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Zitate: Die neuen
Sexfronten
Soziologie der Sexualität
"Der
sexuelle Trieb genügt sicher nicht, mehr als die
gelegentliche Vereinigung der Geschlechter zu sichern; er
kann daher nicht, wie es vielfach geschehen ist, als der
familien- und ehebildende Faktor par excellence angesehen
werden, vor allem, weil er das Moment der Dauerhaftigkeit
der sozialen Bindung, die das Wesen der Ehe ausmacht, nicht
erklärt.
Wenn man schon nach biologischen Faktoren und Tatsachen
sucht, die gerade beim Menschen die Entstehung und den
Bestand der Institution Ehe und Familie verursacht und
gesichert haben, so steht zweifellos das spezifische
Fürsorgeverhältnis, das beim Menschen zwischen Mutter und
Kind gesetzt ist, also eher der »Brutpflegetrieb« als
der Geschlechtstrieb, hier an erster Stelle."
(Helmut Schelsky, 1955, S.27)
Das
Geschick der zwei Millionen
"Meinungen über sexuelle Beziehungen zwischen
unverheirateten Menschen (...). Das Ergebnis: 71 % billigten
solche Beziehungen, und zwar hielten 58 % diese für zulässig
und 13 % sogar für notwendig; 16 % lehnten sie als
verwerflich ab; die restlichen 13 % hatten keine klare
Meinung.
(...).
Von Friedeburg schreibt hierzu: "»Diese Ergebnisse stärken
den Eindruck, daß die Billigung der intimen Beziehungen
zwischen unverheirateten Menschen weitgehend den Charakter
eines Zugeständnisses an die heutigen Gegebenheiten, vor
allem unter dem Eindruck des Frauenüberschusses, hat. Als
solches Zugeständnis erstreckt es sich in nahezu gleicher
Weise auf beide Geschlechter (...)«"
(Regina Bohne, 1960, S.141f.)
Du bist du, und
ich bin ich
"Zwar
kommen sie erkennbar in keiner Statistik vor, aber es gibt
sie ganz gewiß noch: die mehr oder minder späten Mädchen,
die in ihren verkehrsgünstig gelegenen Ein- oder
Zwei-Zimmer-Apartements stundenweise den Besuch eines Mannes
empfangen, der danach einigermaßen pünktlich zum Essen bei
seiner Familie erscheinen muß (und auch nicht wirklich die
Absicht hat, daran etwas zu ändern).
Dies sind nicht selten Konstellationen, in den die
formaliter alleinlebende Frau sich dem Mann, mit dem sie
intim ist, sogar enger und inniger zugehörig fühlt als eine
»richtige« Ehefrau; mindestens fühlt sie sich als
umständehalber verhinderte Ehefrau. Die sich selber so
verstehende »Geliebte« lebt nur für die paar Stunden und in
den paar Stunden der Gemeinsamkeit; allein existiert sie
allenfalls in einer Art Wartestand. Jedenfalls hat sie alles
andere als das Selbstverständnis eines Singles (und kommt
deshalb in der SPIEGEL-Studie auch nicht vor)."
(Hermann Schreiber im Spiegel Nr.26/1978)
Singles. Report über die Alleinlebenden
"»Swinging« - das sind bestenfalls wiederum jene 35- bis
39jährigen Männer und Frauen, die bewußt - und ohne viel
Gefühl - die Vorteile des Alleinlebens genießen: Knapp die
Hälfte schläft da zur Zeit mit mehr als einem Partner.
Und dehnt man das Bild von der Momentaufnahme zum Film,
betrachtet man den Zeitabschnitt der letzten fünf Jahre und
fragt nach der Zahl der Partner in diesen Zeiten, dann hat
man noch immer Grund zum Staunen. Da wird das Porträt des
eher monogamen Singles ganz deutlich. Da wird klar, daß
Singles nicht nach der Parole »Ex und hopp« leben, was die
Sex-Partner angeht."
