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Einführung
Im Frühjahr 2011 wurde auf
dieser Webseite die Ressourcentheorie und Machtanalyse von Alban
KNECHT vorgestellt
. Das
Buch
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit,
herausgegeben von Alban KNECHT & Franz-Christian SCHUBERT,
widmet sich nun speziell dem Zusammenhang von Sozialpolitik als
Ressourcenzuteilung und dem Praxisfeld
Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Diagnose, Förderung und
Aktivierung von Ressourcen. Mit der Fokussierung auf Ressourcen
als Hilfsmittel zur Bewältigung von individuellen Lebensaufgaben
ist ein Perspektivenwechsel weg von den Defiziten hin zur Förderung verbunden. In diesem Beitrag sollen zum
einen Schlaglichter hinsichtlich des Wandels von Sozialstaat und
Sozialer Arbeit gesetzt werden und
zum anderen soll gefragt werden, inwiefern die besondere
Situation von Singles im Ressourcenansatz berücksichtigt wird.
Der
Sozialstaat als gesellschaftsprägende Kraft
Der Sozialstaat wird in
dem von KNECHT & SCHUBERT herausgegebenen Buch umfassender in
den Blick genommen als es lange Zeit üblich war. Ähnlich wie der
Soziologe Berthold VOGEL, der in seinem Buch
Wohlstandskonflikte, den Sozialstaat nicht auf Sozialpolitik
im engeren Sinne (z.B. als Renten-, Unfall- ,Pflegeversicherung
usw.) reduziert, sondern als gesellschaftsprägende Kraft
versteht, die in der Vergangenheit u.a. zur Entstehung einer breiten
Mittelschicht beitrug
und
gegenwärtig durch den Umbau zum Gewährleistungsstaat die
Dienstleistungslandschaft verändert, zu der auch das Praxisfeld
Sozialarbeit/Sozialpädagogik gehört
, wird im
Buch Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit,
der Sozialstaat als Interventionsstaat in den Mittelpunkt
gerückt. In der Ressourcentheorie von Alban KNECHT
geht es insbesondere um die Beeinflussung der sozialen Ungleichheit
durch den Sozialstaat.
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Der
Staat bzw. Sozialstaat teilt z.B. in Form von Bildungs-,
Gesundheits- und Sozialpolitik verschiedenen
Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Ressourcen zu und
kann damit die Sozialstruktur und die soziale Schichtung
der Gesellschaft beeinflussen. Er hat damit die
Möglichkeit, Unterschiede in der Ressourcenausstattung zu
beseitigen oder zu verstärken. Auch wenn der Sozialstaat
dabei häufig nach dem Matthäus-Prinzip verfährt ("Wer hat,
dem wird gegeben"), (...)(legt diese) Ressourcentheorie
des Sozialstaats (...) die prinzipielle Beeinflussbarkeit der
Ungleichheitsstrukturen offen".
(2012, S.34f.) |
Der Aspekt, den Berthold
VOGEL in seinem Buch Wohlstandskonflikte behandelt, wird
im Buch von KNECHT & SCHUBERT nur am Rande behandelt. So
beschäftigt sich z.B. der Beitrag von Michaela NEUMAYR mit der
finanziellen Abhängigkeit von Non-Profit-Organisationen und ihre
Folgen.
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Dienstleistungen des
Sozial- und Gesundheitswesens (werden) meist von Non-Profit-Organisationen (NPOs)
erstellt, jedoch unter wesentlicher Beteiligung der
öffentlichen Hand finanziert".
(2012, 172)
"Die enge
institutionelle Verflechtung zwischen NPOs und dem
öffentlichen Sektor - sei es über Versorgungsaufträge der
öffentlichen Hand oder über Finanzierungsbeziehungen -
stellt sowohl in Deutschland als auch in Österreich ein
wesentliches Merkmal der wohlfahrtsstaatlichen
Aufgabenteilung dar, die auf eine lange Tradition
zurückblicken kann (...). Gegenwärtig finanziert sich der
Non-Profit-Sektor in Deutschland zu etwa 64 %, in
Österreich zu etwa 50 % aus öffentlichen Mitteln (...)."
(2012,173) |
In der Öffentlichkeit
dient diese Verflechtung oftmals zur Diskreditierung des
Sozialstaats insgesamt, wie z.B. in Walter WÜLLENWEBERs Pamphlet
Die Asozialen aus dem Jahr 2012. Es stellt sich vor diesem
Hintergrund also die grundsätzliche Frage inwiefern die soziale
Arbeit lediglich die Sicherung berufsständiger Interessen im
Blick hat oder ob sie tatsächlich die soziale Lage ihrer
Klienten verbessern kann. Im Gegensatz zum Populismus eines
WÜLLENWEBER, der lediglich Ressentiments in bestimmten
Mittelschichtmilieus bedient, wird hier davon ausgegangen,
dass soziale Arbeit durchaus einen Beitrag zur Verbesserung der
sozialen Lage von betreuten Personen leistet, die von
WÜLLENWEBER abschätzig unter den Generalverdacht einer
parasitären Unterschicht gestellt wird. In
einer Auseinandersetzung mit Thilo SARRAZINs Buch Deutschland
schafft sich ab wurde diese Sichtweise auf die Unterschicht
bereits ausführlich kritisiert
.
