mütterrente (...) läßt sich immerhin
streiten. Hier schmerzt, dass dieses Geld nur zum sehr
geringen Teil aus Steuermitteln bezahlt werden soll und zum
Großteil aus Beiträgen."
Man muss die Kritik an der
Rente mit 63 als gezieltes Ablenkungsmanöver betrachten, denn
sie kostet erstens weniger als die Mütterrente und zweitens
betrifft sie nur sehr wenige Menschen:
"durch die Rente mit 63
(werden) vor allem die Fachkräfte in den Ruhestand gedrängt
(...), die die Wirtschaft eigentlich braucht."
Von einem allgemeinen
Fachkräftemangel kann jedoch keine Rede sein, denn sonst
müsste das sich an der Lohnentwicklung abzeichnen. RÜRUP &
THELEN machen sich deshalb zu Verbündeten des
Elitenfeminismus, indem sie eine Schlagseite bei der
Geschlechtergerechtigkeit hervorheben:
"Gezielte Geschenke für
heute etwa 60-jährige Männer aus der gewerblichen
Wirtschaft",
schreiben die Autoren
deshalb. Außerdem behaupten sie "unvermeidliche
Intragenerationenkonflikte", während intragenerationelle
Konflikte viel wahrscheinlicher sind. Zum einen, weil die
Vermögensverteilung bei älteren Menschen viel größer ist als
bei Jungen und zweitens, weil eng begrenzte
Frühverrentungsprozesse wie sie mit der "Rente mit 63"
beschlossen werden sollen, die soziale Ungleichheit innerhalb
der Um die 60-Jährigen erhöhen.
Um
den Druck auf die Regierung zur Revidierung der Rentenpläne zu
erhöhen, setzen die Autoren auf Vorausberechnungen bis zum
Jahr 2050:
"Der stärkste Schub an
Rentnern steht noch bevor: Er wird zwischen 2020 und 2040
kommen (...). Die Relation der 65-Jährigen und Älteren zu
den 20- bis 64-Jährigen wird dann von derzeit gut 0,34 auf
0,63 steigen. Seit mehreren Jahrzehnten rechnet die
Regierung aber die Demografie nur bis 2030. Aufforderungen,
den Zeitraum bis 2050 auszudehnen, wurden bislang von allen
Regierungen ignoriert",
jammern RÜRUP & THELEN.
Tatsächlich taugen
Vorausberechnungen bis zum Jahr 2030 nichts, weil - was
die Autoren verschweigen - sich die Lage in der Vergangenheit
viel positiver entwickelt hat, als es die Vorausberechnungen
der Vergangenheit weismachen wollten. So hat sich eine
Prognose des Jahres 1985 um sage und schweige innerhalb von 15
Jahren um ca. 8 Millionen Menschen verschätzt.
"Fleißige
Kommissionen auf Landes-, Bundes- oder Parteienebene, die
Szenarien über die künftige Größe des deutschen Volkes
entwickeln, kommen allenthalben zu dem Schluß, daß der
Bundesrepublik bei »anhaltend niedrigem Geburtenniveau« eine
drastische »Verminderung der Einwohnerzahl« drohe - so etwa
die vom Bundeskabinett eingesetzte »Arbeitsgruppe
Bevölkerungsfragen«. Nach den Modellrechnungen dieser
Arbeitsgruppe werden im Bundesgebiet Anno 2030 bestenfalls
nur noch gut 43 Millionen, schlechtestenfalls gar lediglich
33,6 Millionen Deutsche leben. Nach dieser düstersten
Prognose wird die Zahl der Deutschen in der Bundesrepublik
bereits in 15 Jahren um zwölf Prozent und damit von derzeit
rund 57 Millionen auf etwa 50 Millionen sinken.
(...).
Trotz der unterstellten Immigrationszunahme rechnen die
amtlichen Schätzer damit, daß sich schon für das Jahr 2000
nur noch eine »Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik von
rund 59,14 Millionen« ergebe, »die bis zum Jahr 2030 auf
rund 45,74 Millionen weiter zurückgeht«.
(...).
Gegenüber dem derzeitigen Bevölkerungsstand von 61 Millionen
aber wäre das ein Schwund von rund 25 Prozent."
(Spiegel
Nr.52 v. 23.12.1985, S.69)
Die 1985 im Spiegel
veröffentlichten Zahlen im Zusammenhang mit der
Renten-/Babykrise liegen weit unter dem tatsächlichen
Bevölkerungsstand des Jahres 2000. Die Tabelle zeigt die
Zahlen im Überblick:
|
Bevölkerungsstand (früheres Bundesgebiet) im Jahr 2000 |
Bevölkerungsentwicklung |
Prognose |
59,14
Millionen |
Rückgang um 1,86 Millionen Einwohner (erwähnte
Basiszahl: 61 Millionen) |
tatsächlicher Bevölkerungsstand (31.12.2000) |
67,14
Millionen |
Zunahme um 6,14 Millionen Einwohner |
Prognosefehler |
8
Millionen (12 %) |
8
Millionen (12 %) |
Der angekündigte
Bevölkerungsrückgang ist also ausgeblieben. Auch für die
Zukunft ist mit fatalen Fehlprognosen zu rechnen, da die
Geburtenrate höher ist als in den bisherigen Annahmen
berücksichtigt. Familienfundamentalisten wie
Martin WERDING
nutzen solche Horrorszenarien dann z.B. zu Forderungen für
eine Rente nach Kinderzahl, um wenigstens die Berücksichtigung
von Kindererziehungszeiten widerstandslos durchsetzen zu
können.
Es gäbe also viel eher
Gründe, Vorausberechnungen völlig zu verbieten, weil sie eine
Politik im Ausnahmezustand zur Regel macht und damit
demokratische Prozesse außer Kraft setzt. Die Basta-Politik
der Agenda 2010 ist dafür das beste Beispiel.
Damals wurde eine Bevölkerungsvorausberechnung mit nur einer
einzigen Variante als Grundlage zur Rechtfertigung der
Regierungspolitik berechnet, um jegliche Kritik schon im Keim
zu ersticken.
Dabei gehen selbst die
Autoren davon aus, dass das Rentenproblem sich durch mit dem
Tod der Babyboomer von selbst erledigt. Es wäre also nur
lediglich eine Lösung für eine einzige Generation zu suchen.
Für einen Systemwechsel besteht dagegen aufgrund des
demografischen Wandels keine Notwendigkeit.
"Erst wenn in etwa 35-40
Jahren diejenigen, die der Babyboomergeneration der 1950er-
und 1960er-Jahre angehören, verstorben sein werden, wird
sich der Druck auf die Rente nur noch wenig erhöhen",
schreiben RÜRUP & THELEN.
Viel entscheidender ist nicht die Altenlast und die
Generationengerechtigkeit, mit der die Arbeitnehmer
gegeneinander ausgespielt werden sollen, sondern die
Verteilung des Produktivitätsfortschritts in der Bevölkerung.
Davon lenkt die vom Kapital angezettelte Rentendebatte ab.
Bezeichnenderweise wird der
Artikel von einem "Aufstand der Leistungsträger" begleitet,
d.h. Statements von Repräsentanten des Kapitals, der darauf
hindeutet, dass es nicht um Generationengerechtigkeit, sondern
um Reich gegen Arm bzw. Kapital gegen Arbeit geht.
SIGMUND, Thomas
(2014): "Zum Verzweifeln gebracht".
Meinhard Miegel: Der Demografie-Experte hält die Rentenpolitik für
einen Irrweg. Ein Gespräch über die Verführungskünste von Politik,
die Notwendigkeit längerer Lebensarbeitszeit - und warum der
Bürgeraufstand ausbleibt,
in: Handelsblatt v. 24.01.
Meinhard MIEGEL, dem die
leistungsbezogene Rente prinzipiell als Auslaufmodell gilt und
der für eine steuerfinanzierte Grundsicherung plädiert, will
in der verzögerten Wirkung der Rentenreformen die Ursache für
mangelnden Widerstand sehen:
"Weil die finanziellen
Folgen solcher Rentenpläne schleichend eintreten."
Auch MIEGEL tritt für
Bevölkerungsvorausberechnungen bis zum
Jahr 2050 ein, weil sich damit schöne Horrorszenarien
basteln lassen.
Die schleichende Wirkung
ist tatsächlich ein Problem. Das hängt jedoch nicht mit den
derzeitigen Rentenplänen zusammen, sondern mit dem 2005
durchgesetzten Nachhaltigkeitsfaktor, dessen Wirkungsweise
gravierende Folgen haben wird, über die uns die neoliberalen
Vorsorgelobbyisten nicht aufklären.
