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Vorbemerkung
Die
Entwicklung der Lebenserwartung gilt Demografen und Ökonomen
neben der
Entwicklung der Geburten in Deutschland als das
gesellschaftliche Hauptproblem des demografischen Wandels.
Insbesondere die Rentenversicherung und die Krankenversicherung
sowie die Pflegeversicherung (Stichworte: Pflegebedarf bzw.
Pflegenotstand) erscheint in einer
Gesellschaft der Langlebigen
als bedroht. Spätestens seit Ende der 1970er Jahre wird das
Rentensystem aufgrund der steigenden Altenlast immer wieder vor
dem Kollaps gesehen. Leistungseinschnitte oder
Privatisierungen gelten Neoliberalen bzw. Nationalkonservativen
als einzige Möglichkeit, um die Sozialversicherungssysteme zu
retten. Dabei bleiben die zentralen Fragen außen vor: Was
bedeutet der Anstieg der Lebenserwartung überhaupt für unsere
Gesellschaft? Nicht demografische Aspekte, sondern
nicht-demografische Aspekte wie der medizinische und
technologische Fortschritt, die Gesundheit jüngerer und älterer
Menschen, infrastrukturelle und arbeitsmarktstrukturelle
Veränderungen sind in der hier vertretenen Sicht bedeutender.
Die Zukunft
Deutschlands könnte also ganz anders aussehen als dies die
üblichen Prognosen behaupten. Diese Bibliografie widmet sich
deshalb in erster Linie jenen Fragen, die gewöhnlich eher
vernachlässigt werden, weil sie nicht von mächtigen
Interessensgruppen vorangetrieben werden.
Kommentierte Bibliografie (Teil 6: 2017)
2017
CREUTZBURG, Dietrich (2017): Immer mehr Ruheständler arbeiten.
Die Zahl erreicht neue
Höchststände. Gearbeitet wird meist jedoch nicht aus wirtschaftlicher
Not, sondern aus einem anderen Grund,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 09.01.
Dietrich CREUTZBURG verkündet uns den Anstieg der
arbeitenden Rentner aus seiner neoliberalen Sicht. Die Rente ab 63
wird von Neoliberalen seit ihrem Beschluss mit dem Rentenpaket 2014
als Teufelszeug gegeißelt. Dumm nur, dass die Zahlen diese
Verteufelung nicht hergeben:
"Allerdings dämpft sie den
Beschäftigungsaufbau nicht mehr so stark wie zu Beginn: Mitte 2016
gab es laut Arbeitsagentur in der Altersgruppe von 60 bis 65
Jahren 1,96 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;
gegenüber dem Vorjahr ist das ein Plus von 6 Prozent."
Die Spaßarbeiter unter den
Rentnern halten sich in Grenzen, weshalb unsere Aufmerksamkeit auf
die hohen Steigerungsraten gelenkt werden:
"Neue Daten der Bundesagentur
für Arbeit zeigen, dass im vergangenen Jahr erstmals mehr als
200.000 Ruheständler einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit
nachgingen. Dies ist ein Anstieg um 52 Prozent seit dem Jahr 2011
– obwohl das Renteneintrittsalter seither um fünf Monate angehoben
wurde."
Bei Rentnern findet man kaum
Normalarbeitsverhältnisse, sondern eher Minijobs oder
Solo-Selbständigkeit. Aus neoliberaler Perspektive wird das als
Erfolg verbucht.
DESTATIS (2017): Knapp 2,9 Millionen Pflegebedürftige im Dezember
2015,
in:
Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts v. 16.01.
"Im Dezember 2015 waren in
Deutschland 2,86 Millionen Menschen pflegebedürftig im Sinne des
Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI). Wie das Statistische Bundesamt (Destatis)
weiter mitteilt, hat die Zahl der Pflegebedürftigen im Vergleich zum
Dezember 2013 um 234 000 (+ 8,9 %) zugenommen. 83 % der
Pflegebedürftigen waren 65 Jahre und älter, mehr als ein Drittel (37
%) war mindestens 85 Jahre alt. Die Mehrheit der Pflegebedürftigen war
weiblich (64 %).
Annähernd drei Viertel (73 % oder 2,08 Millionen) aller
Pflegebedürftigen wurden zu Hause versorgt. Davon wurden 1,38
Millionen Pflegebedürftige in der Regel allein durch Angehörige
gepflegt. Weitere 692 000 Pflegebedürftige lebten ebenfalls in
Privathaushalten, sie wurden jedoch zusammen mit oder vollständig
durch ambulante Pflegedienste versorgt. Gut ein Viertel (27 % oder 783
000 Pflegebedürftige) wurde in Pflegeheimen vollstationär betreut.
Im Vergleich mit Dezember 2013 ist die Zahl der in Heimen
vollstationär versorgten Pflegebedürftigen um 2,5 % (+ 19 000)
gestiegen. Bei der Pflege zu Hause ist die Zunahme mit + 11,6 % (+ 215
000 Pflegebedürftige) deutlich höher, was auch auf die Reformen der
Pflegeversicherung zurückzuführen ist", meldet das Statistische
Bundesamt, das außerdem die
Pflegestatistik 2015 veröffentlicht hat.
BUSLEI, Hermann/HAAN, Peter/KEMPTNER, Daniel Kemptner (2017): Rente
mit 67.
Beitragssatz wird stabilisiert –
egal, ob tatsächlich länger gearbeitet wird,
in:
DIW-Wochenbericht Nr.3 v. 18.01.
"Hier wird (...) auf Basis
eines Simulationsmodells für drei Beschäftigungsszenarien gezeigt,
dass die Entlastung auf der Beitragsseite auch dann weitgehend
gewährleistet ist, wenn ein beträchtlicher Teil der Beschäftigten
nicht erst mit 67 in Rente geht. Der Grund dafür sind Abschläge
auf die Rentenzahlungen bei frühzeitigem Renteneintritt. Je nach
tatsächlichem Renteneintrittsalter ergeben sich daher
substantielle Unterschiede in der durchschnittlichen Rente nach
Abschlägen. Auf individueller Ebene können die Abschläge zu einem
deutlichen Einkommensrückgang und damit zu einer signifikanten
Erhöhung des Armutsrisikos im Alter führen. Zur Sicherung der
Einkommen im Alter erscheint es geboten, die Beschäftigung bis zum
neuen Regelrenteneintrittsalter durch arbeitsrechtliche und
rentenrechtliche Regelungen zu unterstützen und auch durch
effektive Weiterbildung zu fördern. Zudem sollten Regelungen zur
Absicherung gegen Altersarmut geprüft werden, zum Beispiel eine
Ausweitung der Grundsicherung im Alter und eine gezielte Erhöhung
der Erwerbsminderungsrenten",
fasst der Beitrag das Ergebnis
zusammen. Die Erkenntnis ist keineswegs überraschend, sondern die
Rente mit 67 wurde von Anfang an von den Gegnern als reine
Rentenkürzung kritisiert.
PFEIFFER, Hermannus (2017): Versicherer rechnen
sich den Tod schön.
In den Sterbetafeln gehen die
Unternehmen von längerer Lebenserwartung aus- und lassen sich dies
bezahlen,
in:
Neues Deutschland v. 25.01.
BÄCKER,
Gerhard/JANSEN, Andreas/SCHMITZ, Jutta (2017): Rente erst ab 70?
Probleme und Perspektiven des Altersübergangs. Gutachten für den
DGB Bundesvorstand, Duisburg, 30.01.
BÄCKER/JANSEN/SCHMITZ weisen auf
die differenzielle Entwicklung der Lebenserwartung in Abhängigkeit von
der sozialen Schicht hin:
"Zunächst ist zu fragen, was die
Daten und Entwicklungstrends von Lebenserwartung und Mortalität
wirklich aussagen. Es handelt sich um Durchschnittswerte
(arithmetische Mittel), die nicht weiter differenzieren. Aus der Fülle
von internationalen und auch deutschland-spezifischen Untersuchungen
lässt sich aber immer wieder entnehmen, dass sowohl der
Gesundheitszustand als auch das Mortalitätsrisiko eng mit dem sozialen
Status der Menschen zusammenhängen. Dies gilt für die mittlere
Lebenserwartung (bei der Geburt) als auch für die fernere
Lebenserwartung (etwa ab Erreichen des 60. oder 65. Lebensjahres): Je
niedriger der Status – gemessen an Merkmalen wie Einkommen,
Qualifikation, Lebensbedingungen und Art der Berufstätigkeit – desto
größer sind die Risiken zu erkranken und auch früh zu versterben.