Sozialstaat und soziale Ungleichheit
Der Ressourcenansatz
beansprucht einen Beitrag zur Reduzierung der sozialen
Ungleichheit in unserer Gesellschaft zu leisten. Er setzt dabei
auf die Befähigung von Bürgern im Gegensatz zur finanziellen
Absicherung spezieller Lebenslagen. In dieser Sicht werden dann
Sozialinvestitionsstaaten und Transferstaaten unterschieden:
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Die Sozialpolitik der
Sozialinvestitionsstaaten zielt eher darauf ab,
Bürgerinnen und Bürger durch (Fort-)Bildungsmaßnahmen
zu befähigen, dauerhaft ausreichendes eigenes Einkommen zu
erzielen. Die Sozialpolitik von Transferstaaten, zu denen
Deutschland und Österreich zählen, ist mehr auf den
Statuserhalt (älterer) Bürger ausgerichtet (...). Eine
besondere Ausformung des Sozialinvestitionsstaats stellt
das neue politische Leitbild des »Frühförderstaats« bzw.
»Befähigungsstaats« (...) dar."
(2012, S.84f.) |
Es stellt sich jedoch die
Frage, inwiefern diese beiden Sichtweisen tatsächlich Gegensätze
sein müssen oder ob sie sich nicht sinnvoll ergänzen könnten.
Diese Problematik stellt sich insbesondere bei den Alten, da
diese im Gegensatz zu den Jungen und Erwachsenen nur noch im
begrenzten Maße ihre Lebenslage ändern können.
Soziale Arbeit und soziale Ungleichheit
Eine entscheidende Frage
ist, inwiefern die Soziale Arbeit überhaupt die soziale
Ungleichheit beeinflussen kann und welchen Stellenwert dabei der
Ressourcenansatz hat. Im Buch Ressourcen im Sozialstaat und
in der Sozialen Arbeit widmet sich das erste Kapitel den
konzeptionellen Zugängen und klärt, was unter Ressourcen zu
verstehen ist, welche Faktoren die Handlungsfähigkeit von
Personen bedingen und ordnet den Capability-Ansatz von Amartya
SEN
in eine
Ressourcentheorie der Sozialpolitik ein. Das zweite Kapitel
bilden soziologische Analysen der Ressourcenzuteilung im
Sozialstaat. Damit werden sozusagen die Rahmenbedingungen der
sozialen Arbeit abgesteckt. Im Mittelpunkt stehen die Ressourcen
Geld (bzw. Armut), Gesundheit, Bildung, das Sozialkapital und
die Zeit. Dabei werden insbesondere die Interessen von Frauen
und Familien berücksichtigt.
Das Single-Dasein als blinder Fleck einer
Theorie der Sozialen Arbeit
In Bezug auf Singles ist
insbesondere der Beitrag von Matthias DRILLING zu Young
Urban Poor
bedeutsam. In diesem Beitrag wird das Verhältnis
des Capability-Ansatzes zum aktivierenden Sozialstaat
folgendermaßen erläutert:
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Sozialpolitik ist als Ermöglichung von Freiheit zu
denken, nicht als deren Beschränkung. Sozialhilfe als
Nothilfe hat demzufolge nicht nur die Aufgabe, die Armut
im materiellen Bereich zu überwinden (negative Freiheit),
sondern mit den Betroffenen auch Perspektiven zu eröffnen
(positive Freiheit), die von tatsächlichen
Möglichkeiten (z.B. Arbeitsplatz,
Kinderbetreuungseinrichtung, Coaching etc.) gerahmt werden
müssen (reale Freiheit). Dieser
Gewährleistungsanspruch wird als offen verstanden, d.h.
eröffnete Möglichkeiten können, müssen aber nicht genutzt
werden. Deshalb unterstützt der Capability-Ansatz auch
nicht den Aktivierungsansatz des sich transformierenden
Wohlfahrtstaats, der auf Produktivität ausgerichtet ist
(...). In dieser Konsequenz sind die Institutionen der
sozialen Sicherheit dahingehend zu überprüfen, ob sie
positive und reale Freiheit schaffen. Dabei darf man sich
nicht am individuell realisierten Güterbündel einer Person
orientieren, denn Güter sind in dieser Konzeption »nur«
das Ergebnis realisierter Verwirklichungschancen."