Hierzu ist der Artikel
Generationengerechtigkeit und Rentenreform am Beispiel der
Rentenanpassungsformel von Arnaud LECHAVELIER in der
Zeitschrift für Sozialreform aufschlussreich. Der Autor
kritisiert, dass dem gegenwärtigen Nachhaltigkeitsfaktor und
damit dem Konzept der Generationengerechtigkeit ein
ahistorisches Konzept unterliegt, das intragenerationelle
Ungleichheiten außer Acht lässt. LECHAVELIER schlägt deshalb
einen Nachhaltigkeitsfaktor vor, der weder intragenerationelle,
also soziale Ungleichheiten, berücksichtigt, als auch
intergenerationelle Ungleichheiten, d.h.
Generationengerechtigkeit bzw. Investitionen in die Zukunft.
Das wäre zur heutigen Situation, bei der einzig die
Beitragssatzstabilität zielrelevant ist, zumindest ein kleiner
Fortschritt. Denn im Grunde ist das ganze Konzept der
Generationengerechtigkeit angesichts der Unvorhersehbar der
Zukunft obsolet. Stattdessen wären Konzepte der Reversibilität
von weitreichenden Entscheidungen erforderlich.
Denn was passiert, wenn die
Bevölkerungsschrumpfung moderater verläuft oder sogar ein
Geburtenboom die Jugendlast und Arbeitslosigkeit in die Höhe
schnellen lässt? Was, wenn die Zuwanderung kein
vorübergehendes Krisenphänomen, sondern nur der Beginn
verstärkter Völkerwanderungen ist?
Die Fixierung der Politik
auf eine starke Schrumpfung der Bevölkerung könnte fatale
Folgen haben, die von der Linearitätsfiktion abweichende
zukünftige Entwicklungen außer Acht lässt.
GOETTLE, Gabriele (2014):
Demografische Desinformation.
Statistikprofessor Gerd Bosbach erklärt die
Tricks,
in: TAZ v. 27.01.
Gabriele GOETTLE erzählt
wie der Statistiker Gerd BOSBACH sich seinen Ruf als
Demografieexperte erkämpfte und warum die Desinformation in
Sachen demografischer Wandel immer noch vorherrscht:
"Das
Berlin-Institut, ein privates Meinungsbildungsinstitut
hinter dem unter anderem Versicherungskonzerne stehen, hat
2006 eine sogenannte Studie vorgestellt. Die
Horrormeldung im O-Ton: »Deutschland auf Schrumpfkurs« und
»Nach dem Mensch kommt der Wolf«. Behauptet wurde, dass wir
Deutschen weltweit die geringste Geburtenrate haben. Das war
die Meldung Nummer eins in allen Medien. Ich habe am
nächsten Tag nachgeguckt und fand eine EU-Statistik, wonach
Deutschland unter den 25 EU-Staaten Platz 15 einnahm. Ich
bin damit an 50 bis 60 Journalisten herangetreten. Kein
Wort. Nichts! Das hat mich empört, dass alle solche
Fälschungen durchgehen lassen. Ich habe das Statistische
Bundesamt kontaktiert. Nichts! Ich habe die dpa kontaktiert,
die diese Nachricht verbreitet hatte, und da sagte man mir,
eine junge und unerfahrene Redakteurin hätte das auf der
Pressekonferenz des Instituts gehört und es passte eben in
die »Denkwelt«. Wenn sie eine Stunde prüfen würden, verkauft
eine andere Presseagentur derweil die Meldung. Sie haben
danach zwar die richtigen Daten veröffentlicht, aber ohne
die falschen zu dementieren. Der Fernsehsender NDR-Kultur
hat dann einen Beitrag gemacht, ich erzählte von meinen
Aufklärungsversuchen, der Mann von der dpa hat sich
entschuldigt und jemand vom Statistischen Bundesamt hat die
Richtigstellung gebracht. Aber ich finde heute noch
Meldungen, die sich auf die alte Falschmeldung beziehen."
Zur Zeit überschlagen sich
die Medien wieder mit demografischen Horrorzahlen und solange
die Rentendebatten nicht in eine kapitalfreundliche Richtung
gebracht wurden, werden wir tagtäglich mit demografischer
Desinformation gefüttert werden. Die
Wirtschaft will Berechnungen für das Jahr 2050 und man kann
deshalb ziemlich sicher sein, dass diese demnächst publiziert
werden. Man kann sie dann aber vergleichen mit jenen aus
Zeiten der Agenda 2010. Die Zahlen könnten sich ganz schnell
als Bumerang erweisen, denn die publizierten Horrorzahlen der
vergangenen Jahrzehnte lassen sich nicht so schnell
übertrumpfen! Höchstens mit Falschmeldungen...
SIEMS,
Dorothea (2014):
Rente mit 63
schafft eine gefährliche Illusion.
Demografie-Studie plädiert für lebenslanges
Lernen und flexible Übergänge in einen späteren Ruhestand,
in: Welt v. 31.01.
"Einzelne Angaben können
sich insbesondere durch Zeitablauf oder infolge von
gesetzlichen Änderungen als nicht mehr zutreffend erweisen.
Für die Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität
sämtlicher Angaben kann daher keine Gewähr übernommen
werden",
heißt es in dem
neoliberalen Pamphlet
Demografie - Strategie 2030 aus dem Dorothea SIEMS
zitiert.
Zur Prognosensicherheit
erhält man in der Broschüre lediglich
demografische Desinformation. Man greift sich dazu eine
Bevölkerungsvorausberechnung heraus, deren Zahlen - aufgrund
falscher Annahmen - in einem einzigen Punkt - die geringste
Abweichung von der gegenwärtigen Zahl hat. Man verschweigt
jedoch, dass die zu politischen Zwecken in Umlauf gebrachten
Zahlen meist völlig daneben liegen.
So weist eine
Bevölkerungsvorausberechnung, mit der 1985 eine Rentendebatte
ausgelöst wurde, eine Fehlprognose um 12 % bzw. 8 Millionen
Menschen für Deutschland im Jahr 2000 auf. Man sollte
deshalb ALLE Vorausberechnungen der letzten Jahrzehnte
überprüfen und auf ihre Abweichungen zur Realität testen. Das
wird aber nicht getan. Warum wohl nicht? Man möchte sich diese
Blamage ersparen...
SIEMS schreibt von einer
"brutal auf uns zurollende Pflegelawine". Stattdessen steht in
der Studie:
"Die Menschen bleiben
immer länger gesund. Die Gruppe der »Senioren« wurde bis vor
wenigen Jahren mit der Gruppe der im Erwerbs- und
gesellschaftlichen Leben Inaktiven assoziiert. Inzwischen
wird sie in die Gruppe der aktiven Senioren, die noch rüstig
und in vielerlei Hinsicht und mit steigender Tendenz aktiv
sind, und jene der hilfe- und pflegebedürftigen Greise bzw.
Hochbetagten (80-Jährige und Ältere) unterschieden."
Wenn aber dieser Trend
weiter bestehen bleibt, dann müssten für 2030 Pflegebedürftige
nicht als 80-Jährige, sondern z.B. als 85-Jährige definiert
werden. Dies wird jedoch von Apokalyptikern wie RAFFELSHÜSCHEN
nicht gemacht, denn Horrorszenarien werden so konstruiert,
dass zwar die Lebenserwartung als steigend angenommen wird,
der Gesundheitszustand aber als gleichbleibend. Bei langen
Zeiträumen ergeben sich daraus märchenhafte Horrorszenarien.
Beispielhaft
für falsche Annahmen zur Pflegesituation, kann auch die Studie
Die Single-Gesellschaft von Stefan HRADIL gelten,
der Mitte der 1990er den Pflegebedarf aufgrund der Zunahme von
Alleinlebenden prognostizierte. Bereits innerhalb des kurzen
Zeitraums 1990 - 2005 wurde der Pflegebedarf falsch
eingeschätzt, weil die Anzahl der lebenslang Alleinlebenden zu
hoch angesetzt und die Verbesserungen des Gesundheitszustandes
unterschätzt wurden.
NIEJAHR, Elisabeth (2014):
Der große Renten-Irrtum.
Das geplante Altersgeld ab 63 ist sehr
beliebt. Doch neue Studien zeigen: Viele Ruheständler vermissen
ihren alten Job,
in: Die ZEIT Nr.6 v. 06.02.
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Geldthema:
Arbeiten im Alter.
Die Rente
mit 63 gilt nur für wenige. Aber es gibt andere Wege, den Übergang
in den Ruhestand flexibel zu gestalten |
BOEHRINGER, Simone (2014):
Hoffen auf den Ausstieg.
SZ-Geldthema Arbeiten im Alter: Menschen, die jahrzehntelang schwer
gearbeitet haben, würden ihr Berufsleben gerne bald beenden.
Ihnen will Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles den Ruhestand
erleichtern. Doch in der Praxis wirft die Rente mit 63 noch
viele Fragen auf. Ein Überblick über die Abschläge, wenn man
frühzeitig aufhört,
in: Süddeutsche Zeitung v. 15.02.
MÜNTEFERING, Franz (2014):
Das ist ignorant!.