Gerade im fortgeschrittenen Lebensalter prägen sich diese sozialen
Ungleichheiten im besonderen Maße aus, da sich die physischen und
psychischen Belastungen – verbunden mit geringeren materiellen,
sozialen und kulturellen Ressourcen – über den Lebens- und
Erwerbsverlauf hinweg kumulieren. Die Zugewinne der ferneren
Lebenserwartung fallen deswegen in den unteren Statusgruppen deutlich
geringer aus als in den mittleren und vor allem in den höheren
Statusgruppen (vgl. Lampert u.a. 2014; Lampert u.a. 2016). So kommen
Auswertungen auf der Datenbasis des Sozio-Ökonomischen Panels, die die
relative Position der Bevölkerung im Einkommensgefüge zum Maßstab
nehmen, zu dem Ergebnis, dass die Abstände der mittleren
Lebenserwartung zwischen der obersten und untersten Einkommensposition
bei 10,8 Jahren (Männer) bzw. 8,4 Jahren (Frauen) liegen. Bei der
ferneren Lebenserwartung ab 65 betragen die Spannen 7,4 Jahre (Männer)
bzw. 6,3 Jahre (Frauen)". (2017, S.86)
Bei der Rentenversicherung wirkt
die Beitragsbemessungsgrenze zwar nivellierend, aber dennoch
verbleiben auch hier große Unterschiede:
"Auch aus den Daten der
Rentenversicherung lassen sich diese Unterschiede entnehmen. Sie
fallen – bezogen nur auf die Arbeitnehmer und begrenzt auf Einkommen
bis zur Beitragsbemessungsgrenze –etwas moderater, aber immer noch
deutlich aus. Vergleicht man die höchste und die niedrigste
Einkommensgruppe (gemessen an der Summe der persönlichen
Entgeltpunkte) zeigt sich bei der ferneren Lebenserwartung ab dem 65.
Lebensjahr eine Differenz von 3,5 Jahren (Frauen) und 5,3 Jahren
(Männer)." (2017, S.87)
Mit der Teilprivatisierung der
Alterssicherung werden jedoch die Geringverdiener den
Lebensversicherern in die Arme getrieben, die von höheren
Lebenserwartungen ausgehen, sodass es dort zu einer Umverteilung von
Arm zu Reich kommt.
BÄCKER/JANSEN/SCHMITZ gehen
außerdem auf den Zusammenhang von Morbiditätsrisiko und Erwerbsarbeit
ein.
SCHMITZ, Jutta & Lina ZINK
(2017): Abhängige Erwerbstätigkeit im Rentenalter.
Erste Erkenntnisse auf
betrieblicher Ebene,
in:
WSI-Mitteilungen, Heft 2
SCHMITZ & ZINK setzen sich kritisch mit den
Vorstellungen der Betriebe und der Politik (Stichwort: Flexi-Rente)
zur Erwerbstätigkeit von Menschen im Rentenalter auseinander. Die
Vorstellungen kollidieren nach Ansicht der Autorinnen, die sich auf
nicht-repräsentative Falluntersuchungen und explorative Interviews
berufen, mit den Wünschen der Rentner. Außerdem befürchten die
Autorinnen negative Effekte für die Lohn- und
Arbeitsmarktentwicklung:
"Die Hoffnung (...) dem
Fachkräftemangel zu begegnen, wird vor dem Hintergrund der hier
diskutierten Ergebnisse (...) unerfüllt bleiben. Dafür stimmen
weder die Bedingungen und Erwartungen, die Rentnerinnen und
Rentner an die Weiterführung ihrer Erwerbtätigkeit stellen, noch
das Arbeitsplatzangebot bzw. der Arbeitseinsatz der Betriebe.
(...).
Zu befürchten ist, dass es zu Rückwirkungen auch auf die reguläre
Beschäftigung kommen kann und wird, wenn beispielsweise immer mehr
hochqualifizierte Rentnerinnen und Rentner zu günstigen Löhnen
(einfache oder qualifizierte) Aufgaben übernehmen." (2017,
S.115f.)
Es wird zudem darauf verwiesen,
dass durch den verstärkten Einsatz älterer Arbeitnehmer notwendige
Anpassungen verzögert werden oder sogar unterbleiben.
HEIßMANN,
Nicole
(2017): Die Formel für ein langes Leben.
Titel: Die Menschen auf unseren
Fotos sind alle 50. Doch die Zeit hat in jedem Gesicht ganz eigene
Spuren hinterlassen. Die Nobelpreisträgerin Elizabeth Blackburn
erforscht, warum Menschen unterschiedlich altern. Und wie wir es
schaffen, dem Leben möglichst viele gesunden Jahre abzugewinnen,
in:
Stern Nr.10 v. 02.03.
Nicole HEIßMANN fasst die
Ergebnisse der Telomerforschung von Nobelpreisträgerin Elizabeth
BLACKBURN und der Psychologin Elissa EPEL ("Die Entschlüsselung des
Altern") zu einem Rezept des langen, gesunden Lebens zusammen, das 7
Bestandteile hat:
- gute Stressbewältigung
- Behandlung psychischer Leiden
- gesunde und ausgewogene Ernährung
- Sport
- soziale Unterstützung und Netzwerke
- täglich mindestens 7 Stunden schlafen
- weitgehende Vermeidung von Nikotin und Schadstoffen
BUCHTER, Heike (2017): Kollaps im Hinterland.
Heute geborene Amerikaner werden
voraussichtlich knapp 79 Jahre alt. Die Lebenserwartung der US-Bürger,
eine Messlatte für Fortschritt, sinkt. Warum?
in:
Die ZEIT Nr.10 v. 02.03.
HANDELSBLATT-Titelthema:
Gefährliches Spiel mit der Rente.
Mehr als 100 Milliarden Euro
kostet nach exklusiven Berechnungen die neue Rentenpolitik der
Regierung. Doch damit nicht genug: Die Wahlkämpfer versprechen
bereits weitere Wohltaten. Bezahlen müssen das Arbeitnehmer und
Unternehmen |
THELEN, Peter (2017): Die Kosten der schwarz-roten Rentenpolitik.
Wahlkampf um die Rente: Neue
Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft belegen: Schon die
Rentenpolitik in dieser Legislatur belastet künftige Generationen mit
einem dreistelligen Milliardenbetrag. Dabei hat der der
Rentenwahlkampf noch gar nicht begonnen,
in:
Handelsblatt v. 14.03.
Weil sich der SPD-Kanzlerkandidat Martin SCHULZ
bislang zur Rentenpolitik nicht konkret geäußert hat, bläst das
Handelsblatt nun Berechnungen der Arbeitgeberlobby IW Köln zu
den angeblichen Kosten des Rentenpakets 2014 zum Titelthema auf.
Basis ist das IW Policy-Paper
Kosten der schwarz-roten Rentenpolitik – eine Heuristik von
Jochen PIMPERTZ.
Bei den Kosten zur abschlagfreien
Rente ab 63 versucht THELEN die Berechnungen des IW schönzufärben:
"Die Kosten der Rente ab 63
kann das IW nicht ganz so präzise vorhersagen. (...). Dabei geht
es um die Menschen, die seit 2014 vor Erreichen der gesetzlichen
Altersgrenze ohne den eigentlich vorgeschriebenen Rentenabschlag
von 3,6 Prozent in Rente gingen. Der sprunghafte Anstieg der
Zugänge bei der Rente für besonders langjährig Versicherte spricht
(...) dafür, dass ohne die Abschlagsfreiheit die meisten nicht
vorzeitig in Rente gegangen wären.
2013, im Jahr vor dem Inkrafttreten der Reform, bezogen 16.197
Männer und Frauen erstmals eine Rente für langjährig Versicherte.
2014 waren es über 151.000 und 2015 bereits fast 275.000. Zwischen
2014 und 2017 machten laut Schätzung des IW über 925.400 von der
Möglichkeit Gebrauch, abschlagsfrei jenseits des 63. Lebensjahrs
in Frührente zu gehen. Allein die Gewährung der Abschlagsfreiheit
kostete die Beitragszahler über 2,5 Milliarden in den vier Jahren,
davon 1,2 Milliarden Euro allein im Wahljahr 2017."
Man kann diese Darstellung als
Versuch sehen, die Anzahl der Reformgewinner künstlich zu erhöhen.
Das Jahr 2013 ist kein realistischer Maßstab, weil viele natürlich
ihren Renteneintritt aufgeschoben haben, um in den Genuss besserer
Konditionen zu kommen. Die Differenz ist also verzerrt.
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung in ihrem Gesetzesentwurf für
das Jahr 2017 mit 2 Milliarden Euro Kosten rechnete, das wären also
800 Millionen Euro mehr als das
was uns THELEN nun als
sensationelles Ergebnis präsentiert.
THIELE, Lukas (2017): Wer
arm ist, stirbt früher.