(2012, S.158) |
Die Einlösung eines
solchen Verständnisses von Sozialpolitik lässt sich in den sehr
unterschiedlichen Beiträgen des Buches leider nicht immer
finden. Soziale Arbeit kann in diesem Sinne dann höchstens
positive Freiheiten schaffen, aber keine realen
Freiheiten. DRILLING führt die Verfestigung von Armut bei
Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen deshalb auf die Ausdünnung
sozialstaatlicher Sicherung zurück:
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Die strukturelle
Verfestigung von Armut findet in einem (sozial)politischen
Umfeld statt, das die Ursachen von Krisen eher im
individuellen Versagen als in den gesellschaftlichen
Bedingungen sucht und das die Verantwortung für die
Veränderung eher den Einzelnen überträgt. Entsprechend
kommt es zu einer Ausdünnung sozialstaatlicher Sicherung,
einer Konzentration auf das »Wesentliche« und zur
Diskussion, nur noch die »Grundversorgung«
sicherzustellen. Damit trägt die Transformation des
Wohlfahrtsstaats maßgeblich dazu bei, dass eine Lebenslage
»Young Urban Poor« entsteht, derer Merkmale die
krisenhaften biografischen Verläufe infolge unzureichender
Ausstattung mit sozialen, kulturellen und ökonomischen
Ressourcen sind und die nicht mehr auf uneingeschränkte
Unterstützung des Sozialstaats zurückgreifen können."
(2012, S.169) |
In dem Buch
Sozialpolitik und Soziale Arbeit von Lothar BÖNISCH &
Wolfgang SCHRÖER werden die Grenzen der Sozialen Arbeit auch auf
die mangelnde Konfliktfähigkeit spezieller Interessen und den
sozialen Druck durch die Öffentlichkeit, die mächtige Interessen
repräsentieren, zurückgeführt:
Sozialpolitik und Soziale Arbeit
"Die
historische Idee des Sozialstaats meint (...) nicht nur
ein institutionelles Leistungssystem, sondern vor allem
auch ein gesellschaftliches Bezugs- und Aushandlungssystem
sozialer Konflikte. Dies wird aber in den Vorstellungen
vom aktivierenden Sozialstaat - meist implizit -
übergangen, in denen der Sozialstaat als bloßer
Bereitsteller von Infrastruktur und die Bürgergesellschaft
als Füllung dieser Infrastruktur gesehen wird. Damit wird
ihm sein in der Konfliktdimension begründetes historisches
Gestaltungsmandat abgesprochen."
(2012, S.81)
"Die Soziale Arbeit ist
(...) existenziell auf die Institutionalisierung wie
gesellschaftliche Belebung des sozialen Konflikts angewiesen,
wenn sie nicht auf eine lediglich sozialtechnologische
Funktion reduziert werden will."
(2012, S.85)
"Zur gesellschaftlichen
Akzeptanz der Art und Weise, wie die Klienten der Sozialarbeit
sozialstaatlich betreut und gefördert werden, gehört auch die
Akzeptanz seitens anderer sozialer Gruppen und hier vor allem
die Akzeptanz seitens der die gesellschaftliche Normalität
verkörpernden Mittelschicht. Gerade von dieser Seite aber hat
sich in den letzten Jahren ein diffuser Druck auf die Soziale
Arbeit und ihre Klienten entwickelt. (...). Die Sozialarbeit
gerät so wieder unter Druck, das Verursachungs- zum
Verschuldungsprinzip zu machen und damit zu personalisieren."
(2012, S.109) |
Diese beiden Aspekte sind
insbesondere hinsichtlich der Situation von Singles in der
Gesellschaft bedeutsam, denn im Gegensatz zu Frauen, Familien
oder Alten - zu denen das Single-Dasein mehr oder weniger quer
liegt - haben Singles keine Lobby, sondern werden entweder
vernachlässigt oder gar als Gegensatz zur Zielgruppe "Familie"
gesehen. So finden sich z.B. bei BÖHNISCH & SCHRÖER Singles als
"Haushalte ohne Kinder" wieder, die "ungerechte Vorteile"
genießen:
Sozialpolitik und Soziale Arbeit
"Weitergehend ist die
familienpolitische Frage nach der gerechten Verteilung der
Zukunftslasten im Verhältnis der Haushalte mit Kindern
und denen ohne Kinder. Im Kern geht es dabei um die
Frage, ob die Entscheidung für Kinder, deren Pflege und
Erziehung als Privatangelegenheit betrachtet werden kann, oder
ob hier Leistungen zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit der
Gesellschaft erbracht werden, ob also die familialen
Leistungen als unverzichtbarer Beitrag zur kollektiven
Wohlfahrtsproduktion zu sehen und unter dem Gesichtspunkt der
Leistungsgerechtigkeit auch entsprechend zu honorieren sind.
»Warum soll eine
Jahrgangsgruppe, die ihre Geburten reduziert hat, nicht die
Konsequenzen tragen?« fragt Kaufmann (1997, S.174) und
verweist auf
Rentenmodelle, in denen Leistungsansprüche durch
den geleisteten generativen Beitrag begründet und - besser als
bisher durch Anrechnung von Erziehungsjahren - honoriert
werden. Am anderen Pol des Gerechtigkeitskontinuums drohen
denjenigen Jahrgängen bzw. Kohorten Strafpunkte und
Rentenabzug, die »aus demographischer Sicht
ungerechtfertigte Vorteile hinsichtlich ihrer
Versorgungspflichten im Drei-Generationenverbund genossen«
haben (ebd., S.72).