Die Rente mit 63 und die Lebensleistungsrente sind Irrwege. Die
große Koalition handelt populistisch statt verantwortlich,
in:
Cicero , März
Franz MÜNTEFERING, vom
Cicero als Held des Kapitals gelobt, verteidigt seine
Rentenpolitik:
"Die Formel des Erfolgs
heißt: Sichere Arbeit + gute Löhne + humane Arbeitswelt +
stabiler Altenquotient = ausreichende Alterssicherung."
An dieser Formel ist einiges
nicht erreicht worden, nämlich: sichere Arbeit + gute Löhne +
humane Arbeitswelt. Dass ein stabiler Altenquotient notwendig
ist für eine Alterssicherung ist lediglich eine mögliche
Politikvariante und schon gar nicht die Plausibelste, denn
stabile Altenquotienten gab es nie und wird es auch nie geben,
höchstens in einer Diktatur, in der man z.B. die Alten erschießt
oder verhungern lässt. In der Formel fehlt zudem der Faktor
Funktionsbedingungen des Wirtschaftssystems. Dazu gehören:
Konjunkturschwankungen, Sucharbeitslosigkeit,
Qualifikationsbedarf um nur einige zu nennen. Keine dieser
Rahmenbedingungen erscheinen in der Formel. Warum? Weil man mit
der Ausblendung der Produktionsbedingungen den Schuldigen besser
im Reproduktionsbereich suchen kann.
Die Rentenbezugsdauer z.B.
hat mit dem Altenquotient erst einmal gar nichts zu tun, sondern
ist abhängig von der Lebenserwartung und dem faktischen
Renteneintrittsalter. Oder anders gesagt: Die MÜNTEFERINGsche
Illusionsformel blendet die Entwicklung der Lebenserwartung
vollständig aus und entzieht sie damit der politischen Debatte,
um sie auf den Geburtenrückgang zu verengen.
BEISE, Marc (2014): Familien werden ausgebeutet,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 15.03.
HAAS, Sibylle (2014): Familien werden gesponsert,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 15.03.
TORP, Cornelius
(2014): Rentenpolitik aus dem vorigen Jahrhundert.
Die Pläne der großen Koalition sind ein Relikt der
alten Bundesrepublik. Der Sozialstaat kompensiert
Ungerechtigkeiten, die er selbst geschaffen hat,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 23.03.
Der Historiker Cornelius
TORP führt die Anfänge einer Politik der Mütterrente auf das
Jahr 1985 zurück, als die CDU/CSU/FDP-Koalition erstmals
Erziehungszeiten im Rentensystem berücksichtigte. Die Rente
mit 63 sieht er dagegen in der Tradition einer Verkürzung der
Lebensarbeitszeit, die seit 1972 mit der Einführung einer
flexiblen Altersgrenze praktiziert wird.
"Erst in den letzten
beiden Jahrzehnten führten die Krise der Rentenfinanzen und
die demographische Entwicklung zu einem Politikwechsel",
meint TORP. Dabei bleibt
jedoch unklar, was dieser Politikwechsel gewesen ist, denn die
Einschnitte in den Leistungskatalog der Rentenversicherung
begannen bereits in den 1970er Jahren. Es ist deshalb sehr
verkürzt, wenn lediglich die Verlängerung der
Lebensarbeitszeit als Politikwechsel verstanden wird und nicht
die Absenkung des Rentenniveaus bzw. die Zunahme
versicherungsfremder Leistungen zu Lasten der Beitragszahler.
"Sie privilegiert die
Babyboomer der Jahrgänge 1951 bis 1963 auf Kosten der
nächsten Generation ohne ersichtlichen Grund",
urteilt TORP über die Rente
mit 63. Diese Einschätzung scheint jedoch überzogen,
angesichts der Tatsache, dass die Rente mit 63 eher zur
Spaltung innerhalb der "Babyboomer" beiträgt. Dazu kommt, dass
derzeit weder das Gesetz noch dessen Umsetzung beschlossene
Sache ist. Es geht also auch um Stimmungsmache.
THEWES, Frank/ACKEREN,
Margarete van/OPITZ, Olaf/RÖLL, Thomas
(2014): Riskanter Run auf die Rente.
Das Angebot von Arbeitsministerin Andreas Nahles
(SPD) für einen abschlagsfreien Ruhestand zeigt Nebenwirkungen:
Viele Betriebe verlieren wertvolle Fachkräfte,
in:
Focus Nr.13 v. 24.03.
Die Autoren zitieren
ausschließlich Lobbypositionen des Mittelstands, weil die
Rente mit 63 nach dieser Sicht vor allem "kleine und
mittelständische Betriebe" trifft.
HOLLENSTEIN, Oliver (2014): Goodbye,
Ruhestand.
Die arbeitsfreie letzte Phase des Lebens - in
wenigen Jahren werde sie wohl passé sein, glauben Soziologen.
Eine Reise zu den Prototypen der neuen Alten,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
29.03.
Den Prototypen des neuen
Alten findet HOLLENSTEIN in der Professorenschaft: der
69jährige Entwicklungspsychologe Rainer SILBEREISEN vertritt
die Avantgarde des aktiven Alters, den weiterhin freiwillig
Erwerbstätigen:
"Er stehe um sechs Uhr
auf (...) gehe (...) um acht Uhr ins Büro. Um 12.30 Uhr
treffe er sich mit seiner Frau zum Mittagessen, lese
anschließend die New York Times, um 16 Uhr fahre er nach
Hause".
Das klassische
Rentnerdasein repräsentiert angeblich ein früh verrentetes
DINK-Ehepaar ("Double Income, no Kids), das sich jedoch
ehrenamtlich betätigt und damit gerade nicht dem klassischen
Bild vom Ruheständler entspricht. Auch das dritte Beispiel,
ein ehemaliger Manager, der ehrenamtlich Unternehmen berät,
gehört zum neuen produktiven Alter.
Das letzte Beispiel ist ein
Rentner, dem die Rente nicht ausreicht und deshalb auf
Jobsuche ist.
Im Gegensatz zu diesem
politisch korrekten Bild des produktiven Alters hat der
Soziologe Stephan LESSENICH, der ebenfalls im Beitrag
porträtiert wird, zusammen mit anderen Forscherinnen
6 Sozialfiguren des Nacherwerbslebens beschrieben.
LESSENICH ist der Meinung,
dass in seiner Generation der neue Typus des produktiven
jungen Alten von einer Angelegenheit einer kleinen Elite zur
Massenbewegung wird.
HAUPT,
Friederike u. a. (2014): "Am Ende steht die staatliche
Einheitsrente".
Ist unser Rentensystem gerecht? Nein, sagt Norbert
Blüm - nicht mit Riester, starren Altersgrenzen und ständiger
Bevormundung,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 30.03.
Norbert BLÜM wendet sich
gegen die Aufweichung des Äquivalenzprinzips (Je höher die
Beiträge, desto höher das Rentenniveau) durch die Annäherung
der staatlichen Rente an eine Grundrente und starre
Altersgrenzen:
"Mit 63 Schluss mit 65
Schluss, mit 67 Schluss - das sind alles Modelle aus den
Zeiten des Fließbandes. (...). Wer früher aufhört, muss
Abschläge in Kauf nehmen, wer länger arbeitet, kriegt
Zuschläge. (...). Ich wäre bei 65 Jahren geblieben - mit dem
Anreiz, sich mit längerer Arbeitszeit eine höhere Rente zu
verdienen."
LUDWIG, Kristiana/SCHMERGAL,
Cornelia/ZIMMERMANN, Fritz (2014): Die Mogelpackung.
Die Rentenreform der Großen Koalition soll den
Sozialstaat fairer machen - in Wahrheit reißt sie neue
Gerechtigkeitslücken: Bedürftige gehen leer aus, Wohlhabende
profitieren,
in:
Spiegel Nr.14 v.
31.03.
LESSENICH, Stephan/DENNINGER, Tina/DYK, Silke van/RICHTER,
Anna (2014):
Leben im Ruhestand.
Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft,
Transcript Verlag
BERNAU, Patrick (2014): Vorsicht Deutschland.
Deutschland geht es bestens. Das
macht übermütig,
in: Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung
v. 06.04.