Zahlen des Robert-Koch-Instituts
bestätigen Zusammenhang zwischen Geld und Gesundheit,
in:
Frankfurter Rundschau v. 16.03.
Lukas THIELEs Bericht basiert auf der
gestrigen Pressemeldung des Robert-Koch-Instituts (RKI), bei der
wiederum auf eine Studie über
Einkommen und Lebenserwartung aus dem Jahr 2012 verwiesen
wird.
"Männer und Frauen mit einem
Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze haben im Vergleich zu
den hohen Einkommensbeziehern eine um 11 bzw. 8 Jahre geringe
mittlere Lebenserwartung bei Geburt",
heißt es in der RKI-Pressemeldung,
die THIELE zitiert. In der Pressemeldung des DIW dagegen heißt es:
"Frauen aus armutsgefährdeten
Haushalten haben (...) eine um dreieinhalb Jahre geringere
Lebenserwartung als wohlhabende Frauen. Männer aus
armutsgefährdeten Haushalten und solche mit prekären Einkommen
leben durchschnittlich fünf Jahre kürzer als ihre wohlhabenden
Geschlechtsgenossen."
Hier geht es nicht um die
Lebenserwartung bei Geburt, sondern um die Lebenserwartung von
65-Jährigen. Betrachtet wurden dabei die Geburtsjahrgänge 1919 -
1944.
WSA (2017): Länger leben.
Eltern werden älter als Kinderlose,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 16.03.
Eltern werden älter als Kinderlose? So führt die
SZ ihre Leser in die Irre, denn es handelt sich um eine Studie,
die lediglich Aussagen trifft zu zwischen 1911 und 1925 in Schweden
geborene Menschen. Über das Studiendesign erfahren wird nichts, sodass
der Leser keine Möglichkeit besitzt, sich selber ein Bild zu machen.
Der SZ geht es also lediglich um das Mantra, dass Familie
besser ist als Kinderlosigkeit. Welchen Wert eine Studie hat, die
Ergebnisse aus einer Zeit präsentiert als Kinderlosigkeit wesentlich
stärker stigmatisiert war als heutzutage, wird erst gar nicht als
Problem gesehen.
WINKLER, Peter
(2017):Amerikas weisse Arbeiterklasse kollabiert.
Die Lebenserwartung der
nichtfarbigen Unterschicht in den USA sinkt unentwegt,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 29.03.
Peter WINKLER berichtet über eine Studie
Mortality and morbidity in the 21st century der Ökonomen Anne
CASE & Angus DEATON.
AMREIN, Marcel (2017): Die Männer holen auf.
Lebenserwartung für beide
Geschlechter bei über achtzig Jahren,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 03.04.
Marcel AMREIN stellt die
Veröffentlichung neuer Zahlen zur Lebenserwartung der Schweizer
einzig und allein in den Kontext der Rentenreform, um den Schweizern
vorzuhalten, dass das Renteneintrittsalter angesichts ihrer
Lebenserwartung zu niedrig ist, denn die Lebenserwartung eines
65-jährigen Mannes beträgt 18,9 Jahre, diejenige der Frauen sogar 22
Jahre.
NIEDEN, Felix zur & Alexandros ALTIS
(2017): Lebenserwartung von Beamtinnen und Beamten.
Befunde und Auswirkungen auf
künftige Versorgungsausgaben,
in:
WISTA, Heft 2 v. 13.04.
Aus der folgenden Tabelle ist die
fernere Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung im Vergleich zu den
Beamtinnen und Beamten gemäß der Sterbetafel 2010/2012 ersichtlich:
Tabelle:
Vergleich der ferneren Lebenserwartung in ausgewählten
Altersjahren für die
Gesamtbevölkerung sowie für Beamte und Beamtinnen 2010/2012 |
Vollendetes Alter in
Jahren |
Männer |
Frauen |
Gesamt-bevölkerung |
Beamte |
Differenz |
Gesamt-bevölkerung |
Beamtinnen |
Differenz |
Jahre |
25 |
53,4 |
56,4 * |
+ 3,0 |
58,3 |
60,5 * |
+ 2,2 |
60 |
21,3 |
23,7 * |
+ 2,5
** |
25,0 |
26,9 * |
+ 1,9 |
65 |
17,5 |
19,5 * |
+ 2,1
** |
20,7 |
22,4 * |
+ 1,7 |
70 |
13,9 |
15,5 |
+ 1,6 |
16,6 |
18,1 |
+ 1,5 |
80 |
7,7 |
8,4 |
+ 0,7 |
9,2 |
10,2 |
+ 1,0 |
90 |
3,7 |
3,9 |
+ 0,2 |
4,2 |
4,6 |
+ 0,4 |
100 |
1,9 |
1,9 |
± 0,0 |
2,1 |
2,1 |
± 0,0 |
|
Quelle: NIEDEN & ALTIS 2017, Heft 2, Tabelle 1, S.117
Anm.: * Schätzwerte unter Berücksichtigung von Annahmen; **
Abweichungen durch Rundungs-
differenzen |
Die Annahmen, die den
Schätzwerten unterliegen beschreiben NIEDEN & ALTIS folgendermaßen:
"Vor Alter 70 basieren die
Verläufe auf der Annahme, dass sich Sterblichkeitsunterschiede
zwischen Beamtinnen und Beamten und der Gesamtbevölkerung erst ab
Alter 26 und im Laufe des weiteren Erwerbslebens aufbauen, bevor
sie entsprechend des beobachtbaren Anpassungstrends wieder
abnehmen." (2017, S.116)
HERZINGER, Richard
(2017): Ein Biotop für den Gestus des radikalen Dagegenseins.
Die Systemopposition der Älteren
ist ein Aufstand von Verhinderern und Zerstörern des Neuen,
in:
Welt v. 15.04.
"Die Zahl der Frührentner nimmt
massiv zu. Es gibt immer mehr noch leistungsfähige und gut
ausgebildete Menschen, die viele Jahre aktiven Lebens vor sich
haben, nachdem sie aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind. Das
verändert die politische Kultur der Republik signifikant. So ist
das Phänomen »Wutbürger« nicht zuletzt ein Produkt des
anwachsenden Frührentnertums bei gleichzeitig steigender
Lebenserwartung. Im Jahr 2011 wählte bereits fast jeder zweite
Deutsche, der in Rente ging, den vorzeitigen Ruhestand. Mit der
2014 erfolgten Einführung der abschlagsfreien Frührente für
Arbeitnehmer ab 45 Berufsjahren hat diese Tendenz weiter
zugenommen. 2015 waren es schon 70 Prozent der Versicherten, die
sich vorzeitig aus dem Arbeitsleben in die Rente verabschiedeten.
Das Durchschnittsalter der Neurentner liegt nunmehr bei knapp 62
Jahren",
ärgert sich Richard HERZINGER
(Die Online-Version gibt es
hier), der das Protestpotenzial gegen den Neoliberalismus durch
Arbeitszwang für Ältere beheben möchte. Seine Zahlen hat er sich
aber offenbar selber ausgedacht, denn
der Spiegel (20.06.2017) meldete zu Entwicklung des tatsächlichen
Renteneintrittsalters in Deutschland:
"Lag das Renteneintrittsalter
im Jahr 2000 noch bei 62,3 Jahren, kletterte es bis 2014 auf 64,1
Jahre. (...). Doch 2015 ist das Eintrittsalter wieder auf 64,0
Jahre gesunken".
STEIN, Hannes (2017): Rente
mit 70 oder 80.
Leidartikel: Karl Marx hat einfach
zu kurz gedacht: Der Kapitalismus schafft vor unseren Augen das
Proletariat ab. Arbeit wird sich bald grundlegend verändern. Wir
sollten uns mehr Gedanken über die Konsequenzen machen,
in:
Welt v. 02.05.
Das Versprechen grundlegender
Änderungen der Arbeitswelt gehört zum Kapitalismus wie das Amen zur
Kirche.
"Natürlich ist der Trend zur
Automatisierung schon älter, er begann eigentlich nach dem Zweiten
Weltkrieg. Aber jetzt hat das Tempo sich verschärft",
will uns Hannes STEIN weismachen.
Auf welcher Parallelwelt lebt STEIN eigentlich. War die
Dampfmaschine etwa keine Automatisierung? Und war der
Manchester-Kapitalismus keine Epoche verschärften Tempos? Und der
Fordismus? War der nicht auch viel früher?
Oh Gott! Es wird noch schlimmer.
STEIN hat den Spaßarbeiter erfunden! Glaubt er zumindest:
"Selbstverständlich war
vollkommen richtig, dass Leute, die Knochenarbeit verrichten, sich
mit 65 davon ausruhen können. Aber von dieser Plage wird so wenig
übrig bleiben wie von der Arbeit des Bauern (...) Arbeit wird
künftig etwas sein, was Menschen als Partner von Maschinen
verrichten; und sie wird Spaß machen. Warum sollten Leute mit 65
damit aufhören!"