Denn inzwischen hat sich die gesellschaftliche
Entwicklung polarisiert. Dass eine
Spaltung droht zwischen
einem - trotz Krisen und Belastungen - noch nach weitgehend
tradierten Lebensentwürfen gestalteten
Familiensektor und
einem wachsenden Gesellschaftssektor, der durch
Kinderlosigkeit und
plurale Lebensformen gekennzeichnet ist,
wurde schon in den 1990er Jahren kritisch gesehen: »Das
ungebremste
Wachstum des Nicht-Familiensektors führt aus der
Sicht nicht nur konservativer Sozialpolitiker zu einer
wachsenden Umverteilung der gesellschaftlichen Lasten der
Familien zugunsten der
Alleinlebenden und doppelverdienender
Paare ohne Kinder« (...)."
(2012,
S.178) |
Eine solche
Demografisierung sozialer Probleme ist heutzutage leider gängige
Praxis. Gerade im Bereich der sozialen Arbeit/Sozialpädagogik,
die eigentlich die strukturellen Bedingungen, die das
unfreiwillige Alleinleben und Kinderlosigkeit in unserer Gesellschaft fördern, in
den Blick nehmen sollte, werden stattdessen Ressentiments gegen
Alleinlebende und Kinderlose geschürt. So werden Alleinlebende von BÖHNISCH &
SCHRÖER in einen Topf mit "doppelverdienenden Paaren ohne
Kinder" geworfen, obgleich deren Situation sehr verschieden ist.
Kinderlosigkeit wird gerne auf eine "Kultur der Kinderlosigkeit"
geschoben, die Wahlfreiheit suggeriert, wo - wie die
Untersuchung
Kinderlosigkeit in Deutschland von Rabea
KRÄTSCHMER-HAHN ergab - schlicht
soziale Ungleichheit regiert.
Kinderlosigkeit in Deutschland
"Der Kanon in der
öffentlichen Debatte geht in Richtung, dass der hohe
Anteil von Kinderlosen einer
»Kultur der Kinderlosigkeit« oder einem »Lebensstil
kinderlos« geschuldet ist (...). Meine Analysen bestätigen
dies nicht, sondern stellen vielmehr heraus, dass die
sozialstrukturelle Positionierung im Sozialgefüge,
basierend auf den vertikalen Ungleichheitsdimensionen
Bildung, Ausbildung, Berufsprestige und letztlich in der
sozialen Schichtzugehörigkeit, wichtige Determinanten
sind, die im Paar wirksam werden und das
Fertilitätsverhalten beeinflussen - nicht aber die
Lebensführung. Es scheint vor diesem Hintergrund nicht
zuzutreffen, was exemplarisch die Welt am Sonntag
schreibt:
»Wir
werden dreißig, fünfunddreißig, vierzig beim Grübeln im
Drei-Zimmer-Single-Appartement über die Frage, ob der
derzeitige Partner wohl der Richtige ist und ob ein Kind
mit drei Reisen pro Jahr vereinbar sein könnte.« (Keese
2006:2)
Auch
wenn diese vielgetätigte Vermutung, dass der gewählte
Lebensstil eine Familiengründung verhindert, unseren
Erfahrungen im Alltag partiell entspricht, so muss doch
konstatiert werden - wie die empirische Analyse hier zeigt
- dass sie vielleicht nur einer phänomenologischen
Alltagsbeschreibung für bestimmte soziale Gruppen
entsprechen."
(2012, S.216) |
Eine Theorie der sozialen
Arbeit, die dem Populismus der sozialpolitischen Debatte nichts
entgegensetzt, sondern diesen noch verstärkt, ist sehr
bedenklich.
Auch in dem Buch Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
kommen Singles nicht vor. Dies entspricht aber auch einem eklatanten
Fehlen einer Singleforschung, die diesen Namen verdienen
würde. Im Gegensatz zu Kindern und Frauen haben sie keinen
eigenen Stellenwert, sondern dienen eher als Negativfolie
. Ihre
Probleme werden deshalb nicht aus einer eigenen Perspektive wie
Frauen oder Familien betrachtet, sondern finden sich allenfalls
unter den speziellen Lebenslagen von jungen Erwachsenen,
Arbeitslosen, Working Poor oder den Alten wieder. Forschungen zur
Partnerschaft und Partnerlosigkeit (als Problem für die Familiengründung) oder
Kinderlosigkeit - jenseits des defizitären Haushaltsansatzes und
unter Einbezug haushaltsübergreifender Partnerschaften -
gibt es vermehrt erst seit der Jahrtausendwende
. Das ist
mehr als erstaunlich, da die Single-Gesellschaft als
Horrorszenario
bereits seit Mitte der 1980er Jahre beschworen wurde. Die
mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Partnerschaft durch
Mobilitäts- und Individualisierungszwang ist leider (noch) kein
Thema in der Öffentlichkeit bzw. wird in der Wissenschaft fast
ausschließlich hinsichtlich der Mobilität privilegierter
Doppel-Karriere-Paare diskutiert.