(Sybille Weber & Claus Gaedemann, 1980 , S.71)
Manchmal fehlt
der Sex
"Es gibt
(...) tatsächlich eine Leerstelle im Leben der meisten
Solo-Frauen: Einen Mangel an erotischer Anziehung und
sexueller Befriedigung. Jüngeren Frauen macht diese
Schattenseite der Solo-Existenz zu schaffen."
(Dorothee Schmitz-Köster in der
Frankfurter Rundschau vom 24.07.1993)
Singlesex
"Wenn der
Single nun schon auf den Nächsten oder die Nächste zu warten
hat, wird er dafür wenigstens durch ein abwechslungsreiches
Sexleben entschädigt? Nein. Zunächst fällt auf, dass nicht
einmal 3 Prozent der Singles sexuellen Hedonismus als
Vorteil ihrer Partnerlosigkeit nennen. Und das ist ganz
realistisch. Über 90 Prozent aller heterosexuellen
Geschlechtsakte von Studentinnen und Studenten finden in
festen Beziehungen statt. Für das Drittel der Singles
bleiben nicht einmal 10 Prozent. Das ist eine ungerechte
Verteilung und so lebt fast die Hälfte der Ungepaarten
abstinent. In den vier Wochen vor der Befragung schliefen
weniger als 10 Prozent fünfmal oder häufiger mit jemandem.
Bei den Festbefreundeten sind es zwei Drittel."
(Gunter Schmidt im NZZ Folio vom Mai 1999)
Hiphop
der Hormone
"Auch das
aufregende Sexleben von »swinging Singles« erwies sich als
Mär: Es soll trostlos sein, es sei denn, dem Single gelingt
nach frustrierender Suche eine feste Beziehung, ohne die
beiden Haushalte gleich zusammenzuschmeißen."
(Ariane Barth im Spiegel vom 27.11.2000)
Die
Superratten kommen!
"Superratten, das sind Frauen, die immer weniger in ein
bestimmtes Rollenmodell oder eine Norm passen. Die Sex nach
eigenen Regeln leben. Die sich frei genug fühlen, zu tun und
zu lassen, was sie wollen."
(Eva Meschede in der Marie Claire vom
August 2001)
First Ladies
"Virginia
Woolf fragte, was Frauen tun würden, wenn sie fünfhundert
Pfund im Jahr und ein eigenes Zimmer hätten.
«Sex and the City» hat die Antwort: Sie würden ziemlich viel
Sex haben. Und nicht immer mit den «richtigen» Männern. Und
dann würden sie unentwegt darüber reden.
Und hier sage ich: Diese Sicht der Produzenten ist
realistisch. Genau das würden Frauen einer bestimmten
Schicht und Generation tatsächlich hinter verschlossenen
Türen tun, wenn sie die Zeit, das Selbstvertrauen und die
Gelegenheit hätten."
(Naomi Wolf in der Weltwoche vom
08.07.2004)
Sein Kreuz mit den Frauen
"Ratzinger liegt schon lange im Clinch mit dem postmodernen
Geschlechterwirrwarr, jetzt scheinen ihm die Werke der
amerikanischen Gender-Forscherin Judith Butler in die Finger
geraten zu sein oder gar Beatriz Preciados »Kontrasexuelles
Manifest«. Die Spanierin Preciado erhebt in ihrem Pamphlet
die Queer Theory zur Doktrin eines Staates, in dem die
Geschlechter abgeschafft werden und Sexualität von
sämtlichen Fortpflanzungsaktivitäten getrennt wird.
Es ist nicht der »Feminismus« im klassischen Sinne, den
Ratzinger im Auge hat, sondern die aus ihm heraus
entstandene Gender- und Queer-Theory, die von einer sozialen
oder psychologischen Konstruktion der Geschlechter ausgeht
und dementsprechend den »biologischen Unterschied« zwischen
Mann und Frau nicht anerkennt, sondern dekonstruiert und
»abschafft«. In Form der Gender-Studies hat sich diese
Philosopie nicht nur an den Universitäten etabliert. Die
rot-grüne Bundesregierung hatte »Gender Mainstreaming« 1999
sogar zum durchgängigen Leitprinzip des Regierungshandelns
gemacht."