Das Paradies auf Erden haben uns
schon viele versprochen. Die kurze Ära des Spaßarbeiters wurde in
Deutschland erstmals kurz vor dem Zusammenbruch der New Economy
ausgerufen. Dann feierte die digitale Bohéme den Freelancer als
neuen Spaßarbeiter. Davon hört man auch nichts mehr, stattdessen
wird nur noch vom Prekariat gesprochen. Wir wollen von Spaßarbeitern
lieber nichts mehr lesen!
FRITZEN, Florentine (2017):
Die fitten Alten.
Auch wenn die Rente nicht für
Wasserskier reicht: Engagierte, zufriedene Senioren passen zum
Zeitgeist. Aber nicht jeder kann, nicht jeder will,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 07.05.
Florentine FRITZEN beschreibt den Wandel des
Altenbildes, der mit einem Paradigmenwechsel in der Altenpolitik
einhergeht:
vom Defizit- zum Kompetenzmodell. Die Alten sollen als neue
Ressource vereinnahmt werden. Dafür steht die Ressourcenausstattung
der oberen Mittelschicht Modell: einkommensstark, gesund und
engagiert. Der Rest der Gesellschaft ist aufgrund seiner
Ressourcenausstattung dagegen auf eine ganz andere Politik
angewiesen. Aber die (noch) Volksparteien von CDU/CSU und SPD (Grüne
und FDP sowieso) ist ganz auf diese "neue Mitte" ausgerichtet. Die
Realität der jetzigen Rentner sieht jedoch ganz anders aus und nicht
nur für die so genannten "Hochbetagten" (85-Jahre und älter) wie
FRITZEN meint. Bekanntlich erreichen die heutigen 65-Jährigen Männer
nur sehr selten das Hochbetagten-Alter. Die 65-jährigen Männer
erreichen nach der aktuellen Sterbetafel eine durchschnittliche
Lebenserwartung von 82,71 Jahren. Die Frauen werden etwas mehr als 2
Jahre älter.
THISSEN, Stefan (2017): Forscher: Keine Renten-Automatik.
Rente: IAQ-Studie warnt vor
Koppelung der Altersgrenze an die allgemeine Lebenserwartung,
in:
ihre-vorsorge.de
v. 17.05.
Stefan THISSEN berichtet über das
IAQ-Gutachten
Rente erst ab 70?
THELEN, Peter & Frank
SPECHT (2017): Der große Ausverkauf.
Deutlich mehr als eine halbe
Million Arbeitnehmer haben seit 2014 die abschlagsfreie Rente ab 63
genutzt. Die meisten waren Fachkräfte. Während Arbeitsministerin
Nahles den Mangel an qualifizierten Arbeitern beklagt, verschärft
sie ihn mit ihrer Rentenpolitik,
in:
Handelsblatt v. 17.05.
Das HandeIsblatt bringt
eines der Lieblingsthemen Neoliberaler - den angeblichen
Fachkräftemangel - gegen die Rentenpolitik in Stellung. Hassobjekt
ist die Rente ab 63:
"In der Antwort auf eine
Anfrage der Grünen, die dem Handelsblatt vorliegt, teilte das
Bundesarbeitsministerium mit, dass 2014 binnen eines halben Jahres
136.000 Personen die neue Rentenart in Anspruch genommen haben.
2015 waren es sogar 274.000 Frauen und Männer.
Die Daten für das vergangene Jahr liegen noch nicht vor. Der Trend
dürfte sich aber fortgesetzt haben, wie die Zahl von gut 241.000
Neuanträgen für 2016 zeigt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass
seit der Reform deutlich mehr als eine halbe Million Arbeitnehmer
vorzeitig in Rente gegangen sind",
spekulieren THELEN & SPECHT. Man
kann das auch anders sehen, denn die Frage, warum Fachkräfte mit 63
in Rente gehen, wird ausgeblendet. Offenbar sind die
Arbeitsbedingungen so miserabel, dass Fachkräfte sich lieber in die
Rente verabschieden. Sie möchten sich nicht länger als notwendig
ausbeuten lassen. Statt also die Arbeitsbedingungen attraktiver zu
machen, jammern Neoliberale lediglich darüber, dass die Ausbeutung
durch die Rente ab 63 nicht mehr so einfach ist. Während die
Mainstreammedien den Spaßarbeiter zum angeblichen Leitbild erhoben
haben, sieht die Wirklichkeit ganz anders aus.
THELEN & SPECHT präsentieren
Studien von IAB und IW, die das Problem Fachkräftemangel belegen
sollen. Die Kritik des BDA am Arbeitslosengeld Q zeigt jedoch, dass
die Wirtschaft kein Interesse an Weiterbildung hat, sondern
lediglich eine Missbrauchsdebatte führen will. Ausbeutung wie sie
die Flexi-Rente durch die Teilrente ermöglicht ist den Arbeitgebern
alle mal lieber.
BECKER, Kim Björn (2017): Wer früher stirbt.
Beim Ärztetag in Freiburg
beklagen die Mediziner eine "Gerechtigkeitslücke" in Deutschland,
die Gesundheit von Armen und Reichen unterscheide sich dramatisch.
Aber die Ärzte sehen nicht nur viele Patienten unfair behandelt -
sondern auch sich selbst,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
24.05.
ZSCHÄPITZ, Holger (2017): 400 Billionen: Es droht die Renten-Krise.
WEF prophezeit riesige globale
Pensionslücke,
in:
Welt v. 27.05.
Die Finanzdienstleister vermarkten bereits
Rentenlücken für die Generation der Hundertjährigen. Will man also
den Ungeborenen, Säuglingen und Kleinkindern die Altersvorsorge
schmackhaft machen?
LANGENBERG, Britta (2017): Endspurt.
Mit Anfang 50, auf der
Zielgeraden des Arbeitslebens, taucht für viele plötzlich eine Frage
auf: Was tun, wenn für einen angenehmen Ruhestand noch 1.000 Euro
Rente im Monat fehlen? Eine Anleitung,
in: Capital,
Juni
SÜTTERLIN, Sabine
(2017): Hohes Alter, aber nicht für alle. Wie sich die soziale
Spaltung auf die Lebenserwartung auswirkt, Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung v. 12.06.
Die neoliberale Sicht auf die
Erhöhung der Lebenserwartung ist durch eine negative Grundhaltung
gegen das Alter und eine Verklärung der jüngeren Lebensalter
geprägt. Bei Sabine SÜTTERLIN heißt es dazu:
"Die Alterung stellt
Gesellschaft und Politik vor große Herausforderungen. So
steht dem wachsenden Anteil Älterer und Hochaltriger ein
schwindender Anteil von Personen im erwerbsfähigen Alter
gegenüber. Bleiben die Ruhestandsgrenzen auf dem bisherigen
Niveau, kann unter anderem die Alterssicherung in Schieflage
geraten – gerade wenn sie wie in Deutschland auf einem
Umlagesystem beruht. Eine alternde Gesellschaft verliert
womöglich auch an Innovationskraft. Die Wirtschaftsleistung
kann sich abschwächen. Und die Konsummuster verändern sich:
Zwar steigt die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen
und -produkten, aber alte Menschen essen tendenziell
weniger, kaufen sich seltener neue Kleidung oder
elektronische Geräte als jüngere."
(2017, S.16)
Statt empirischer Forschung zum
tatsächlichen demografischen Wandel und seinen Auswirkungen werden
uns die immer gleichen Ressentiments, die auf Spekulationen beruhen,
präsentiert. Der Indikator der durchschnittlichen Lebenserwartung
verschleiert die soziale Ungleichheit einer Gesellschaft. Die
neoliberale Sicht, die in den Nuller Jahren durch
Horrorszenarien zu Gesundheit und Pflegebedürftigkeit im Alter
geprägt war, hat sich inzwischen aufgrund der Debatte um Altersarmut
und zunehmende soziale Ungleichheit gewandelt, aber nichts an der
negativen Grundhaltung geändert. SÜTTERLIN stellt uns das zeitgemäße
neoliberale Horrorszenario folgendermaßen vor:
"Nach der Expansions-
oder Medikalisierungsthese (...) beschert der Anstieg der
Lebenserwartung den Menschen im höheren Alter auch mehr
Krankheitsjahre, da sie inzwischen nicht nur Infektionen,
sondern auch chronische Leiden dank immer besserer Therapien
häufiger und länger überleben. Angesichts der
fortschreitenden Alterung der Bevölkerung dürfte die Zahl
der chronisch Kranken und Multimorbiden insgesamt zunehmen.