"Living apart together" - eine dauerhafte Alternative?
"Der Begriff
»Notlösung«, der häufig in Zusammenhang mit den berufsbedingten
Fernbeziehungen genannt wird, kennzeichnet (...) einen (...) Typ
von LAT-Partnerschaften (...), der hier als ökonomisch
depriviert bezeichnet und in der bisherigen Forschung weitgehend
vernachlässigt wurde. (...).
Aus
dieser Perspektive ist in der bisherigen Forschung zu
LAT-Partnerschaften ein gewisser »Wohlstands-Bias« nicht zu
übersehen. Während die mutmaßlichen Belastungen der
berufsbedingten Mobilität überbetont werden, finden andere
Aspekte der beruflichen Lage, wie z.B. Arbeitslosigkeit und
Einkommensarmut, kaum Berücksichtigung.
Es sind nicht
die Mobilitätserfordernisse der berufsbedingten Fernbeziehungen,
die sich langfristig negativ auf die Partnerschaftsentwicklung
auswirken, sondern die Restriktionen derjenigen Personen, die
sich am unteren Ende der Sozialstruktur befinden."
(Daniel & Nadia Lois, soziale Welt, Heft 2, 2012,
S.136f.) |
Der Wandel des Sozialstaats und die veränderte
Rolle der Sozialen Arbeit
Welche Rolle spielt die
Soziale Arbeit im Rahmen des Paradigmenwechsels in der
Sozialpolitik? Der Ressourcenansatz versteht sich als
Beeinflussung der Ressourcen von Personen:
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Soziale
Arbeit diagnostiziert Ressourcen, orientiert sich an
Ressourcen, aktiviert und fördert Ressourcen."
(2012,
S.11)
"Die Soziale Arbeit
lässt sich mit der Ressourcentheorie als ein Teil
sozialpolitischer Interventionen darstellen, der die
Ressourcenlage von Individuen face-to-face beeinflusst."
(2012, S.87) |
Dabei wird insbesondere
der Wechsel von der Defizitorientierung zur Fokussierung auf die
Stärken bzw. Fähigkeiten in der Praxis der Sozialen Arbeit
hervorgehoben, aber auch die Blickrichtung der Forschung hat
sich geändert, wie Heiner KEUPP betont:
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Bei der Suche nach
Erklärungen, wie gesundheitliche und soziale Problemlagen
von Menschen bewältigt werden, tritt die Frage nach
Risiken und wie Menschen Risiken vermeiden können
zunehmend zurück. Im Vordergrund steht vielmehr die
umgekehrte Fragen, was Menschen befähigt, mit Risiken und
Problemlagen konstruktiv umzugehen und eigene
Vorstellungen von einem gelingenden Leben zu realisieren."
(2012, S.44) |
KEUPP sieht insbesondere
in der Förderung der Identitätsarbeit einen wichtigen Beitrag
der Sozialen Arbeit:
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Die Förderung von
Identitätsarbeit im Sinne widerständiger Grenzziehungen zu
den Zumutungen »neosozialer Gouvernementalität« (Lessenich
2008, 84) kann als ein wichtiges Kriterium und
unterstützenwertes Ziel gelingender Gesundheitsförderung
bzw. pädagogischer Praxis gesehen werden."
(2012, S.56) |
Mit der Teilprivatisierung
der Alterssicherung, der Entstehung von Gesundheitsmärkten im
Gesundheitswesen und einer veränderten Aufgabenverteilung
zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft
, ist auch eine
Neupositionierung der Sozialen Arbeit verbunden. Die veränderte
Rolle der Sozialen Arbeit, kann zum einen wie bei KEUPP aus der
Notwendigkeit des Ressourcenansatzes heraus begründet werden:
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Im Unterschied zu den
Präventionsdiskursen, die Interventionen durch
professionelle Systeme erfordern, erfordert das Konzept
der Gesundheitsförderung eine zivilgesellschaftliche
Perspektive".
(2012, S.45) |
Zum anderen könnte sich
hinter einem neuen Rollenverständnis aber auch eine veränderte
Interessenlage verstecken. Darauf machen BÖHNISCH & SCHRÖER
aufmerksam:
Sozialpolitik und Soziale Arbeit
"Wenn man Sozialpolitik als System
der Ausbalancierung von sozialen Rechten und ökonomischen
Vereinnahmungen (heute
»welfare und workfare«
bzw. »Fördern und Fordern«) begreift, wird deutlich, wie
wichtig es ist, hinter sozialpolitischen Interventionen
stehende und entsprechend verdeckte Familien- und
Geschlechterbilder, herrschende Definitionen von Arbeit
und Beschäftigung, aber auch gesellschaftliche
Konstruktionen von Jugend und Alter aufzudecken und
kritisch zu gewichten."