(Martin Reichert in der TAZ vom
31.07.2004) |
Einführung in die Problematik
Vorbemerkung: Dieser
Text wurde im August 2004 geschrieben. Im November 2007 wurden
neue Links hinzugeführt, um auf weiterführende aktuelle Texte
hinzuweisen. Dem Originaltext wurden neuere Anmerkungen in roter
Kursivschrift hinzugefügt.
Im Jahr 2000 ist das Buch
Die neuen Sexfronten. Vom Schicksal einer Revolution der
Journalistin Mariam LAU erschienen. Die
Autorin versucht nachzuweisen, dass die sexuelle Revolution
erfolgreich gewesen sei, wir aber heute primär die negativen
Folgen zu tragen haben. Im
folgenden soll erörtert werden, ob diese Sichtweise zutreffend
ist oder ob in den vier Jahren seit der Veröffentlichung nicht
die Sicht von LAU zum neuen Mainstream geworden ist. Welche
Konsequenzen ergeben sich aus den neuen Sexfronten für Singles?
Die Methode LAU
Die Autorin leitet das
wissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Sexualwissenschaftler
von KINSEY & Co biografietheoretisch her. Es
wird den Wissenschaftlern vorgeworfen, dass sie die
Untersuchungsgruppen so zusammengestellt haben, dass die
gewünschten wissenschaftlichen Ergebnisse erzielt werden. In
anderen Fällen soll die Theorie den eigenen Lebensstil
legitimieren. Diese
Methode LAU führt dazu, dass der Leser die wissenschaftlichen
Studien von KINSEY, MARCUSE und REICH nur im Zusammenhang mit
den erklärenden biografischen Details vermittelt werden.
Die
wissenschaftliche Community, Kriterien der Forschungsförderung
sowie Restriktionen des Publizierens bleiben in dieser
individualistischen Sicht der Wissenschaft randständig. In
einem voluntaristischen Sinne sind sie höchstens hemmende, aber
keine generierende Faktoren der Wissensproduktion. Auch
die Aktivisten der sexuellen Revolution wie Oswald KOLLE,
Beate UHSE oder Rainer LANGHANS bekommt der Leser nur
biografietheoretisch präsentiert. Im
Dunkeln bleiben jedoch die Motive von LAU und ihrer
Gewährsmännern. Der Aktivist Reimut REICHE wird nicht als
wichtiger Aktivist - und damit durch die Verbindung von Leben
und Theorie - behandelt, sondern seine Thesen bilden u. a. die
Folie für die Beurteilung der sexuellen Revolte. Während
der Leser viel über das Leben der Verfechter nicht geteilter
Positionen erfährt, bleibt das Leben jener, die LAUs Positionen
legitimieren sollen, unterbelichtet. Es ist diese Einseitigkeit,
die das Projekt LAU fragwürdig erscheinen lässt.
Sexfronten
Der Titel des Buches von
LAU verweist auf den Plural von Sexfront (so hieß ein
Klassiker der Sexualaufklärung von Günter AMENDT aus dem Jahr
1970). Dies lässt sich historisch deuten, worauf auch das "neu"
hinweist, aber offensichtlich geht es LAU in erster Linie um
eine Abgrenzung der Heterosexualität gegen die Homosexualität
bzw. lesbischen Lebensweisen. LAU
befasst sich vor allem mit Praxen und Theorien, die in den
1960er und 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts in einem eng
begrenzten Milieu entwickelt wurden und die heutzutage angeblich
das gegenwärtige Sexualverhalten erklären sollen. Dies führt zur
Verallgemeinerung, dass sich
Die neuen Sexfronten
"die Hoffnungen der
sexuellen Revolution - vom Antiautoritarismus enthemmter
Sexualität über die Befreiung der Frauen wie auch der Perversen
bis hin zur Nivellierung der Klassenunterschiede - Punkt für
Punkt erfüllt haben."