Damit würden auch die Behandlungsausgaben steigen. (...).
Einiges deutet darauf hin, dass die Kompressionsthese im
Wesentlichen auf Bevölkerungsgruppen zutrifft, die besser
verdienen, gut ausgebildet sind – und tendenziell mit einem
längeren Leben rechnen können als jene mit geringem
Einkommen und Bildung. Die Expansionsthese scheint sich
hingegen eher für letztere zu bestätigen. Auf den Punkt
gebracht heißt das: Sozial Schwache sterben nicht nur
früher, sie sind auch noch länger krank als Angehörige der
oberen Schichten."
(2017, S.17f.)
Während in den Nuller Jahren noch
überwiegend von einer endlos steigenden durchschnittlichen
Lebenserwartung in der Zukunft ausgegangen wurde, verschafft sich
mittlerweile auch eine alternative Sicht mehr Gehör, nämlich dass es
in Zukunft sogar zu einem Rückgang der durchschnittlichen
Lebenserwartung kommen könnte, die mit einer Polarisierung bei der
Lebenserwartung einhergeht:
"Kann die
durchschnittliche Lebenserwartung zu den heutigen
Rekordwerten vorstoßen oder sogar darüber hinaus? Ohne in
Pessimismus zu verfallen: Einiges spricht dagegen, dass sie
überhaupt immer weiter steigt. An erster Stelle sind das die
in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen großen
Unterschiede (...). Ungünstige wirtschaftliche
Rahmenbedingungen, die wachsende Ungleichverteilung von
Einkommen und Vermögen in vielen Ländern dürfte diesen
Effekt weiter verschärfen."
(2017, S.33)
Dieses Szenario wird von
SÜTTERLIN jedoch im Grunde nicht ernst genommen, sondern es wird
weiterhin von einer steigenden durchschnittlichen Lebenserwartung
ausgegangen. Ziel der Neoliberalen ist die Abschaffung des
traditionellen Ruhestands:
"Wo »70 das neue 60«
ist, wird die hergebrachte Altersgrenze 65 obsolet. Umdenken
ist also nötig. Dabei könnte ein Gedankenspiel helfen, das
Wissenschaftler berechnet haben: Unter der Annahme, dass die
Lebenserwartung weiter wächst und als
Maßstab für Alter anstelle der festen Größe 65 die jeweils
durchschnittlich verbleibenden 15 Lebensjahre gelten
würden, verschöbe sich die Phase des Alters stetig nach
oben. Die Alterung der Gesellschaft würde langsamer
ausfallen. Die herkömmliche Dreiteilung des Lebens in
Ausbildung-Arbeitsphase-Ruhestand lässt sich nicht
aufrechterhalten. Erstens erfordern die Umbrüche in der
Arbeitswelt lebenslanges Lernen, zweitens macht es der
Mangel an Nachwuchs nötig, dass Ältere länger im
Arbeitsleben bleiben als bisher, und drittens lassen sich
die Renten langfristig nur mit höheren Ruhestandsgrenzen
finanzieren. Die Menschen werden künftig länger arbeiten,
aber die Arbeit stufenweise ausklingen lassen. Und die
Politik muss planen, um die Gesundheits- und Sozialsysteme
zukunftsfest zu machen, den wachsenden Bevölkerungsanteil
älterer Menschen unterstützen und die Renten sichern zu
können." (2017, S.37)
Bei zunehmenden
Polarisierungstendenzen bedeutet eine Anpassung des
Renteneintrittsalters an die durchschnittliche Lebenserwartung eine
Umverteilung von Unten nach oben, wenn an den anderen Mechanismen
nichts geändert wird. Diese Debatte dürfte in Zukunft die
politischen Kämpfe um das Rentensystem mitbestimmen.
DESTATIS (2017): Altersdurchschnitt der Bevölkerung sank 2015 auf 44
Jahre und 3 Monate,
in:
Pressemitteilung des
Statistischen Bundesamts v. 13.06.
HENNING, Ulrike (2017): Wer früher stirbt, war
länger arm.
Soziale Spaltung verhindert eine
steigende Lebenserwartung für alle,
in:
Neues Deutschland v.
13.06.
Ulrike HENNING berichtet über die
Broschüre
Hohes Alter, aber nicht für alle.
DESTATIS (2017): Neugeborene haben hohe Chancen älter als 90 Jahre
zu werden,
in:
Pressemitteilung des
Statistischen Bundesamts v. 23.06.
"Setzt sich der Trend zu einem
immer längeren Leben fort, dann könnten 2017 geborene Jungen
durchschnittlich bis zu 90 Jahre, Mädchen bis zu 93 Jahre alt
werden. Grundlage dieses Ergebnisses ist die höhere Variante der neu
vorgelegten Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes (Destatis)
für Kohortensterbetafeln der Geburtsjahrgänge von 1871 bis 2017.
Nach der niedrigeren Variante würde die durchschnittliche
Lebenserwartung für heute geborene Jungen 84 Jahre und für Mädchen
88 Jahre erreichen. Vor 100 Jahren geborene Jungen und Mädchen
hatten im Durchschnitt lediglich eine Lebenserwartung von 55
beziehungsweise 62 Jahren.
Die Ergebnisse der
Kohortensterbetafeln verdeutlichen die gestiegenen Chancen, ein
hohes Alter zu erreichen. Nur etwa 54 % der Männer und 65 % der
Frauen, die 1917 geboren wurden, sind mindestens 65 Jahre alt
geworden. Von den 2017 Geborenen könnten dagegen bis zu 95 % der
Jungen und 97 % der Mädchen dieses Alter erreichen. Das Alter von 90
Jahren würden dann immer noch rund 62 % der Männer und 73 % der
Frauen erleben. Eine Chance 100 Jahre alt zu werden, hätten bis zu
16 % der 2017 geborenen Jungen und bis zu 22 % der heute geborenen
Mädchen. Voraussetzung ist, dass der Trend zu einem immer längeren
Leben anhält. Dieser ist eng mit weiteren Fortschritten in der
Medizin, mit gesünderen Lebensstilen und einem steigenden Wohlstand
der Bevölkerung verknüpft. Ereignisse mit negativen Auswirkungen auf
die Lebenserwartung wie Kriege, Umwelt- oder Wirtschaftskatastrophen
müssten ausbleiben", meldet das Statistische Bundesamt.
DPA
(2017): Die Deutschen werden jünger.
Neuer Forschungsansatz: Bis 2043
werden wir älter, dann kehrt sich der Trend um,
in:
Frankfurter Rundschau v.
27.06.
Die Schlagzeile ist doppelt
irreführend: Weder sinkt das Durchschnittsalter, noch handelt es
sich um einen neuen Forschungsansatz, sondern die Berücksichtigung
der steigenden Lebenserwartung bei der Bewertung der Alterung wird
in Deutschland bereits seit ca. 10 Jahren popularisiert.
Der in der Meldung
zitierte Warren SANDERSON hat die Methode zusammen mit Sergej
SCHERBOV in Deutschland popularisiert.
Immer wenn das Statistische
Bundesamt wie vor kurzem ihre
Sterbetafeln aktualisiert, kommen auch alternative Deutungen in
Umlauf, zumal die neoliberale Debatte um die Erhöhung des
Renteneintrittsalter geradezu nach positiven Meldungen im Sinne von
SANDERSON & SCHERBOV schreit. Statt wie üblich 65-Jährige (oder
neuerdings auch 67-Jährige) als alt zu definieren, wird die
Lebenserwartung als Referenzwert zur Ermittlung der Altersgrenze ("prospective
median age") verwendet:
"diejenigen (...), die in ihrem
Land noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von 15 Jahren
oder weniger haben"
werden von SANDERSON als alt
definiert. Bei steigender Lebenserwartung erhöht sich also auch das
Alter, ab dem die Menschen als alt definiert werden.
"Ihren Berechnungen zufolge
erreicht das »prospective median age« für Deutschland im Jahr 2043
seinen Höhepunkt bei 46,5 Jahren und sinkt dann wieder - bis zum
Jahr 2098 auf 40,1 Jahre."
Andreas MERGENTHALER (BIB) wird
dagegen dahingehend zitiert, dass es nach der
13. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes 4
mögliche Entwicklungsszenarien bei der Lebenserwartung gibt, sodass
bei der traditionellen Altersdefinition das Maximum zwischen 2047
und 2055 liegt, wobei unklar ist, ob hier mit 65- oder 67-Jährigen
gerechnet wurde.
Die Meldung bezieht sich auf den
Aufsatz
Probabilistic population aging von SCHERBOV/SANDERSON/GERLAND
im Fachmagazin Plos One vom 21.06.17. Die Autoren verwenden
für ihre Berechnungen nicht die von MERGENTHALER zitierte
Bevölkerungsvorausberechnung, sondern die Daten der
United Nations. World Population Prospects: The 2015 Revision.