(2012, S.11) |
In diesem Sinne beurteilt
Uta KLAMMER z.B. in ihrem Beitrag Rush Hour of Life - Die
Ressource Zeit im Lebensverlauf aus Gender- und
Familienperspektive die Zeitpolitik vom Standpunkt der
Doppel-Karriere-Norm (Adult-Worker-Model) aus - im Gegensatz zur
traditionellen Alleinverdiener- bzw. Zuverdienerehe. Zudem wird
der "Erwerbstätige mit potenziellen Fürsorgepflichten" zum
gesellschaftspolitischen Leitbild erhoben. Hinter dem Wandel der
Sozialpolitik verbirgt sich also auch ein Leitbildwandel. Ein
solcher Wandel kann jedoch zu neuen Ungleichheiten führen.
Sollten z.B. Hauptschulabsolventinnen Hauptschulabsolventen
meiden und sich Frauen mit Hochschulstudium ihre Partner
ebenfalls hauptsächlich unter Männern mit Hochschulstudium
suchen wie das neuere Forschungen zur Partnerwahl nahe legen,
dann würde bereits die Partnerwahl das Niveau der sozialen
Ungleichheit steigern. Die
Etablierung der Doppel-Karriere-Norm mit Hilfe der Sozialpolitik
bzw. Sozialen Arbeit würde diese Tendenzen noch verstärken,
statt wie behauptet die soziale Ungleichheit zu reduzieren (vgl.
Jan Skopek
"Partnerwahl im Internet", 2012).
Partnerwahl im Internet
"Frauen (sind)(...)bezüglich der
Bildung potenzieller Partner wählerischer (...). Damit
findet das traditionelle Muster einen stärkeren Einschlag
in der Partnerwahl der Frauen. Längsschnittliche
Untersuchungen der Erstheirat (Blossfeld und Timm, 1997,
2003) fanden eine über die Kohorten steigende Bildungshomogamie in Verbindung mit einer äußerst geringen
Quote an Abwärtsheiraten der Frauen bzw. Aufwärtsheiraten
der Männer in Deutschland."
(2012, S.217) |
Auch unter diesem
Blickwinkel der Partnerwahl müsste das Single-Dasein von
männlichen Geringverdienern verstärkt in den Blick gerückt
werden. Hinzu kommen Ungleichgewichte auf deutschen
Partnermärkten. So kommen Armando HÄRING u.a. in ihrer
Untersuchung zu individuellen Partnermärkten im
Ost-West-Vergleich zur Auffassung, dass junge ostdeutsche Männer
besonders von strukturellen Ungleichgewichten auf dem
Partnermarkt betroffen sind:
20
Jahre nach der Wende. Der Partnermarkt junger Erwachsener
in Ost- und Westdeutschland
"Die Ergebnisse haben (...) gezeigt,
dass sich das makrostrukturelle
Geschlechterungleichgewicht bei jungen, ostdeutschen
Männern in den individuellen Partnermärkten niederschlägt.
(...). Ungleichgewichte könnten hinsichtlich bestimmter
Partnerwahlmerkmale, wie zum Beispiel des Alters oder des
Bildungsabschluss eines Partners, gegebenenfalls noch
drastischer ausfallen."
(2012, S.272) |
Wenn Partnerschaften
wichtige Voraussetzungen einer Familiengründung sind, dann ist
die Vernachlässigung von Partnerlosigkeit und ihren
strukturellen Bedingungen unverständlich. Eine
Lebensverlaufsanalyse wie jene von KLAMMER, die die
Partnerschaftsdimension ignoriert und stattdessen die Familie im
luftleeren Raum behandelt, ist nicht auf der Höhe der Zeit.
Das Alter in Sozialpolitik und Sozialer Arbeit
Die Einschätzung von Iris
SCHUBERT in ihrem Beitrag Wohlbefinden im Alter - Ressourcen
zum Umgang mit Lebensveränderungen verweist auf den
beschränkten Zugang der Sozialen Arbeit im Handlungsfeld Alter:
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Rosenmayr (1978)
unterscheidet in der Lebensphase Alter drei Gruppen und
verdeutlicht damit zugleich eine Reduzierung von
Potenzialen im Alterungsprozess: während 60- bis
75-Jährige meist relativ gesund und sozial eingebunden
sind und Einschränkungen bei 75- bis 85-Jährigen zum Teil
kompensiert werden können, werden über 85-Jährige mit
ansteigendem Alter zunehmend pflegebedürftig. Aus
gegenwärtiger Sicht wirkt die Einteilung nahezu
optimistisch. Sie erfasst nicht die aktuell veränderten
Erkrankungsschwerpunkte und die beginnende
Ressourcenverknappung: Dementielle Erkrankungen nehmen
bereits in der mittleren Altersphase zu, Gesundheitskosten
werden vermehrt gekürzt und privatversorgende Bereiche,
z.B. durch eigene Kinder, werden weniger. Viele ältere
Menschen werden künftig ihre defizitären Lebensumstände
kaum noch ausgleichen können."