(2000, S.184) |
Was soll das aber gewesen
sein: die Hoffnungen der sexuellen Revolution? Offenbar waren
die Hoffnungen der Aktivisten der sexuellen Revolution
mehr als unterschiedlich, was LAU auch selber herausgearbeitet
hat. Enttäuscht
werden können deshalb auch nur die Erwartungen jener, die
bestimmte Ziele verfolgt haben bzw. jener, die sich mit
spezifischen Zielen identifiziert haben. Fragwürdig ist jedoch,
dass LAU für ALLE sprechen möchte. Tatsächlich
steht ihre Einschätzung sowohl der vermeintlichen Ziele als auch
der Errungenschaften für ein ganz bestimmtes Milieu, das sich
für unwiderstehlich meinungsbildend hält.
In Kapitel 3 wird z.B. behauptet, dass in
der Kommune I die neue sexuelle Etikette ihren Beginn
genommen hätte:
Die neuen Sexfronten
"Die Kommune I war die
Probebühne für eine Revolution des Alltagslebens, die alle
Steine ins Rollen brachte. Hier entstand die neue sexuelle
Etikette. Verhüten statt zittern, reden statt schlagen oder
schweigen, größtmögliches Glück für alle Beteiligten statt
quälender Zweckverbände - dies sind die Maximen des guten
Lebens."
(2000, S.73) |
Die
Kommune I wird in Kapitel 3 auf die Person des Kommunarden
Rainer LANGHANS zugespitzt. Die Grabenkämpfe und die
Interessenkonflikte der diversen Protagonisten werden
ausgeblendet (aufschlussreicher könnte hier das neue Buch von
Ulrich ENZENSBERGER über Die Jahre der Kommune I sein).
Der Grund dafür ist: LAU will die Ehe und das
Kinderkriegen in jenem Milieu rehabilitieren, das von den
damaligen Auseinandersetzungen beeinflusst worden ist.
LAU
schildert deshalb, warum LANGHANS Kommunarde wurde:
Die neuen Sexfronten
"Er hatte eine
unglückliche Liebesgeschichte mit einer Germanistikstudentin
hinter sich, die ihn verließ, weil er sie nicht heiraten und
keine Kinder mit ihr haben wollte."
(2000, S.81) |
LAU beschreibt LANGHANS
als
Berufsjugendlichen, der dem Adoleszenten verhaftet
bleibt. Mit ERIK H. ERIKSON gesprochen, mangelt es ihm an der nötigen Reife.
Das Stadium des Erwachsenen ist in dieser Sicht allein
Vätern und Müttern vorbehalten. LAU
verteidigt zwar vehement die Psychoanalyse, besonders in der
Variante von Sigmund FREUD, ihre Verteidigung bleibt jedoch
defensiv, weil sie nie offensiv im Sinne des Reifekonzepts
argumentiert. LAU greift lediglich den Kult der Jugendlichkeit,
die Infantilität usw. an, aber sie bezieht sich nicht auf jene
Konzepte, die Mutterschaft oder Vaterschaft als Norm
legitimieren. Gleichwohl stehen diese Konzepte implizit hinter
der Kritik von LAU.
Feindbild Lesbenbewegung
Das fünfte Kapitel
beschäftigt sich mit den tristen Siegen der neuen
Frauenbewegung.
Die
Frauenbewegung wird hier auf die Lesbenbewegung reduziert. Diese
Sicht hat sich in jüngster Zeit auch der Vatikan in seinem
Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die
Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt
zu eigen gemacht. Aus
der Sicht der neuen Mütterbewegung kritisiert LAU:
Die neuen Sexfronten
"Betrachtet man das
Gebaren der heutigen, zweiten Frauenbewegung, dann wird klar,
wieviel Angst die formale Gleichberechtigung auch und gerade bei
ihren Hauptgewinnerinnen, den Frauen selbst, ausgelöst haben muß.