Inzwischen gibt es bereits eine 2017 Revision.
DÖRHOFER, Pamela (2017): "Ältere Menschen sind so fit wie noch nie".
Alternsforscher Hans-Werner Wahl
über die Chancen des Lebens jenseits der 65, falsche Klischees, die
Notwendigkeit des Umdenkens und die allerletzten Jahre vor dem Tod,
in:
Frankfurter Rundschau v.
30.06.
Die Psychologische
Alternsforschung als Teil der allgemeinen Psychologie, so wie sie
sich heutzutage darstellt, ist ungeeignet, um die Polarisierungen im
Alter darzustellen. Dazu muss man sich bis zur letzten Frage
durchlesen, wenn Hans-Werner WAHL auf das Defizit seiner
Forschungsrichtung eingeht:
"Auf die große Heterogenität
des Älterwerdens wäre noch einmal ein neuer Scheinwerfer zu
richten. Viele Daten zeigen in der Tag, dass ältere Menschen so
unterschiedlich sind wie keine andere Altersgruppe."
Im Grunde ist die psychologische
Alternsforschung eine Psychologie der oberen Mittelschicht, deren
Lebensverhältnisse zur Richtschnur der Altersbilder gemacht werden
soll. Normalos können diesen hohen Anforderungen - allein schon
aufgrund mangelnder Ressourcen - nicht genügen, sodass sie durch das
Raster dieser Forschungen fallen.
MÜLLER-LISSNER,
Adelheid (2017): Von der Besonderheit zum Boom.
100 plus: Die Chancen auf ein
langes Leben,
in:
Neues Deutschland v.
30.06.
Auch bei Adelheid MÜLLER-LISSNER
spielen Normalos keine Rolle, sondern es geht um die
Lebensverhältnisse von Hundertjährigen oder gar Super-Hundertjährige
("Super-Centenarians"), d.h. 110-Jährige und Ältere. Diese
rekrutieren sich in erster Linie aus der oberen Mittelschicht und
der Oberschicht.
"16.860 über Hundertjährige
lebten 2014 in Deutschland.
»Doch es wird damit gerechnet, dass es in 40 Jahren schon 60.000
sind, in 70 Jahren rund 120.000«",
zitiert MÜLLER-LISSNER eine
Forscherin. Der elitäre Club der Hundertjährigen wird dann in
Verbindung gebracht mit den so genannten Babyboomern, die als die
"geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1965" definiert werden und 13
Millionen Menschen umfassen sollen. Abgesehen davon, dass diese
Definition die geburtenstarken Jahrgänge der 1966 bist 1969
Geborenen außer acht lässt, wird suggeriert, dass diese zu den
Glückskindern der Langlebigen gehören, die vorher beschrieben
wurden. Das aber ist nicht der Fall.
Am Schluss wird MÜLLER-LISSNER
ganz optimistisch, wenn sie behauptet, dass die
"Hälfte der Mädchen, die heute
geboren werden - und eine beträchtliche Anzahl ihrer männlichen
Altersgenossen (...) damit rechnen (kann), einst dreistellige
Geburtstage zu feiern."
Das aber stimmt mit den
vorangegangenen Schätzungen der Forscher nicht im mindesten überein.
Bei rund 700.000 Geburten im Jahr wären das allein 350.000
Hundertjährige in einem einzigen Geburtsjahrgang, also gut das
3-fache dessen was in 70 Jahren der Standard sein soll. Für eine
Wissenschaftsjournalistin ist das eine ziemlich fatale
Fehlleistung!
BÄCKER, Gerhard (2017): Auswirkungen eines noch höheren
Regelrentenalters.
Rente erst mit 70?: Können höhere
Altersgrenzen die Folgen des sinkenden Rentenniveaus kompensieren?
in:
Soziale Sicherheit Heft 6, S.221-229
PAULITSCH, Lina
(2017): "Unbeliebte sterben früher".
Der amerikanische Psychologe Mitch
Prinstein darüber, wie sich Beliebtheit in der Jugend auf das spätere
Leben auswirken kann,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 03.07.
Der Psychologe Mitch PRINSTEIN
behauptet, dass es zweierlei Arten von Beliebtheit gibt: persönliche
und öffentliche Beliebtheit, die dann in einen simplen Gegensatz
gebracht werden: Wer öffentlich beliebt ist, der rangiert auf der
persönlichen Beliebtheitsskala unten, was die Schlagzeile als
"unbeliebt" tituliert. Wechselwirklungen oder Ambivalenzen werden bei
dieser Darstellung ausgeblendet. Im Wesentlichen geht es um die
übliche Kritik an sozialen Netzwerken, die einen "außengeleiteten
Charakter" (RIESMAN) bzw. narzisstischen Typus fördern, statt
Beziehungsfähigkeit (andere sagen auch Sozialkapital).
CREUTZBURG, Dietrich
(2017): Immer mehr Ältere arbeiten.
Zwei Millionen Beschäftigte
zwischen 60 und 65 Jahren,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 04.07.
Seit 2014 heulen uns Neoliberale
die Ohren voll, dass die Rente ab 63 der Untergang Deutschlands sei.
Dadurch werde die positive Entwicklung der Beschäftigung Älterer
konterkariert. Nun zeigen dagegen neue Zahlen des
Bundesarbeitsministeriums, dass die Rente ab 63 den Trend zu immer
mehr Beschäftigte im Rentenalter nur kurzfristig dämpfen, aber nicht
stoppen konnte. Dies liegt auch daran, dass den Renteneintrittsalter
auch bei der Rente ab 63 Jahr für Jahr in Richtung
Renteneintrittsalter 65 steigt. Zudem kommen nur wenige in den
Genuss einer solchen abschlagsfreien Rente.
BRUCKNER, Pascal (2017): Der Tod des Todes ist der Tod des Lebens.
Die Lebenserwartung des Menschen
steigt. Werden wir den Tod überwinden? Und wäre das wirklich
wünschbar?
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 10.07.
"Ein Mensch, dem man
mikroelektronische Prothesen ins Hirn eingepflanzt hätte,
Nanokapseln zur Blutreinigung, dessen Gewebe durch Stammzellen
erneuert würde und der über Nachtsicht verfügte, könnte, heisst
es, bis zu 150 Jahre alt werden. Demnach gälte es, die Jugend bis
zur Schwelle des Todes zu verlängern, nicht das Alter.
Stattdessen gleichen unsere entwickelten Gesellschaften Asylen, wo
alle Krankheiten des Uralters – Krebs, Parkinson, Alzheimer –
unsere Senioren plagen, wo diese gewaschen und gewickelt werden
wie runzlige, redselige Säuglinge. Die Fortschritte der Medizin
zeitigen Albträume wie Abhängigkeit, Gebrechlichkeit, Umnachtung.
Die neue Langlebigkeit ist auch ein Fluch. Man altert im gleichen
Zug wie die eigenen Eltern und manchmal schneller als diese.
Zähneknirschend und weisshaarig sind sie immer noch da, wo man
selbst schon Grossvater ist.
Der Fortschritt schafft Dynastien von Hinfälligen in mehr oder
weniger fortgeschrittenen Stadien des Verfalls, Familien von
Bettlägerigen, die durch selbst schon greise Kinder versorgt
werden",
raunt es kulturpessimistisch -
angesichts elitärer Unsterblichkeitsphantasien - bei dem alternden,
einst neuen Philosophen, Pascal BRUCKNER.
ASTHEIMER,
Sven (2017): Lieber Arbeit statt Rente.
Jeder fünfte Befragte lässt
sich freiwillig weiterbeschäftigen,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 11.07.
80
Prozent der Beschäftigten im Rentenalter gingen 2015 lieber in
Rente statt weiterzuarbeiten, hätte die Schlagzeile zum
IAB-Kurzbericht
Vor allem kürzere und flexiblere Arbeitszeiten kommen zum
Einsatz
ebenfalls lauten können, aber das wäre dann nicht neoliberal
korrekt gewesen!
Nur in jenen wenigen
Branchen, in denen Fachkräfte dringend gesucht werden, werden
die Bedürfnisse der Arbeitnehmer angemessen berücksichtigt.
DESTATIS (2017): 11 % der 65- bis 74-Jährigen sind erwerbstätig,
in:
Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts v. 12.07.