Deutschland ist der kranke Mann
Europas? Schlecht! Deutschland geht es blendend? Noch schlechter! So
könnte man das Motto der Wirtschaftsteile bezeichnen. Gute Zeiten
sind schlechte Zeiten, denn die höchste Priorität der Ökonomie ist
die Eindämmung des Sozialstaats. Feindbild Nr.1 ist derzeit die
Rente mit 63:
"Heute schon kommen in
Deutschland auf 100 Leute im erwerbsfähigen Alter 32 Rentner - nur
in Japan sind es noch mehr. Seit 2003 hat Deutschland es immerhin
geschafft, dass die Leute länger im Beruf bleiben: Arbeiteten
damals noch weniger als 40 Prozent der Menschen zwischen 55 und 65
Jahren, waren es 2012 schon fast 60 Prozent. Die Rente mit 63
drohe diesen Trend umzukehren",
warnt deshalb Patrick BERNAU. Eine Grafik
behauptet gar, dass es 32 Rentner je 100 Erwerbstätige seien. Als
Quelle wird die Weltbank und das Jahr 2012 genannt. Dagegen heißt es
in der
Bertelsmann-Studie Nachhaltiges Regieren in der OECD und der EU von Daniel SCHRAAD-TISCHLER, über die BERNAU
berichtet:
"Deutschland steht hier –
gerade im Verhältnis zu vielen anderen OECD- und EU-Staaten –
unter einem besonderen Problemdruck, denn der Altenquotient ist
nur in Japan noch ungünstiger; das heißt, dass in Deutschland bei
einem derzeitigen Altenquotienten von 31,2 bereits mehr als 30
ältere Menschen auf je 100 Menschen im Erwerbsalter (15 bis 64
Jahre) entfallen." (2014, S.78)
Als Wirtschaftsjournalist sollte
BERNAU eigentlich den
Unterschied zwischen Alten- und Rentnerquotienten bzw. zwischen
ErwerbsFÄHIGEN und ErwerbsTÄTIGEN kennen.
FAZ (2014):
Rente mit 63,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 09.04.
Während in der
Print-FAZ arbeitende Rentner - trotz Rente mit 63 -
den Fachkräftemangel kompensieren können, erhöht in der
Online-FAZ die Rente mit 63 den Fachkräftemangel.
Zielgruppengerecht ("alte" Print-FAZ-Leser vs. "junge"
Online-Faz-Leser) spricht die FAZ also jeweils
ihr segmentiertes Leser-Klientel an. Dumm nur, wenn diese sich
nicht an die schöne neue Medien-Ordnung halten, und damit der
Fachkräftemangel als Kampfbegriff sichtbar wird.
Bereits Mitte der Nuller
Jahre hat die ZEIT diese Art der medialen
Demografiepolitik vorexerziert: Während in der Print-ZEIT Susanne GASCHKE
das Niveau der
Kinderlosigkeit in Deutschland übertrieb, durfte Björn SCHWENTKER
in der Online-ZEIT den Anti-Gaschke geben. Nachdem das
Elterngeld beschlossen war, hatte diese Zielgruppen-Strategie
dann ausgedient.
Der Topos Fachkräftemangel
wechselt sich in der FAZ mit dem Topos der
Vollbeschäftigung ab - je nach Stoßrichtung der aktuellen
Demografiepolitik.
WAGSCHAL,
Uwe (2014): Rentnerdemokratie: Warum Senioreninteressen
gewinnen.
Das größte Armutsrisiko tragen
in Deutschland nicht die Alten. Dennoch kümmert sich die Politik
vor allem um ihre Interessen. Der Sieg der Älteren über die
Jungen wird durch politische Mechanismen begünstigt, auf die die
Parteien reagieren - mit schwerwiegenden Folgen für öffentliche
Finanzen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.04.
Würden wir in einer
Rentnerdemokratie leben, wie die FAZ behauptet, dann
wäre weder die Riester-Rente noch die Rente mit 67
durchsetzbar gewesen. In einer Klassengesellschaft wie
Deutschland setzen sich dagegen die Interessen der Reichen und
damit der Wirtschaft durch. Wie anders ist es denn zu
erklären, dass von einer Rente mit 63 geschrieben wird, obwohl
doch nur ganz Wenige überhaupt diese Rente in Anspruch nehmen
können? Es gibt keine Homogenität der Interessen von Älteren
wie uns der Wirtschaftsteil vorgaukelt. In keiner Altersgruppe
sind die Interessen heterogener als bei den Älteren, denn in
keiner anderen Lebensphase sind die Lebenssituationen
unterschiedlicher. Was hat der fitte Unternehmer mit dem
erwerbsunfähigen Dachdecker gemein? Was ein mobiler 70Jähriger
mit einem bettlägerigen 90Jährigen?
Die Argumentation von
WAGSCHAL steht und fällt mit dem Konzept des Medianwählers.
Dieses wurde ursprünglich erfunden, um
Links-Rechts-Wähler-Präferenzen zu ermitteln. WAGSCHAL
verwendet es dagegen im Zusammenhang mit dem demographischen
Wandel. Nationalkonservative Ökonomen wie Hans-Werner SINN
haben das Konzept bereits Anfang des Jahrtausends verwendet,
um damit angebliche Zeitkorridore für Rentenreformen zu
berechnen.
Mit dem Konzept des Medianwählers wird gerne die Angst vor
einer Gerontokratie geschürt.
Wenn WAGSCHAL diskutiert,
dass eine Senkung des Wahlalters eher SPD/Grüne zu gute käme
und ein Elternwahlrecht eher CDU/CSU, dann zeigt sich, dass es
hier weniger um das Allgemeinwohl oder
Generationengerechtigkeit (ein mehr als fragwürdiges
Konstrukt) geht, sondern um parteitaktische Überlegungen zu
Machtverschiebungsmöglichkeiten zugunsten unterschiedlicher
politischer Lager.
LESSENICH,
Stephan (2014):
Einfach
nicht totzukriegen.
Das Alter in der "alternden
Gesellschaft",
in: Merkur,
Nr.780, Mai
Der
Soziologe Stephan LESSENICH hat sich in den letzten Jahren mit
dem Wandel des Altersbild in unserer Gesellschaft beschäftigt.
LESSENICH sieht das Jahr 2006 als Wendepunkt in der Debatte um
den demografischen Wandel:
"Potenziale
des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft, so
lautete der Titel des Fünften Altenberichts der
Bundesregierung, der (...) im Jahr 2006 veröffentlicht, den
Ton der jüngeren deutschen Demografiepolitik vorgeben
sollte. Der Bericht markiert den Umschlag von einer Phase
des reinen demografischen Alarmismus hin zu der (...)
Entdeckung der (...) gesellschaftlichen »Chancen«."
Dem gefürchteten
Altersstrukturwandel (Stichworte:
Erhöhung des
Altenquotienten, Gerontokratie bzw. Rentnerdemokratie)
wurde damit der segensreiche Strukturwandel des Alters (junge
Alte) entgegengesetzt.
LESSENICH beschreibt wie in
den 1980er Jahren das Verständnis des Alters als Ruhestand
(Stichworte: Rente, Kur, Sofa und Fernseher) abgelöst wurde
vom eigensüchtigen Unruhestand (Stichworte: Radfahren,
Hometrainer, Fernreise, Seniorenstudium), der wiederum ab Ende
der 1990er Jahre vom produktiven Alter abgelöst wurde
(Stichworte: Ehrenamt, Seniorentrainer, Verlängerung der
Lebensarbeitszeit).
Wie wurde dieser Wandel des
öffentlichen Altersbildes in Gang gesetzt? Durch die
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme:
"Die beliebte Praxis
ultralangfristiger statistischer Projektionen, ein
offenkundiges Symptom der gesellschaftlichen Suche nach
demografischer Zukunftsgewissheit, produziert zugleich das
genaue Gegenteil, nämlich eine tiefe Verunsicherung darüber,
wie sich eine Gesellschaft mit »immer mehr« Älteren (eine
Dystopie, die im Übrigen bevölkerungsstatistisch überhaupt
nicht gedeckt ist) auf dynamische Weise reproduzieren können
soll. (...). Die prognostizierte »gesellschaftliche
Alterung« muss im widersprüchlichen Integrationsmodus der
Verjüngung des Alters eingeholt und aufgehoben werden."
Kurz gefasst: Der junge
Alte ist das Wunschbild einer Gesellschaft, geboren aus den
Horrorszenarien mittels demografischer Kaffeesatzleserei. Der
junge Alte ist gemäß LESSENICH das Lebensführungsideal der
oberen Mittelschicht, die auch die dafür notwendigen
Ressourcen besitzt.
In den "alten Alten" sieht
LESSENICH die Dämonen des Wunschbildes einer alterslosen
Gesellschaft:
"Die im Doppelsinne alten
- höchstaltrig-gestrigen - Alten sind die classes
dangereuses der »alternden Gesellschaft«, denn sie
gefährden deren gedachte und gewollte Ordnung als
altersintegrierte Gesellschaft, sie stören und zerstören die
imagined Community einer altersübergreifenden
gesellschaftlichen Produktivitätsgemeinschaft."
"Age imperalism" nennt
LESSENICH dieses Phänomen, wonach das mittlere Erwachsenalter
der oberen Mittelschicht den Standard der alterslosen
Gesellschaft bestimmt. Am Ende einer solchen Entwicklung steht
für LESSENICH der individuelle Freitod als gesetzliche
Möglichkeit aktiver Sterbehilfe durch Ärzte:
"In einer Welt der
Demografisierung sozialer Fragen, einer das Alter
negierenden Altersordnungspolitik, der Herrschaft von
Aktivierungsidee und Produktivitätsnormativ erscheint diese
Sorge keineswegs weltfremd. (...).