(2012, S.335) |
Die entscheidenden
Weichenstellungen finden hier im Bereich der staatlichen
Alterssicherung, des Gesundheits- und Pflegemarktes statt. Aus
der Sicht einer Doppel-Karriere-Norm wird dann u.a. - wie von
KLAMMER eine eigenständige Alterssicherung von Frauen gefordert
und eine "ökonomische Alphabetisierung"
, um die
Finanzkompetenz zu verbessern.
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Der Auftrag der
finanziellen Bildung und Aufklärung sollte (...) ernster
genommen werden. Politische Maßnahmen, z.B. einschlägige
Reformen im Sozialleistungsbereich, müssten besser
hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die
eigenverantwortliche Vorsorgeplanung in der Öffentlichkeit
vermittelt werden; die Schul- und Bildungspolitik müsste
junge Menschen stärker auf die Herausforderungen der
eigenverantwortlichen Lebensführung und des
»Finanzmanagements« vorbereiten; der Verbraucherschutz der
Entwicklung durch verstärkte, niedrigschwellige Angebote
im Bereich der finanziellen Lebensplanung Rechnung tragen.
Schließlich muss es auch als Verantwortung und Aufgabe der
Banken und privaten Finanzdienstleister angesehen werden,
ihre Kunden umfassend(er) und seriös(er) über die Chancen
und Risiken bestimmter Finanzentscheidungen (...) zu
informieren."
(2012, S.143) |
Die Vorstellungen sind
wenig konkret und kommen über einen appellativen Charakter nicht
hinaus. Angesichts der Tragweite der Teilprivatisierung der
Alterssicherung und des Abschieds von der
Lebensstandardsicherung im Alter, zeigt sich hier das Defizit
eines Ressourcenansatzes, der diesen Abschied unkritisch
begleitet. Angesichts der Finanzkrise und der Unsicherheiten auf
den Finanzmärkten, ist das Problem der Alterssicherung kein
reines Problem mangelnder Finanzkompetenzen, sondern eine
zentrale staatliche Regelungsaufgabe. Mit welchen unseriösen
Praktiken bei der Teilprivatisierung der Alterssicherung
vorgegangen wurde, das lässt sich anhand der Beiträge von Gerd
BOSBACH & Jens Jürgen KORFF, Daniel KREUTZ und Diana WEHLAU in
dem lesenswerten Buch
Armut im Alter nachlesen. Auch wenn
man den Maximalforderungen der Autoren zur
Lebensstandardsicherung im Alter nicht folgen mag, so sind sie
doch wichtig als Gegengewicht zur gegenwärtigen Übermacht des
Kapitals gegenüber dem Faktor Arbeit.
Die Bildungspolitik als umkämpftes Terrain
Inwiefern durch
Bildungspolitik angesichts sozialer Schließungstendenzen in der
Mittelschicht eine Reduzierung der sozialen Ungleichheit
erreicht werden kann, ist eine entscheidende Frage. Der
gescheiterte Reformversuch im Stadtstaat Hamburg zeigt die
Problematik von Veränderungen in diesem Bereich. So schreibt
Walter HANESCH:
Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
"Selbst dort, wo der
politische Wille besteht, grundlegende Reformen in Angriff
zu nehmen, ist es den vom sozialen Abstieg bedrohten
Mittelschichten bis heute immer wieder gelungen, einen
bedarfsgerechten Umbau zu blockieren und die soziale
Selektivität des Bildungssystems zu erhalten. Als Beispiel
sei auf die jüngsten Auseinandersetzungen um eine
Strukturreform des Schulsystems im Stadtstaat Hamburg
verwiesen. Hier hat ein vom Bildungsbürgertum initiiertes
und getragenes Bürgerbehren im Jahr 2010 das
Bildungsreformgesetz der damaligen schwarz-grünen
Regierung zu Fall gebracht, mit dem eine gezieltere
Förderung von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen
Schichten erreicht werden sollte (vgl. Mängel 2010). Auch
der voranschreitende Ausbau der vorschulischen Bildung
krankt bis heute daran, dass es in der Regel kaum gelingt,
Eltern und Kinder aus benachteiligten Milieus mit diesen
Förderangeboten zu erreichen."
(2012, S.153) |
Kürzlich merkte der
Soziologe Heinz BUDE in dem Artikel Das prekäre Gut der
Bildung in der Zeitschrift Merkur dazu an, dass es
die Angst um das "immaterielle Erbe der Familie" der kinderarmen
"Helikopter-Eltern" aus dem erfolgreichen
Bildungsaufsteigermilieu des "neuen psychosozialen und
symbol-analytischen Mittelstand" ist, die eine Bildungspolitik
für "bildungsferne Kinder" verhindert:
Das prekäre Gut der Bildung
"In Großstädten
wie Berlin, Hamburg, Köln oder Essen kann man eine
innerstädtische Migration von Familien mit
schulpflichtigen Kindern beobachten, die den Wohnort von
der Erreichbarkeit von Schulen abhängig machen, in denen
man unter sich ist.