"Für rund 37 % der
Erwerbstätigen zwischen 65 und 74 Jahren war die ausgeübte
Tätigkeit die vorwiegende Quelle des Lebensunterhalts. Damit gab
es 2016 in Deutschland 346.000 Personen, die im Rentenalter
überwiegend vom eigenen Arbeitseinkommen lebten. Für die Mehrheit
der Erwerbstätigen zwischen 65 und 74 Jahren war dieses Einkommen
aber ein Zuverdienst, sie lebten in erster Linie von ihrer Rente
(58 %). Jeweils 3 % lebten überwiegend entweder von Einkünften
ihrer Angehörigen oder von sonstigen Einkünften wie etwa Einkommen
aus Vermietung oder Verpachtung",
meldet das Statistische Bundesamt
zur Erwerbstätigkeit im Rentenalter, wobei bereits eine
Erwerbsarbeitszeit von nur einer Stunde pro Woche in diese Statistik
einfließt.
KAISER, Tobias (2017): Deutsche Rentner wollen
nicht nur auf dem Sofa sitzen.
Anteil der arbeitenden Senioren ist
stark gestiegen. Die Firmen tun viel, um erfahrende Mitarbeiter zu
halten,
in:
Welt v. 13.07.
ASTHEIMER, Sven
(2017): Jeder neunte Rentner geht weiter arbeiten.
Immer mehr Ältere entscheiden sich
ohne materiellen Zwang für eine längere Erwerbstätigkeit,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.07.
HAENES,
Florian
(2017): Fast eine Million Rentner in Arbeit.
Erwerbstätigkeit oft
Haupteinnahmequelle,
in:
Neues Deutschland v. 13.07.
Während die Neoliberalen von
Welt und FAZ die freiwillige Weiterarbeit im Rentenalter
hervorheben, zitiert Florian HAENES VdK-Präsidentin Ulrike MASCHER und
den rentenpolitischen Sprecher der Linkspartei Matthias BIRKWALD, die
den Zwang zum Weiterarbeiten betonen.
ÖCHSNER, Thomas (2017): Rentner sucht Job.
In Deutschland arbeiten doppelt so
viele Ältere wie noch vor zehn Jahren. Viele brauchen zusätzliche
Einkünfte, andere wollen Sinnvolles tun. Aber die Zahlen zeigen noch
mehr,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 13.07.
Thomas ÖCHSNER beruft sich auf
Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ("Vor
allem kürzere und flexiblere Arbeitszeiten kommen zum Einsatz"),
die mehr arbeitende Rentner ausweist als das
Statistische
Bundesamt:
"In Wirklichkeit dürfte für
deutlich mehr Menschen im Alter von 65 Jahren noch nicht Schluss
sein. Die Zahlen der Behörde, die auf der größten deutschen
Haushaltsstichprobe (Mikrozensus) beruhen, sind vermutlich
untertrieben. Darauf deuten die Statistiken der Bundesagentur
für Arbeit (BA) und des europäischen Statistikamtes Eurostat
hin.
Nach Angaben der Arbeitsagentur hatten Ende 2016 allein etwa
800.000 zwischen 65 und 74 Jahren einen Minijob. Hinzu kommen
etwa 240.000 mit einer normalen sozialabgabenpflichtigen Arbeit
und sowie 350.000 Selbständige, jeweils in dieser Altersklasse.
Das wären dann schon knapp 1,4 Millionen Arbeitende zwischen 65
und 74 Jahren, und bei allen drei Gruppen wurden es in den
vergangenen fünf Jahren deutlich mehr."
Da stellt sich jedoch die
Frage, ob die jeweiligen Erfassungskonzepte jeweils auch nur die
Erwerbsarbeit im Rentenalter erfassen. Die journalistischen
Vorführungen stehen offenbar unter dem Motto, wer die meisten
arbeitenden Rentner aufbieten kann, um die neoliberale Ideologie
zu untermauern. Zur Sozialstruktur der Rentnerarbeit bietet
ÖCHSNER eine DZA-Studie und die Position des VdK auf:
"Einerseits zeigt eine von
der Bundesregierung vorgelegte Studie des Deutschen Zentrums für
Altersfragen, dass vor allem höher gebildete, männliche und
westdeutsche Senioren arbeiten - eine Gruppe, bei der
Altersarmut eher weniger verbreitet ist. Andererseits steigt die
Zahl der Alten, deren Rente nicht reicht. Immer mehr sind
deshalb auf Hilfe vom Sozialamt angewiesen.
Auch ist die Zahl derjenigen stark gewachsen, die mit mindestens
70 Jahren noch verschuldet sind. Darauf weist Ulrike Mascher,
Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, hin."
OBERHUBER,
Nadine
(2017): Kinder, geht's uns gut!
Deutschlands Rentner leben lange,
haben viel Freizeit und jede Menge Geld. Es geht ihnen besser als
allen Generationen vor ihnen,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 16.07.
Wie Altersarmut wegdefiniert
wird, das zeigt Nadine OBERHUBER in der Zeitung für die obere
Mittelschicht:
"Die Rentner von heute haben
ein langes Leben, viel zu tun und jede Menge Geld. Ruhestand
rockt. (...).
Hierzulande sind inzwischen 17 Millionen Köpfe grau und weiß,
das ist jeder fünfte Deutsche und fünf Millionen Bundesbürger
mehr als noch 1990. Im Jahr 2030 wird mehr als jeder Vierte
älter als 65 sein, also 22 Millionen."
Gemäß
Rentenversicherungsbericht 2016 gab es am 1. Juli 2015 ca. 20,8
Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutschland. Das sind rund
3,8 Millionen mehr als OBERHUBER auflistet. Die Differenz erklärt
sich dadurch, dass nicht jeder bis zum 65. Lebensjahr arbeiten
kann oder will. Gerade jene, die vor dem 65. Lebensjahr eine
Erwerbsminderungsrente beziehen müssen oder als Hartz-IV-Empfänger
zwangsweise früher verrentet werden, sind jedoch häufig von
Altersarmut betroffen. Die geschickte Wegdefinition dieser
altersarmen Rentner durch die Fokussierung der Betrachtung auf die
65-Jährigen und Älteren hat in den Mainstreammedien Methode.
Die Vermögensauflistung hat
eine gravierende Lücke, denn die Pflegekosten werden nicht
berücksichtigt, sodass das Nettovermögen schöngefärbt ist. Bei den
Alterseinkommen greift OBERHUBER auf den Aufsatz
Entwicklung der Lebensverhältnisse im Alter von Susanna
KOCHSKÄMPER & Judith NIEHUES zurück.
Das hohe Altersarmutsrisiko der
Frauen wird geleugnet, indem unterstellt wird, dass sie alle einen
Ehemann hätten:
"Sie leben (...) mehrheitlich
in Haushalten, in denen bereits der Hauptverdiener auf eine
anständige Rente von mehr als 1500 Euro kommt. Sie bessern also
selbst mit ihren Minirenten erheblich das Gesamteinkommen von
Doppelrentnerpaaren auf. Zumal die Älteren ja auch noch
mehrheitlich verheiratet sind und bis ins hohe Alter
zusammenleben - mehr als in deren Elterngeneration jedenfalls,
in der es viele alleinlebende Kriegerwitwen gab."
Das aber ist sehr absonderlich,
denn gemäß KOCHSKÄMPER & NIEHUES gehören die 65- bis 74-Jährigen,
die als besonders vermögend hervorgehoben werden zu den
Geburtsjahrgängen 1920 bis 1930. Diese Jahrgänge gehören jedoch zu
jenen Geburtsjahrgängen mit einem Frauenüberschuss, darunter auch
Kriegerwitwen wie man in einer der wenigen wissenschaftlichen
Studie Das Geschick der zwei Millionen von Regina BOHNE
über die alleinlebende Frau nachlesen kann.
Diese Verwirrung mag daran
liegen, dass OBERHUBER nur jene Passagen aus der Untersuchung
herauspickt, die ihr genehm sind und damit verschwiegen wird, dass
nicht immer die heutigen Rentner gemeint sind, wie das OBERHUBER
in ihrem Artikel suggeriert:
"Denn in einer Hinsicht hat
die Generation 65 plus über die Jahre die Jüngeren sogar
abgehängt: Ihr Haushalts-Gesamteinkommen ist seit 1991 real um
52 Prozent gestiegen, schlüsselt das IW auf, während die
Realeinkommen der unter 45-Jährigen nur um 20 bis 31 Prozent
zugelegt hat."