»Sorge dich - stirb!«, so könnte dereinst der Selbst- und
Fremdsorgeappell an das Alter in der »alternden
Gesellschaft« lauten."
DIW-Wochenbericht-Thema:
Rente mit 63 - Lehren aus der Vergangenheit |
RASNER, Anika & Stefan
ETGETON
(2014): Rentenübergangspfade.
Reformen haben großen
Einfluss,
in:
DIW-Wochenbericht
Nr.19 v. 07.05.
WITTENBERG,
Erich (2014): "Die Rente mit 63 ist ein problematisches Signal.
Sechs Fragen an Anika Rasner,
in:
DIW-Wochenbericht
Nr.19 v. 07.05.
WAGNER, Gert
G. (2014): Die Rente mit 67 nicht aus den Augen verlieren,
in:
DIW-Wochenbericht
Nr.19 v. 07.05.
HEBEL, Stephan (2014): Zum Glück sind die Deutschen klüger.
Wiedervereinigung: Schlagloch
West, kleine Rente Ost lauten die Stereotype, die gerne
gegeneinander in den Medien ausgespielt werden. Neue Zahlen
befeuern die Debatte,
in:
Freitag Nr.19 v. 08.05.
Die Deutschen sind klüger?
Offenbar nicht, denn sonst würde uns nicht dauernd weis
gemacht, dass die
Babyboomer schuld am zukünftigen Bankrott des
Rentensystems seien. Dabei wurde die deutsche Einheit vor
allem von den westdeutschen Babyboomern als Beitragszahler ins
Rentensystem bezahlt.
Dies wird jedoch tabuisiert, bzw. massiv verharmlost. Wenn
aber viele Millionen Ost-Rentner, die nie ins westdeutsche
Rentensystem einbezahlt haben, von heute auf morgen Rente
kassieren konnten, ohne dass das Rentensystem zusammenbrach?
Warum sollte es dann 2030 also ein Problem geben, wenn der
Altenquotient zwar ungünstiger als heute ist, aber nicht im
entferntesten eine solch massive Umverteilung stattfindet wie
durch die Deutsche Einheit? Es wird also Zeit die verlogene
Debatte um unser Rentensystem neu zu führen.
SCHWENN, Kerstin & Manfred SCHÄFERS (2014): Die Rente mit 60 - oder
auch erst mit 70.
Immer mehr Politiker sprechen sich
für einen flexiblen Rentenbeginn aus und verweisen auf Skandinavien.
Dort gibt es die Flexi-Rente schon lange, mit interessanten Folgen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.05.
Ein wahres WUNDERMITTEL gegen den
Kollaps des Rentensystems hat die FAZ entdeckt:
"Das System erweist sich bisher
als resistent gegen Risiken der Konjunktur und der Demographie",
schreiben SCHWENN & SCHÄFERS mit
Blick auf das Land von Pippi Langstrumpf. "Flexi-Rente" heißt die
neue Wunderdroge der Wirtschaft. Was davon tatsächlich erwartet
wird, das erfährt man in der letzten Spalte:
"In Schweden gingen die
Menschen zwei Jahre später als die Deutschen in den Ruhestand."
Zu deutsch: Man lockt mit einer
flexiblen Altersgrenze von 60 - 70 Jahren, bei der die Entscheidung
angeblich bei jedem Individuum selber liegt. Das tut sie natürlich
nicht, denn entscheidend ist die Ausgestaltung, d.h. die Höhe der
Abschläge, die man sich erst einmal leisten muss. Schließlich kann
man diese Abschläge nicht individuell wählen, sondern sie sind
vorgegeben. Individualisierung für Dummys.
BAUREITHEL, Ulrike
(2014): Für immer flexibel.
Reform: Beim Streit um die Rente
geht es nicht nur um Geld. Er zeigt auch: Unser Verständnis von Arbeit
ist überholt,
in:
Freitag Nr.20 v. 15.05.
"Die Lebensphase nach der
Erwerbstätigkeit soll, anders als früher, kein Ruhestand
mehr sein, sondern eine Periode, in der sich der Mensch auch
weiterhin als funktionsfähiges Subjekt zu bewähren hat",
erklärt Ulrike BAUREITHEL
anhand der Studie
Leben im Ruhestand die derzeitige Debatte um die
Flexibilisierung des Renteneintrittsalters, die von der
Wirtschaft und den arbeitgebernahen Mitte-Medien
vorangetrieben wird.
Mit Begriffen wie
"Facharbeiteradel" hetzt BAUREITHEL Arbeitnehmer gegeneinander
auf, statt die Frage zu stellen, ob nicht bereits die Trennung
von Reproduktion und Produktion die Misere ist und der
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme Vorschub
leistet. Als "Anwältin von Frauen" geht es BAUREITHEL dagegen
um dir "richtige" Spaltung der Arbeitnehmerschaft. Eine frohe
Botschaft für die Wirtschaft, denn nur wenn Arbeitnehmer sich
gegenseitig ihre Rente neiden, wird der Alterskraftunternehmer
die Zukunft bestimmen können.
Obwohl die Mütterrente
Frauen gegeneinander ausspielt, wie BAUREITHEL selber
darlegt, wird sie von der Autorin damit gerechtfertigt, dass
sie als versicherungsfremde Leistung einen Beitrag weg vom
Arbeitskraftunternehmer leistet:
"Das Problem in der
Diskussion bleibt der Maßstab der Erwerbsarbeit. Sie
bestimmt die Alterssicherung – und übrigens auch die Form,
wie das »junge Alter« individuell gelebt wird. Beschäftigt
zu sein oder zumindest so zu wirken, das zeigt die oben
genannte Untersuchung, ist nämlich zum Indikator des
sogenannten Unruhestands geworden. Insofern hat die
Mütterrente, gleichgültig wie man sie bewertet und aus
welchen Mitteln sie bezahlt wird, auch ein ehernes Gesetz
infrage gestellt. Sie honoriert Arbeit, die nicht entlohnt
und für die kein Beitrag entrichtet wurde."
Vielmehr aber leistet die
Mütterrente einen Beitrag zur gesetzlichen Rente als
Armenfürsorge auf Grundsicherungsniveau. Der
Sozialwissenschaftlicher Christoph BUTTERWEGGE spricht in
diesem Zusammenhang vom Weg in den "Suppenküchenstaat".
DRIBBUSCH, Barbara
(2014): Hysterie um die Frühverrentung.
Alter:
Angeblich befördert die Rente mit 63 die Frühverrentung, weil Zeiten
der Arbeitslosigkeit uneingeschränkt angerechnet werden können. Das
möchte die Regierung verhindern und feilt an Details,
in:
TAZ v. 16.05.
Die taz bringt ihren
Lesern bei, dass die Rente mit 63 nicht so kommen wird, wie sie in
der Debatte bislang dargestellt wurde.
"Viele Beschäftigte werden
bisher schon arbeitslos, bevor sie in eine Rente mit Abschlägen
wechseln. Das durchschnittliche sogenannte Erwerbsaustrittsalter
liegt bei 61 Jahren, geht aus Zahlen des IAQ-Instituts in
Duisburg-Essen hervor."
In China liegt das
Renteneintrittsalter dagegen bei 51 Jahren,
so berichtete zumindest
die FAZ. Es sollte deshalb zu denken geben, wenn im
Zusammenhang mit zukünftigen "Altenlasten" lediglich über Altenquotienten
debattiert wird, ohne die tatsächliche Ausgestaltung von nationalen
Wirtschafts- und Sozialsystemen zu berücksichtigen.
DRIBBUSCH, Barbara
(2014): Arbeitgeber, hört auf zu heucheln!
Zur Debatte über die Rente mit 63,
in:
TAZ v. 16.05.
LÜBBERDING, Frank (2014):Maybrit Illner Demenz in der
sozialpolitischen Debatte.
TV-Kritik: Maybrit Illner fragt nach
Gewinnern und Verlierern des Rentenpakets. Die Erinnerungslücken sind
frappierend,
in:
faz.net v. 16.05.
Frank LÜBBERDING beklagt zu Recht
die Demenz in der sozialpolitischen Debatte, die daraus resultiert,
dass die "jungen Wilden" zu Zeiten der Agenda 2010 die
Generationengerechtigkeit als Renditengewinn betrachtet haben und
nun durch die Finanzkrise ihre Renditen davon schwimmen sehen.
Die Generation Golf ist zur
verratenen Generation Laminat mutiert.
Aber auch LÜBBERDING setzt auf
Kurzsichtigkeit, wenn er aufgrund der derzeit boomenden deutschen
Wirtschaft "Verteilungsspielräume" sieht. Diese will er nutzen, um
vermehrt ältere Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies
passt zur
FAZ-Debatte um eine Rente mit 90. Der Soziologe Stephan
LESSENICH weist jedoch zu Recht darauf, dass
keine Lebensphase
mit schärferer sozialer Ungleichheit verbunden ist als das Alter.