Wo weder die Kirche noch ökonomischer Zwang, noch der Druck
sozialer Kasten dem einzelnen oder der Paarbindung etwas
vorgeben, wo Familien nicht mehr staatstragend sind, wo die
Differenzen zwischen den Partnern, was die Motivation der
Eheschließung angeht, immer mehr abnehmen - wo all dies der Fall
ist, da muß man sich völlig neu erfinden. Wer ist man, wenn
nicht einfach die Frau Oberstudienrat?"
(2000, S.123) |
Vier Jahre nach der
Erstveröffentlichung des Buches liest sich dies wie aus einer
anderen Welt.
Erstens
werden Frauen generell als Gewinnerinnen beschrieben, während
sich inzwischen ein Graben zwischen gut gebildeten
Karrieremüttern und ihren kinderlosen Kinderfrauen und
Haushaltshilfen im Niedriglohnsektor auftut. Es zeigt
sich, dass die Frauenbewegung die Spaltung INNERHALB der beiden
Geschlechter vertieft hat, während sich zwischen den weiblichen
und männlichen Modernisierungsgewinnern aus alter und neuer
Mitte ein Konsens zu Lasten der Geringverdiener herausgeschält
hat
.
Zweitens
ist die Familie inzwischen wieder voll staatstragend. Es vergeht
kaum eine Woche, in der nicht Kinderlose ihren Lebensstil
rechtfertigen müssen. Eine nachhaltige Familienpolitik
versucht es zur Zeit noch verbal mit einer Angebotspolitik. Es
dürfte jedoch nur eine Frage der Zeit sein bis sich jene
Hardliner durchsetzen, die einen kinderlosen Lebensstil
bestrafen. Schärfere Zumutbarkeitskriterien für Ledige, ein
höherer Beitrag für Kinderlose in der Pflegeversicherung sind
nur die ersten Erfolge einer starken Familienlobby.
Im Buch Die
Single-Lüge wird dieses nationalkonservative
Argumentationsmuster ausführlich vorgestellt.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
Das
sich dahinter verbergende Prinzip der horizontalen
Verteilungsgerechtigkeit, das keine Schichten, Milieus oder
Klassen kennt, kommt heutzutage als
Generationengerechtigkeit
daher, ist jedoch nichts anderes als der Versuch den
gegenwärtigen Lebensstilpluralismus zu eliminieren. Die
traditionelle Familie soll für jeden zur Pflicht werden.
In
diesem fünften Kapitel bezieht sich LAU doch noch auf ein
Reifekonzept, nämlich jenes von Reimut REICHE. Im
dreistufigen Reifeprozess steht am Ende die "Frage der
Anerkennung von Mütterlichkeit als konstitutivem Element von
Weiblichkeit" (S.125).
Das
Modell ist entgegen dem achtstufigen Reifemodell von
Erik H. ERIKSON unterkomplex. Offenbar
steht uns die nächste Entwicklungsphase noch bevor: das
Altern der Frau. So zukunftsweisend ist LAUs Buch jedoch
nicht.
LAU
muss sich stattdessen an der autonomen bzw. radikalen
Frauenbewegung abarbeiten. Dazu wird Alice SCHWARZER als
Lesbe beschrieben.
Ein
Blick in die EMMA der vergangenen Jahre, also das
Publikationsorgan von Alice SCHWARZER, zeigt jedoch auch hier,
dass EMMA mittlerweile zum Flaggschiff der neuen Mutterbewegung
mutiert ist. LAU
kämpft in dem Buch historisch obsolet gewordene Kämpfe. Das Buch
muss deshalb als Ausdruck des gegenwärtigen Mainstream gelesen
werden. Die Errungenschaften seit den 1970er Jahren sollen
rückgängig gemacht werden. Dazu zählt in erster Linie der
kinderlose Lebensstil.