Wenn nicht mehr primär nach Vermögen und Besitz, sondern
nach Bildung und Wissen ausgemacht wird, wo jemand in der
Statushierarchie steht, dann wird das Vorausschauen und
Abchecken um existentiellen Geschäft. Bildungspanik ist
darum projektive Statuspanik."
[mehr]
(in: Merkur Nr.771, August 2013, S.750) |
Aus dieser Sicht wären
Kinderlosen, die keine egoistische Bildungspolitik in Sachen
eigener Kinder betreiben müssen, die idealen Garanten einer
fortschrittlichen Bildungspolitik. Ihr Votum könnte mithelfen,
die bildungspolitischen Blockaden in dieser Republik mit
aufzulösen.
Die Pointe des Artikels
von Heinz BUDE liegt jedoch darin, dass er Bildung nur als einen
von zwei Wegen zur Bewährung in modernen Gesellschaften sieht.
Der andere sei der Markt, auf dem nicht Leistung, sondern Erfolg
zähle. Ist also
Bildung gar nicht so wichtig? Oder dient diese Erzählung nicht
eher der Entlastung gewisser Kreise?
Fazit: Das Buch bietet einen guten Einblick
in den jüngsten Wandel der Sozialpolitik und den daraus
resultierenden Herausforderungen für die Soziale Arbeit
Auf die Vorstellung der im
Buch erwähnten Methoden der Sozialen Arbeit und eine nähere
Erläuterung der unterschiedlichen Facetten des
Ressourcenbegriffs wurde hier zugunsten von Schlaglichtern ganz
im Sinne der Herausgeber, die mit den Beiträgen "Anregungen für
weitere interdisziplinäre Diskussionen und Konzeptentwicklungen"
liefern wollten, verzichtet. Das Buch Ressourcen im Sozialstaat und in der Sozialen Arbeit
ist - trotz des blinden Flecks bezüglich des Single-Daseins - allen zu empfehlen, die sich für die gegenwärtige
Transformation der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit
interessieren. Ein Ressourcenansatz, der im Interesse der realen
Freiheit den Möglichkeitsraum der Menschen erweitert, ist
durchaus wünschenswert. Es sollte aber auch klar sein, dass
Sozialpolitik und Soziale Arbeit nicht im luftleeren Raum
stattfindet, sondern Beschränkungen unterliegen, die sich aus
den jeweiligen historischen Machtverhältnissen ergeben. Das Buch könnte in
diesem Sinne auch dazu ermuntern den sozialen Konflikt nicht zu
scheuen, sondern an der zukünftigen Gestaltung der Sozialpolitik
aktiver mitzuarbeiten. Bildungs- und Gesundheitspolitik sowie eine
Politik, die Lebensverläufe in ihrer gesamten Vielfalt ernst
nimmt, sind wichtige Herausforderungen in einer Gesellschaft der
Langlebigen
.
Generation Laminat
"Weil
ich - so wenig wie ein Kind die Schutzmaßnahmen der Eltern
wahrnimmt - die Schutz- und Sicherungssysteme nicht wahrnahm,
die der Staat über mir spannte, war mir auch meine eigene
Abhängigkeit von diesen Systemen nicht bewusst. Ich hielt mich
in meinen Ansichten, Zielen und Wünschen für ein unabhängiges,
freies Individuum, das die Kraft und die Verpflichtung besaß,
sein grandioses Selbst zu verwirklichen. Ich hatte wenig Ahnung
davon, dass mir all das nur durch die Entwicklung der
Gesellschaft möglich gemacht worden war. Es war mir nicht
bewusst, dass ich »staatsbedürftig«
war. Offenbar gibt es so etwas wie eine kollektive
Vergesslichkeit der Tatsache, dass unsere Umwelt von uns selbst
gemacht wird. Wir bemerken den Wohlfahrtsstaat nur dann, wenn er
Steuern eintreibt oder Leistungen gewährt oder verweigert. Oder
als bedrohlicher Machtapparat in Erscheinung tritt.
(...).
Diese »Staatsvergessenheit« hat sich bei mir erst in dem Moment
geändert, als der langsame Rückzug des Staates mein Privatleben
unangenehm berührte, weil dieser Rückzug nämlich Lücken
hinterließ, die ich selbst schließen musste - und immer noch
muss. (...).
Erst jetzt fange ich an, mich für die wohlfahrtsstaatliche
Ordnung zu interessieren, in der ich aufgewachsen bin. Und fange
an, mir die Augen zu reiben vor Staunen. Mir ist klar geworden,
warum Pierre Bourdieu diesen Staat als »kulturelle
Errungenschaft« bezeichnet."
(Kathrin Fischer 2012, S.37f.) |
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