Während große Teile der oberen Mittelschicht in angenehmen Jobs bis
ins hohe Alter leistungsfähig bleiben können, wird der Rest der
Gesellschaft, der nicht zu den Vermögenden gehört, die Zeche zahlen.
SEIBT, Gustav (2014): Renten.
Der Obrigkeitsstaat,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 17.05.
"Der Generationenvertrag
ist ein Gesellschaftsvertrag. Er geht aus von dem was ist.
Er vermittelt zwischen den Interessen der Arbeitenden und
der Ruheständler",
schreibt Gustav SEIBT zum
125 jährigen Jubiläum des Rentensystems.
"Schon in fünfzehn Jahren
wird es in Deutschland genauso viele Menschen über 67 Jahre
wie Erwerbstätige geben",
erzählt uns SEIBT. Woher er
das weiß, verrät er leider nicht. Die Anzahl der "Menschen
über 67 Jahre" mag relativ genau prognostizierbar sein, die
der Erwerbstätigen und der Rentner ist es nicht. Oder hatte
etwa jemand vor 15 Jahren 42 Millionen Erwerbstätige für das
Jahr 2014 prognostiziert?
Zuletzt empfiehlt uns SEIBT
seine Wunderdroge: die Flexi-Rente!
Rente mit 63 - Unwort des
Jahres 2014
Die "Rente mit 63" wird meist in
einem Atemzug mit der "Rente mit 67" genannt, obwohl sie das genaue
Gegenteil ist. Während die "Rente mit 67" die Regel des
Renteneintrittsalter festlegt, legt die "Rente mit 63" die Ausnahme
von der Regel fest, obwohl die Debatte suggeriert, dass es sich um
zwei Sachverhalte auf der gleichen Ebene handelt: Verkürzung der
Lebensarbeitzeit statt Verlängerung. Weshalb also diese an Hysterie
grenzende Empörung aller Mitte-Medien über die Rente mit 63, während
die wesentlich teuere Mütterrente niemals zur Disposition stand?
Der Soziologe Stephan LESSENICH
hat in einem fulminanten Beitrag für die Mai-Ausgabe der Zeitschrift Merkur
den Mechanismus beschrieben, mit dem unsere Eliten die Entwicklung
zur alterslosen Gesellschaft mittels der Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme betreiben, indem sie die individuellen
Ängste vor dem eigenen Alter ausbeuten. Sein Fazit: Die Kehrseite
einer solchen Politik ist der individuelle Freitod des unproduktiven
Alten: "Sorge dich - stirb!"
SPIEGEL-Titelgeschichte:
Ich bleib dann mal da!
Gehalt statt Rente: Warum Senioren weiterarbeiten und damit den
Jüngeren helfen |
MIDDELHOFF, Paul/SCHMERGAL,
Cornelia/SCHREP, Bruno
(2014): Im Unruhestand.
Soziales: Während die Regierung eine
neue Frührente einführt, drängen Deutschlands Senioren zurück ins
Berufsleben. Manche brauchen Geld, andere suchen Erfüllung. Würde der
Trend politisch befördert, könnte er die jungen Beitragszahler
entlasten,
in:
Spiegel Nr.21 v. 19.05.
"In den vergangenen zehn
Jahren hat sich die Zahl der Berufstätigen im Rentenalter
verdoppelt. Das Statistische Bundesamt zählt über 800 000
Senioren, die auch jenseits der 65 erwerbstätig sind, die
Bundesagentur für Arbeit macht gleich eine Million
graumelierte Beschäftigte aus. Noch sind sie in einer
Minderheit, aber »ihre Zahl wird weiter wachsen«, wie Karl
Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
prophezeit",
erklärt uns der Spiegel.
Und warum arbeiten die 65Jährigen weiter? Weil sie Langeweile
haben, suggeriert der Spiegel, der die alterslose
Gesellschaft propagiert.
Der Soziologe Stephan LESSENICH kritisiert dagegen das
öffentliche Altersbild, das die Heterogenität des Alters in
Deutschland ignoriert.
Die Realitätsferne des
Altersbildes, das dem Lebensführungs-Ideal der oberen
Mittelschicht entspricht (weshalb
in Zeitungsartikeln insbesondere Manager oder Professoren das
Ideal verkörpern), kompensiert der Spiegel durch
moralische Appelle und Hinweise auf Ausnahmen von der Regel.
Generationengerechtigkeit statt soziale Gerechtigkeit mahnt
der Spiegel nur an, ohne empirisch Gehaltvolles dazu
vorzubringen. Bücher wie In Rente von Wolfgang
PROSINGER unterfüttern diesen Diskurs. Kurz vor Ende des
Artikels wird die Realitätsferne des öffentlichen Altersbildes
deutlich:
"Bislang (...) ist die
Seniorenerwerbstätigkeit vor allem ein Privileg gut
ausgebildeter Eliten. Das IAB hat dazu alarmierende Zahlen
vorgelegt: Im Alter von 60 bis 64 Jahren sind noch zwei
Drittel der Hochschulabsolventen am Arbeitsmarkt aktiv.
Unter Handwerksmeistern ist es immerhin noch die Hälfte.
Doch von Menschen ohne Berufsabschluss bleibt nur jeder
Vierte so lange im Job."
Bekanntlich ist nach der
Reform vor der Reform, weshalb der Spiegel-Titel
bereits die nächste Rentenreform im Visier hat, die auf Druck
der Wirtschaft auf die Agenda gesetzt wurde: die
Flexibilisierung der Altersgrenzen oder doch eher die Rente
mit 90?
GROENEVELD, Josh & Ann-Kathrin
NEZIK
(2014): Die Wutlosen.
Warum die junge Generation die
Rentenreform der Großen Koalition widerstandslos hinnimmt,
in:
Spiegel Nr.21 v. 19.05.
GROENEVELD & NEZIK stellen
Interessenvertreter der "jungen Generation" vor: Wolfgang GRÜNDINGER
(SPD), Teresa BÜCKER vom Verband der Jungen Unternehmer, die
Juso-Vorsitzende Johanna UEKERMANN und Steffen BILGER als Sprecher
der jungen Unionsabgeordneten.
DETTMER, Markus (2014): "Bis zum letzten Tag".
Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm
(CDU) fordert das Ende des gesetzlichen Rentenalters. Jeder soll in
Zukunft selbst entscheiden, wann er aussteigt,
in:
Spiegel Nr.21 v. 19.05.
"Der demografische Wandel
lässt keine andere Wahl",
behauptet Markus DETTMER.
Ein solcher Satz steht für die gängige Praxis einer
Demographisierung gesellschaftlicher Probleme. In
Wirklichkeit hat der demografische Wandel (ein Begriff, der
selten definiert wird) keinen direkten Einfluss auf das
Rentensystem wie es der steigende
Altenquotient
suggeriert. In seiner Stellungnahme zum Rentenpaket hebt
deshalb Gerhard BÄCKER die - gegen jede Prognose - positive
Entwicklung der Rentenfinanzen hervor, um darauf zu verweisen,
dass
nicht der Altenquotient, sondern der Rentenfallquotient für
die Entwicklung der Rentenfinanzierung entscheidend ist:
"Das Verhältnis zwischen
Beitragszahlern und Rentnern (präzise: der
Rentenfallquotient) hat sich verbessert. Dieser Befund
belegt einmal mehr, dass es nicht allein die demografischen
Komponenten sind (Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähigen
Alter und im Rentenalter, Altenquotient usw.), die die
Finanzlage der umlagebasierten Rentenversicherung bestimmen.
Vielmehr kommt es auf das Verhältnis von beitragszahlenden
Beschäftigten (und deren Arbeitsstundenvolumen) zu
Rentenempfängern an. Wenn es gelingt, die Zahl der
Beschäftigten und die Beschäftigtenquote (Anteil der
Beschäftigten an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter) zu
steigern, dann lässt sich die demografische Belastung zwar
nicht »aufheben«, aber doch vermindern." (Ausschussdrucksache
18(11)82, S.58)
Der Statistiker Eckart
BOMSDORF kritisiert die vorgesehene Kopplung der
Rentenfinanzierung im Bereich der Erwerbsminderungsrente an
die demografische Entwicklung:
"Die demografische
Entwicklung einer bestimmten Altersgruppe bis 2050 in der
benötigten Genauigkeit vorherzusagen ist unmöglich. In der
im Gesetzentwurf zu diesem Paragraphen aufgeführten Tabelle
wird offenbar die Möglichkeit einer kurz- und evtl.
mittelfristigen Fortschreibung der Bevölkerung mit einer
langfristigen – und zugleich unmöglichen – Vorhersage, um
nicht zu sagen mit Hellseherei verwechselt; letztere hat in
einem Gesetz sicher nichts zu suchen.