LAU
selbst empfindet ein Defizit bei der Legitimierung der
Mutterschaft:
Die neuen Sexfronten
"Nirgends ist eine
theoretische Position in Sicht, die für Mütterlichkeit eine
Würdigung parat hat, ohne gleich ins Eschatologische zu
verfallen oder einen rousseauistischen Kommunitarismus zu
frönen."
(2000, S.146) |
Dem ist mittlerweile durch
die Theorien des demografischen Wandels Abhilfe
geschaffen worden. In demografischer Sicht ist die feministische
Frage nur noch im Hinblick auf das funktionale Ziel der Erhöhung
der Geburtenrate relevant.
Identitätspolitik
Im sechsten Kapitel Gender
ohne Sex widmet sich LAU dem Aufstieg des kulturellen
Genderbegriffs, der den biologischen Sexbegriff abgelöst
haben soll. Daran wird der Niedergang der Psychoanalyse
festgemacht.
Mit
Michel FOUCAULT, Jacques LACAN und Judith BUTLER werden die
Popikonen des postmodernen Diskurses vorgestellt. Von einem
"Sieg von gender über sex" (S.176) zu sprechen, das erscheint
heutzutage noch fragwürdiger als im Jahr 2000. Auch
wenn der Vatikan in dem bereits genannten Schreiben ebenfalls
diese Gefahr beschwört (siehe oben die Ausführungen zum
Feindbild Lesbenbewegung).
Der Wahlkampf 2002 hat gezeigt, dass die Mainstream-Familienpolitiker die Minderheitsstrategie der
Identitätspolitik erfolgreich kopiert haben. Alle Parteien
stellten die Mütterlichkeit in den Mittelpunkt. Mit
Katherina REICHE nominierten CDU/CSU eine ledige Schwangere, um
ihrem antiquierten Mutterbild ein adrettes Gesicht zu verleihen.
Die Kanzlergattinnen von STOIBER und SCHRÖDER symbolisierten,
dass es höchstens noch um eine Formfrage geht.
Was
passiert, wenn Angela MERKEL 2006 tatsächlich
Kanzlerkandidatin werden sollte? Dann würde die Debatte um
Kinderlosigkeit verschärft werden
(Anmerkung: Das sollte sich
zwei Jahre als prophetisch erweisen, auch wenn MERKEL früher als
erwartet Kanzlerin wurde
). MERKEL hat bereits in der
Vergangenheit ihren eigenen Lebensstil verleugnet und drastische
Bestrafungen für Kinderlose gefordert. Es würde deshalb kaum
verwundern, wenn in einem solchen Wahlkampf mit noch härteren
Bandagen gekämpft werden würde.
Das heterosexuelle, verheiratete Paar und seine
Zukunft
Im letzten Kapitel
rechtfertigt LAU den Lebensstil der Verheirateten:
Die neuen Sexfronten
"die Gruppe, die noch am
meisten Sex hat, das sind nicht etwa die Jungen und
Ungebundenen, sondern die Verheirateten"
(2000, S.191) |
LAU zitiert hier eine
US-amerikanische Studie. Auch die Zufriedenheit ist unter
Verheirateten oder unehelich Zusammenlebenden am höchsten.
Eine
solch statische Sichtweise, die Single-Dasein und
Ehepaar-Dasein als alternative Lebensstile betrachtet, ist
heutzutage überholt. In
einer Studie von Gunter SCHMIDT u.a. wurde der Wandel der
Beziehungsbiografien untersucht. Danach hat sich die serielle
Monogamie zum dominanten Beziehungsmuster entwickelt . Das
Eheleben und Single-Dasein wird in dieser Sicht zur Lebensphase. SCHMIDT
& VON STRITZKY (2004) prognostizieren in der Zeitschrift
Familiendynamik sogar:
Beziehungsbiographien im sozialen Wandel
"Nachdem die Ehe ihr
Monopol verloren hat, Sexualität zu legitimieren, verliert sie
nun ihr Monopol, Beziehungen und Familien zu definieren."