(...).
Die 12. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung des
Sta-tistischen Bundesamtes kann hier nicht als Beleg für
eine Aussage dieser Qualität hinzugezogen werden. Sie stellt
nämlich keine Prognose dar, sondern liefert Modellrechnungen
mit unter-schiedlichen Varianten."
(Ausschussdrucksache
18(11)82, S.66)
Bereits diese beiden
Beispiele zeigen das Ausmaß, in dem die Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme die politische Agenda prägt. Dass
die Medien dies nicht kritisch reflektieren, sondern die
Demografisierung unreflektiert mittragen, zeigt, dass die
Medien keine unabhängige Aufklärung betreiben, sondern Teil
der Machtverhältnisse sind.
FOCUS-Titelgeschichte:
Früher in Rente.
Was der Bundstag jetzt beschließt. Wie Sie davon profitieren.
Was auch alle Jungen wissen müssen |
NEUMANN, Philipp & Frank THEWES (2014): Was steckt wirklich drin?
Kurz vor der entscheidenden
Abstimmung über das heftig umstrittene Rentenpaket ringen Union und
SPD noch um letzte Kompromisse beim Ruhestand mit 63. Ab 1. Juli
entfaltet das Gesetz dann seine unberechenbare Wirkung,
in:
Focus Nr.21 v. 19.05.
"Die Mehrausgaben, die auch von
der zusätzlichen Mütterrente verursacht werden, belaufen sich bis
2030 auf mindestens 160 Milliarden Euro",
schreiben die Autoren zur Rente
mit 63 und verharmlosen damit die Tatsache, dass die Mütterrente das
Hauptfinanzierungsproblem ist, da es ca. 3 mal so teuer ist als die
Rente mit 63.
Mit einem Schaubild, dessen Daten
im Daten des DIA, einer neoliberalen Lobbyorganisation der
Finanzdienstleisterbranche, erstellt wurde, wird der Altenquotient,
dessen direkter Einfluss auf die Rentenfinanzen eher gering ist, bis
zum Jahre 2060 fortgeschrieben - obwohl dies unseriöse
Kaffeesatzleserei ist.
Die Rentenkasse soll 2019
komplett leer sein. Unter welchen Bedingungen dies der Fall ist, das
lässt der Focus dagegen unbeantwortet.
KOWALSKI, Matthias/NEUMANN, Philipp/THEWES, Frank (2014): 33 Fragen
zur neuen Rente.
Ruhestand mit 63, mehr Geld für
Mütter und mögliche Boni für jene, die länger im Job bleiben. Jeder
sollte sich jetzt damit beschäftigten, mit wie viel er im Alter
rechnen kann,
in:
Focus Nr.21 v. 19.05.
NIEJAHR, Elisabeth (2014): Plötzlich arm.
Mütterrente: Die neue Rentenreform
hilft den Falschen. Bedürftig werden Millionen Frauen sein, die jetzt
noch arbeiten,
in:
Die ZEIT Nr.22 v. 22.05.
"Eine echte Reform muss die Rentner zur Kasse bitten", forderte
Elisabeth NIEJAHR 1999. Das ist gelungen. Nun darf sie sich um
die Altersarmut von Rentnerinnen aus der Babyboomer-Generation
kümmern.
Die verratene Generation fühlt sich betrogen. Die Mütterrente
helfe da nicht weiter, meint NIEJAHR, sondern
Gehalt statt Rente:
"Gerade Mütter, die wegen ihrer
Kinder lange zu Hause geblieben sind und wenig in die Rentenkasse
eingezahlt haben, wollen oft länger arbeiten. Die Rente ab 67 war
für sie weniger eine Zumutung als ein Versprechen, eine Antwort
auf die Rushhour des Lebens"
Warum war? Die Rente mit 67 ist immer
noch Gesetz, daran ändern die Ausnahmeregelungen einer "Rente mit
63", die beschlossen werden sollen gar nichts.
SCHWENN, Kerstin (2014): Viele Rentengewinner, aber noch mehr
Verlierer.
Vom Rentenpaket profitieren Mütter,
langjährig Beschäftigte und Erwerbsgeminderte. Verlierer sind alle
späteren Rentner,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.05.
Was unterscheidet Print und
Online-FAZ? Bei diesem Artikel nur die Information, dass der
Bundestag das Rentenpaket mit großer Mehrheit verabschiedet hat.
"Rund 10 Millionen Menschen
können sich als Gewinner der schwarz-roten Rentenpolitik betrachten:
Mütter, besonders langjährig Beschäftigte und jene, die aus
gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können. (...).
Rund 9,5 Millionen Mütter (oder selten auch Väter), deren Kinder vor
1992 geboren wurden (...) bekommen bei der Rente von Juli an ein
zusätzliches Jahr Kindererziehungszeit angerechnet",
erklärt uns Kerstin SCHWENN den
Gesamtumfang und Adressatenkreis des Rentenpakets.
ROSSMANN, Robert
(2014): So ein schöner Tag.
Die Kanzlerin kommt später, die
Hinterbänkler dürfen ran, und an der Spree dösen die Polizisten in der
Hitze. Das Parlament beschließt sein Rentenpaket, das Wohlstand für
manche und eine Rechnung für alle bringt,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 24.05.
Robert ROSSMANNs Reportage über die
Zustimmung des Bundestags zum Rentenpaket ist bezeichnend für die
Desinformationsstrategie der Mitte-Medien. Über die Kritik von Markus
KURTH (Grüne) und Matthias BIRKWALD (Linke) am Rentenpaket liest man:
"Die beiden filetieren den
Gesetzesentwurf nach allen Regeln der Kunst (...). Anders als die
Grünen, begrüßen die Linken aber einen großen Teil des Rentenpakets,
es geht ihnen nur nicht weit genug."
Als Leser erhält man wenig
informative Umschreibungen der Debatte, dafür kann man umso mehr den
Missmut von ROSSMANN spüren. Ist das noch Journalismus oder doch eher
nur Stimmungsmache? Man kann dem entweder zustimmen oder sich darüber
ärgern. Also eher etwas für die Mülltonne. Die Parlamentsreden zum
Rentenpaket findet man
hier.
HEIDENREICH, Ulrike (2014): Alle Frauen sind gleich, manche sind
gleicher.
Zum Freuen und Ärgern: Zwei Mütter
und die neue Rente,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 24.05.
Frauen? In dem Artikel kommen nur
Mütter zur Sprache, während die 20 % lebenslang kinderlosen Frauen, die
den Medien höchstens als Erregungspotential dienen, keine Stimme haben.
"Mit 6,7 Milliarden Euro pro
Jahr schlägt die Anhebung der Mütterrente zu Buche",
erklärt uns HEIDENREICH. Das
wären bis zum Jahr 2030 rund 107 Milliarden Euro.
Der
Gesetzesentwurf der Bundesregierung sieht folgende Mehrausgaben bis
zum Jahr 2030 vor:
Man erkennt auf den ersten Blick,
dass nach dieser Berechnung die Mütterrente ca. 3 mal so teuer kommt
als die Rente mit 63. Man darf sich deshalb zu
Recht fragen, weshalb die Rente mit 63 im Kreuzfeuer der Kritik
stand und nicht die Mütterrente. Eine Analyse dieses Sachverhaltes
sucht man in den Medien vergebens, schließlich sind sie als vierte
Gewalt, Teil der Machtverhältnisse in dieser Republik.
SCHERFF, Dyrk (2014): Nur Dumme arbeiten länger.
Die Rente mit 63 ist noch viel
attraktiver als gedacht. Wer bis 65 arbeitet, muss schon 100 werden,
damit sich das lohnt,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 25.05.
Dyrk SCHERFFs Artikel basiert auf den
Schätzungen von Anika
RASNER vom DIW und von Lars FELD vom Walter Eucken Institut.
Dabei fällt auf, dass vom Walter Eucken Institut die Rente mit 63
nur für einen ledigen Facharbeiter des Jahrgangs 1951, mit einem
Kind und einem Bruttomonatslohn von 3630 Euro berechnet wurde. Ist
das aber jene Gruppe, die repräsentativ für die Rente mit 63 ist
oder nur jene, die - wegen höchstem Steuersatz - das höchste
Empörungspotenzial bietet? Seriös wäre es nur gewesen, wenn das auch
für Verheiratete Facharbeiter berechnet worden wäre. Und warum nur
Facharbeiter? Weil das zum behaupteten Fachkräftemangel passt? Oder
weil hauptsächlich Facharbeiter die Rente mit 63 nutzen können?
45 Beitragsjahre erreichen
möglicherweise (Warum wissen wir nichts Genaues darüber?) vor allem
Arbeitnehmer mit einem niedrigen Bildungsabschluss.