[mehr]
(aus: Familiendynamik, Heft 2, 2004, S. 79) |
Die Aussage muss jedoch
relativiert werden, denn Gunter SCHMIDT sieht in der
protestantischen Großstadtbevölkerung die sexuelle
Avantgarde dieses seriell monogamen Lebensstils. Katholiken und
Provinzbewohner sind in dieser Sicht rückständig, was sich
jedoch in den kommenden Jahren ändern wird. Auch
wenn man dieser Sicht nicht folgt und davon ausgeht, dass es
auch zukünftig Milieuunterschiede geben wird, sind die
Ergebnisse der Untersuchung wegweisend, weil hier nicht wie
üblich Lebensformen zu einem bestimmten Zeitpunkt untersucht
werden, sondern der Lebenslauf der Menschen
berücksichtigt worden ist.
Arne
DEKKER & Silja MATTHIESEN haben im Fachaufsatz
Beziehungsformen im Lebensverlauf dreier Generationen in der
Zeitschrift für Familienforschung (Heft 1/2004) auf Basis dieser
Daten die Beziehungsverläufe der
68er-Generation (1942
Geborene), der
Single-Generation (1957 Geborene) und der
Generation Golf
(1972 Geborene) verglichen.
Sie
haben herausgefunden, dass der Anteil der
Beziehungsfernen, im Sinne von dauerhaften Singles über die
Generationen nicht angestiegen ist, sondern "einigermaßen
konstant bei einem Zehntel" liegt. Die
Zunahme der Singles in der Postadoleszenz und im mittleren
Lebensalter ist stattdessen die Konsequenz der seriellen
Monogamie
. Die
Forscher haben im Gegensatz zu vielen anderen Studien auch
Paare ohne gemeinsamen Haushalt zu den Paaren gezählt, wenn
dies deren Selbstdefinition entsprach
.
Partnerlosigkeit
ist nach diesen Ergebnissen also kein dauerhafter Zustand,
sondern eine Phase zwischen zwei Beziehungen. Das
Single-Dasein ist aus der Perspektive serieller Monogamie
eine notwendige Phase in einem Erprobungs- und Lernprozess,
um den richtigen Partner zu finden
.
Unter diesen Umständen erscheinen die Ergebnisse von LAU in
einem ganz anderen Licht. Aus der Lebenslaufperspektive ist der Wechsel zwischen Phasen der Unzufriedenheit bzw. Zufriedenheit
normal. Momentane Unzufriedenheit ist kein geeigneter Indikator,
um die Überlegenheit einer Lebensform festzuschreiben. Dies ist
umso weniger der Fall je instabiler Ehen sind.
Die Alleinlebenden
Die neuen Sexfronten
"Die Schwulen leben vor,
daß es möglich ist, sexuelle und affektive Bedürfnisse zu
trennen, ohne einsam zu werden. Die wachsende Zahl allein
lebender Erwachsener signalisiert, daß viele einen solchen
Lebens- und Beziehungsstil erproben möchten: sexuelle Kontakte
in einem Kontext unterhalten, der Zusammengehörigkeit stiftet,
ohne unbedingt auf Dauerhaftigkeit angelegt zu sein."
(2000, S.203) |
Homosexuelle werden heutzutage gerne als Vorbilder
für den Lebensstil der Alleinlebenden ausgegeben,
vorzugsweise in reaktionären Kreisen, denen ein Zurück zur
Familie am Herzen liegt. Der
lebenslange Single ist jedoch in erster Linie ein statistisches
Artefakt, wie die vorgestellte empirische Studie von Gunter
SCHMIDT u.a. belegt hat.
Die Heterogenität der Alleinlebenden verbietet es - wie LAU
es hier in Anlehnung an Reimut REICHE nahe legt - einen
homogenen Lebensstil zu konstruieren. Selbst
Alleinlebende im mittleren Lebensalter sind keine homogene
Gruppe. Was rechtfertigt es z.B. einen ledigen, gering
verdienenden Berufstätigen auf der Suche nach einer neuen
Partnerin mit einem Scheidungssingle, der Frau und Kinder
zurücklassen musste zu einer Lebensstil-Kategorie zusammen zu
fassen? Was hat der überzeugte Single mit der jungen Witwe zu
tun, die gerade ihren Mann verloren hat? Was hat der oder die
Fernliebende mit dem unfreiwillig Partnerlosen zu tun? Das
einzige, was diese Menschen gemein haben: sie stehen im
Brennpunkt einer sozialpopulistischen, politischen Debatte,
die keine Differenzierungen kennt.
Sexuelle Orientierungen der Alleinlebenden
Auch wenn es Mariam LAU
nicht passt. Die sexuellen Orientierungen der Alleinlebenden
sind differenzierter als sie gemäß dem vorgestellten Pamphlet
sein dürften. Weder
die Vorbildfunktion der Kommune I noch die Schwulen-
oder Frauenbewegung können den Anstieg der Alleinlebenden
hinreichend erklären. Die neue sexuelle Etikette - kurz als Verhandlungsmoral bezeichnet -
hat sowohl die Ehe als auch das Single-Dasein verändert, aber es
waren ganz bestimmt nicht die Ideologien, sondern vielmehr die veränderten Rahmenbedingungen (z.B. Bildungsexpansion,
veränderte Bedingungen des Arbeitsmarkts, Massenarbeitslosigkeit
usw.), die neuen Gelegenheitsstrukturen
und ein neues
Beziehungsideal
,
dessen Entstehung zwar mit der Frauenbewegung zusammenhängt,
aber weder die Schwulen- noch die Lesbenbewegung spielen dabei
eine entscheidende Rolle, haben zum Anstieg der Alleinlebenden
in der Postadoleszenz und im mittleren Lebensalter geführt.
Davon abgesehen bleibt das Alleinleben der Älteren bei LAU
völlig unberücksichtigt. Repräsentative
Studien über die sexuelle Orientierung von Alleinlebenden fehlen
dagegen. Umfragen und Erhebungen im Studentenmilieu - wie sie
gewöhnlich durchgeführt werden - können kaum Rückschlüsse über
das gesamte Spektrum der Alleinlebenden geben. Aufgrund des
Forschungsdefizits müssten Ausführungen also hochgradig
spekulativ bleiben.In
einem späteren Beitrag wird auf die Vielfalt sexueller
Orientierungen eingegangen werden, die sich in
nicht-repräsentativen Untersuchungen gefunden haben
(Anmerkung: Zum
Beitrag über Menschen ohne Beziehungserfahrung hier
).
Fazit: Die neuen Sexfronten als Kulturkampf
Das Buch
Die neuen Sexfronten von Mariam LAU muss als Ausdruck des
Kulturkampfes um die Familie betrachtet werden. In
diesem Sinne drückt es die Position eines erstarkten
Familienfundamentalismus aus, der kinderlose Lebensstile als
widernatürlich, gemeinwohlschädlich oder bestenfalls als
Infragestellung des eigenen Familienlebensstils betrachtet. LAUs
Position erhält auch deshalb Gewicht, weil es sich hier nicht um
eine Kritik aus erzkonservativen Kreisen handelt. Vielmehr
handelt es sich um einen Versuch der Revision ehemals
progressiver Positionen. LAUs theoretische Vorlagen kommen u.a.
von Reimut REICHE, also von einem zentralen Akteur der
Studentenbewegung. Der
Angriff auf Positionen des Gendermainstreaming reicht von
Antifeministen wie Rainer PARIS (Doing Gender, 2003
) bis zum
bereits genannten Vatikan-Schreiben. Nicht
zu vergessen sind die Gesetze, die von Rot-Grün unter Duldung
von CDU/CSU durchgesetzt worden sind und die allesamt auf eine Bestrafung kinderloser Lebensstile hinauslaufen.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
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