Bei Anika REISNER heißt es dazu:
"Der frühe Berufseinstieg
könnte auch Hinweis auf ein niedriges Bildungsniveau der besonders
langjährig Versicherten sein. Zwar liegen keine Analysen zur
Langlebigkeit dieser Gruppe vor, aber eine DIW Studie hat gezeigt,
dass Personen mit geringer Bildung einem deutlich erhöhten
Mortalitätsrisiko ab Alter 65 ausgesetzt sind (Kroh, Neiss, Kroll,
& Lampert, 2012). Insgesamt ist der Effekt offen."
Wird also mit dem Bezug auf einen
Durchschnitt unterschlagen, dass der Kreis der Berechtigten
heterogener ist als es die öffentliche Debatte gerne hätte.
DAS
PARLAMENT-Thema: Das Rentenpaket
Leistungsausweitung beschlossen |
HEINE, Claudia (2014): Milliarden für Millionen.
Mit großer Mehrheit stimmt der
Bundestag für das Gesetz. Im Juli tritt es nun in Kraft,
in: Das Parlament Nr.22-23 v.
26.05.
Bei der Berichterstattung der
Zeitschrift Das Parlament über das Rentenpaket zeigt sich die
Einseitigkeit bereits darin, dass das Interview des
CDU-Mittelstandssprecher Christian von STETTEN den größten Raum
einnimmt, während Sabine ZIMMERMANN (Die Linke) nicht selber zur
Sprache kommen darf. Die Position der anderen im Bundestag
vertretenen Parteien finden keine Erwähnung.
Erstaunlich ist zudem, dass die
Berechnung der Mehrausgaben des Rentenpakets
bis zum Jahr 2030 - trotz zwischenzeitlicher Änderungen am
Gesetz - identisch sind mit dem Entwurf vom 27. Januar 2014.
Im Artikel von HEINE werden sie lediglich etwas grafisch aufgepeppt.
SUK (2014): Balanceakt für Jung und Alte.
Rentenpaket: Was sehen die Menschen,
wenn sie das Rentenpaket öffnen? Fünf Betroffene berichten,
in: Das Parlament Nr.22-23 v.
26.05.
Die Auswahl der Betroffenen
entspricht der Meinungsbeschränkung in den Mittemedien: Für die
Rente mit 63 steht die Facharbeiterin, die gerne weiterarbeiten
würde, statt mit 63 in die Rente gezwungen zu werden. In der Studie
Leben im Ruhestand zeichnen Stephan LESSENICH u.a. dagegen
die verschiedenen Haltungen zum Ruhestand auf, die jenseits des
Ideals der alterslosen Gesellschaft, das in den Mittemedien
verbreitet wird, existieren. Über die
Mütterrente müssen sich dagegen die Frauen freuen, obwohl die Kosten
dieses Teils des Rentenpakets das Hauptproblem der Finanzierbarkeit
der Rentenversicherung darstellt. Zwei Betroffene repräsentieren
die Veränderungen bei der Erwerbsminderungsrente und im Bereich der
Rehabilitation. Die letzte Betroffene gehört zu den Privilegierten,
die auf die "private" Altersvorsorge setzen können: "Ein eigenes
Haus ist immer noch die bessere Altersvorsorge".
GRAF, Gabriele (2014): Mamma Mia.
Die Mütterrente ist für alle
Generationen gut,
in: Die ZEIT Nr.23 v.
28.05.
Gabriele GRAF, Mutter von fünf Kindern und mit 68 Jahren immer
noch nicht in Rente, verkörpert das Ideal einer Gesellschaft,
in der langfristige
Bevölkerungsvorausberechnungen - und damit die
Demographisierung gesellschaftlicher Probleme
- den Takt für politische Reformen vorgibt. GRAF
verteidigt die CDU-Variante einer
Rente nach
Kinderzahl ("Mütterrente"), mit der im Rentensystem
seit Mitte der 1980er Jahre eine
schleichende Abwertung von Bildung und Erwerbsarbeit zugunsten
der Steigerung der Geburtenrate einhergeht.
ENGELEN-KEFER, Ursula (2014): Renten im freien Fall.
Generationenkonflikt: Die
SPD hat ihr Ziel aufgegeben, für eine zukunftssichere
Altersversorgung zu streiten. Die Zeche zahlen die Jüngeren
und viele Frauen,
in: TAZ v.
30.05.
"Laut Bundesregierung
werden von etwa 30 Millionen versicherungspflichtig
Beschäftigten gerade einmal 50.000 die 63er Regelung in
Anspruch nehmen. Das wären demnach noch nicht einmal 2
Prozent, davon überwiegend Männer mit überdurchschnittlich
hohen Löhnen und Renten. Die finanzielle Belastung von bis
zu 3 Milliarden Euro jährlich ab 2030 muss dagegen von allen
Beitragszahlern aufgebracht werden",
heißt es in der TAZ,
obwohl die Berechnungen der
Bundesregierung lediglich bis zum Jahr 2030 reichen und nicht
"ab 2030". Auch inwiefern davon überwiegend Männer mit
überdurchschnittlich hohen Löhnen profitieren, lässt sich
nicht belegen, sondern es könnten genauso gut sehr wenige
hervorragend verdienende und viele eher gering verdienende,
mit niedrigen Bildungsabschlüssen sein. Darüber lässt sich der
Gesetzesentwurf nicht aus, genauso wenig wie die Zahl 50.000
stimmen muss.
Dagegen richtet sich die
Kritik an der Mütterrente, von der ca.
9,5 Millionen Mütter profitieren und die ein Mehrfaches
der Rente mit 63 kostet, nur gegen die Art der Finanzierung.
Nicht gefragt wird dagegen, ob davon nicht auch sehr viele
Mütter profitieren, deren Vermögenslage weit über jenen der
Männer liegen, die von der Rente mit 63 profitieren.
Wir hätten gerne gewusst,
welche Auswirkungen das BESCHLOSSENE Rentenpaket hat und nicht
Berechnungen, die vom Januar 2014 stammen. Bekanntlich gab es
Änderungen, über deren Wirkungen jedoch die Medien nicht
informieren.
BIRKWALD, Matthias W. (2014): Neue Renten, ohne
Niveau,
in: Blätter für deutsche und
internationale Politik,
Juni
Matthias W. BIRKWALD, rentenpolitischer Sprecher
der Linkspartei, kritisiert das beschlossene Rentenpaket unter
drei Gesichtspunkten: 1. Rücknahme der Rentenanpassungsformel
aus dem Jahr 2001, 2. Senkung der Regelaltersgrenze von 67 auf
65 Jahre und 3. Schaffung einer armutsfesten
Erwerbsminderungsrente. Im Hinblick auf diese Ziele hält
BIRKWALD das Rentenpaket für kontraproduktiv.
BIRKWALD weist insbesondere
auf die fatale Kopplung zwischen Beitragssatz und Rentenniveau
hin, die vor allem aufgrund der falschen Finanzierung der
Mütterrente zu einem niedrigeren Rentenniveau - auch für junge
Mütter - führt.
Ausführlich nachzulesen ist die Wirkungsweise in der
Ausschussdrucksache 18(11)82:
"Der »Riester-Faktor« –
als Teil der Rentenanpassungsformel gemäß § 68 SGB VI –
mindert bei steigenden Beitragssätzen zur allgemeinen
Rentenversicherung die Rentenerhöhung im Folgejahr.
Kurzfristig (im Jahr 2015) stiegen die Renten um 0,8 Prozent
weniger als vorgesehen, langfristig blieben sie rund 0,6
Prozent hinter der bisherigen Hochrechnung zurück. Bei einer
Standardrente (»Eckrente«) entspräche dies kurzfristig
monatlich einer rund zehn und langfristig einer rund sieben
Euro geringeren Bruttorente (in heutigen Werten).
Kurzfristig wären Dreiviertel (langfristig über die Hälfte)
dieser Rentendämpfung auf die nicht sachgerechte
Finanzierung der »Mütter-Renten« zurückzuführen."
(Ausschussdrucksache 18(11)82, S.15).
Neben dem Riester-Faktor
wirkt auch der Nachhaltigkeitsfaktor rentenniveausenkend:
"Steigen die auf
Kindererziehungszeiten beruhenden Rentenzahlungen an, sinkt
das Rentenniveau. Also ausgerechnet dann, wenn die
begünstigten Eltern in Rente gehen (oder bei
Leistungsausweitung bereits sind). Damit wird aber zumindest
teilweise die „Anerkennung der Kindererziehung“
konterkariert. Dies gilt insbesondere im vorliegenden Fall,
da die Anzahl der Kinder, die vor 1992 geboren wurden,
bereits feststeht und so ausschließlich der niveausenkende
Effekt des Nachhaltigkeitsfaktors zum Tragen kommt."
(Ausschussdrucksache 18(11)82, S.16).
In der Verteidigung der
Mütterrente in der Wochenzeitung Die
ZEIT durch eine fünffache Mutter wird dieser Aspekt
verschleiert.