In Wirklichkeit heißt es bei
KOCHSKÄMPER & NIEHUES:
"In Westdeutschland zeigen
sich seit Mitte der 1980er Jahre ähnliche Unterschiede zwischen
den Altersgruppen: Der durchschnittliche Zuwachs in der Gruppe
der 65- bis 74-Jährigen lag bei insgesamt 52 Prozent, bei den ab
75-Jährigen bei 46 Prozent, bei den unter 45-Jährigen lagen die
Zuwächse hingegen zwischen 21 und 31 Prozent. Zur Einordnung der
Ergebnisse ist es hilfreich, sich den Zeitraum der jeweiligen
Erwerbsphase einer Alterskohorte zu vergegenwärtigen. Die Gruppe
der 65- bis 74-Jährigen im Jahr 1995 ist im Zeitraum 1920 bis
1930 geboren und ist somit die erste Kohorte, die ihre
Erwerbsphase zu großen Teilen vollständig in der Nachkriegsphase
verbracht hat." (2017, S.120)
Die Rentnergruppe mit der
höchsten Realeinkommenssteigerungen sind also nicht die Rentner,
die gegenwärtig in Rente gegangen sind, sondern jene, die im Jahr
1995 65-bis 74 Jahre alt waren.
OBERHUBER zitiert die Zahlen
falsch. Zwischen 1991 und 2014 haben sich stattdessen die
Realeinkommen der 65- bis 74-Jährigen lediglich um rund 24 %
erhöht, wie einer Grafik auf der gleichen Seite zu entnehmen ist.
Die wohlhabenden Rentner sind heute also in Wirklichkeit bereits
85 Jahre und älter, also hochbetagt und damit öfters ein
Pflegefall - und auch nicht mehr so wohlhabend wie sie beim
Renteneintritt waren.
Wenn man also diese
Falschdarstellung berücksichtigt, dann wird deutlich, dass sich
die Alterseinkünfte ganz anders darstellen. Wie aber sieht es nun
mit den Haushaltstrukturen und den alleinlebenden Frauen aus? Dazu
schreiben KOCHSKÄMPER & NIEHUES:
"Demnach lebten im Jahr 2015
weniger 65-Jährige und Ältere in Singlehaushalten als noch Mitte
der 1980er oder 1990er Jahre. Darüber hinaus ist der Anteil der
ab 75-Jährigen, der in einem Paarhaushalt lebt, deutlich
gestiegen. Lebten bis 1995 noch weniger als 30 Prozent der ab
75-Jährigen in einem Paarhaushalt, war es im Jahr 2015 beinahe
die Hälfte der mindestens 75-Jährigen. Die zunehmende Tendenz
zum Zusammenleben im Alter – entgegen des umgekehrten Trends in
der Gesamtbevölkerung – dürfte somit einen relativierenden
Einfluss auf das Armutsrisiko im Alter gehabt haben. Bis Mitte
der 1990er Jahre dürften die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs
noch zu einem überdurchschnittlichen Anteil besonders an
alleinlebenden Frauen im Alter geführt haben, ein Sondereffekt,
der in der Folge zunehmend ausläuft (Statistisches Bundesamt,
2015, 6 f.). Darüber hinaus könnte eine weitere Erklärung
hierfür sein, dass Alleinlebende im Alter überdurchschnittlich
oft in Einrichtungen leben, die im SOEP nicht abgebildet werden.
Nimmt man allerdings den Anteil der Bevölkerung ab 65 Jahren (ab
75 Jahren) an der Gesamtbevölkerung im jeweiligen Alter, dann
befinden sich im Jahr 2015 nur 2,6 Prozent (4,3 Prozent) der
Männer in vollstationärer Pflege und leben somit in
Einrichtungen, die im SOEP nicht erfasst sind. Bei den Frauen
beträgt der Anteil 5,6 Prozent (9,4 Prozent). Einen weiteren
Einfluss auf die Haushaltszusammensetzung kann der
Altersunterschied zwischen den Ehepartnern haben, weil damit die
Wahrscheinlichkeit variiert, im Alter für einen längeren oder
kürzeren Zeitraum als hinterbliebener Single zu leben. Zuletzt
könnten veränderte gesellschaftliche Strukturen eine Rolle
spielen, die dazu führen, dass Personen sich im Alter in neuen
Paarstrukturen zusammenfinden." (2017, S.128f.)
Die Daten des SOEP blenden also
genauso wie die Altersgruppenbildung das Altersarmutsrisiko aus,
das dadurch entsteht,
"dass Frauen ab 65 Jahren
aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung mehr als doppelt so
häufig allein leben wie gleichaltrige Männer. Auf Basis des
Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes zeigt sich ein
stärkerer Anstieg der Alleinlebendenquote älterer Frauen
gegenüber Männern in den letzten Jahren (Statistisches
Bundesamt, 2015, 5 ff.)."
Gemäß einer EUROSTAT
Pressemeldung
aus dem Jahr 2016 waren bei den 80-Jährigen und älteren in
Deutschland 65,1 % Frauen und nur 34,9 % Männer.
Fazit: In keiner Weise wird
OBERHUBER dem Phänomen Altersarmut gerecht. Neben der
Falschdarstellung der IW Köln-Studie wird sowohl die Altersarmut
durch Hartz IV und Krankheit vor dem 65. Lebensjahr als auch das
Altersarmutsrisiko von Frauen über 75 Jahren verharmlost - ganz zu
schweigen davon, dass die Problematik in Ostdeutschland noch nicht
einmal erwähnt wird. Stattdessen verwechselt OBERHUBER ihren
wohlsituierten Bekanntenkreis mit den gesamtgesellschaftlichen
Zuständen.
MARSCHALL, Birgit (2017): Top-Ökonomen sprechen sich für Rente mit 70
aus.
Führende Wirtschaftswissenschaftler
üben scharfe Kritik an den Wahlprogrammen: Statt Geschenke zu
versprechen, sollten die Parteien die Bürger auf ein höheres
Rentenalter ab 2030 vorbereiten,
in:
Rheinische Post v. 08.08.
Mit ihrer Forderung nach einer
Rente mit 70 bewerben sich Marcel FRATZSCHER und Michael HÜTHER als
Mitglieder der von der CDU geplanten Regierungskommission!
HÜTHER,
Michael (2017): Problem Alter.
Gastkommentar: Der Autor fordert
die generelle Erhöhung des Renteneintrittsalters,
in:
Handelsblatt v. 11.08.
Michael HÜTHER, Direktor der
Lobbyorganisation IW Köln, predigt wieder das neoliberale Mantra
im Sinne einer Demografisierung gesellschaftlicher Probleme:
"Die kommende
Legislaturperiode wird die letzte sein, in der Deutschland in
demografischer Hinsicht gut dasteht. Denn die Generation der
Babyboomer ist dann überwiegend noch erwerbstätig. Danach
werden die geburtenstarken Jahrgänge, geboren zwischen Mitte
der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts, nach und nach in Rente gehen.
Da zudem die Lebenserwartung steigt, wird sich der Anteil der
über 67-jährigen an der Gesamtbevölkerung bis 2035 erhöhen."
Verschwiegen wird dagegen,
dass die Geburtenrate stärker gestiegen ist, als in den
aktuellen Vorausberechnungen angenommen. Auch die noch vor 10
Jahren erstellten Bevölkerungsvorausberechnungen gingen von
falschen Annahmen zum Bevölkerungswachstum aus:
"Die (...) Zuwanderung
führt (...) dazu, dass die Gesamtbevölkerung in Deutschland -
anders als lange erwartet - vorerst nicht schrumpft, sondern
voraussichtlich bis Mitte der 2020er-Jahre wachsen wird,
meint HÜTHER. Auch diese
Annahmen sind Ausdruck des Pessimismus, den der Neoliberalismus
verbreitet, um Ängste zu schüren. Die Entdeckung der Demografie
als Ideologie stammt aus den 1970er Jahren. Seit damals wurde
das Rentensystem ständig wegen der Alterslast vor dem Kollaps
gesehen. Der Sound des Niedergangs währt also schon bald 40
Jahre. In Wirklichkeit ist nicht die Alterung der Bevölkerung
das Problem, sondern die starke Limitierung der Beitragszahler
durch Beitragsbemessungsgrenze und Reduzierungen des Kreises der
Beitragszahler, d.h. die Lasten wurden seit den 1970er Jahren
auf immer weniger Schultern verteilt. Hinzu kam, dass die Lasten
der Massenarbeitslosigkeit und Wiedervereinigung zusätzlich auf
die Sozialsysteme abgewälzt wurden. Es sind immer politische
Entscheidungen und keine Sachzwänge aufgrund der Demografie,
wenn das Verhältnis von Beitragszahlern und Rentenempfängern aus
dem Ruder läuft. Aus der folgenden Übersicht sind
unterschiedliche Indikatoren zur Entwicklung der Alterung und
der Entwicklung der Rentenzahlen ersichtlich:
Übersicht:
Entwicklung der Alterung und Rentnerzahlen in Deutschland
2001-2015 |
Jahr |
Verhältnis der
Beitragszahler
(ÄQBZ) zu den
Rentnern (ÄQR) |
Äquivalenzrentner
(ÄQR) |
Anzahl der
Rentner
(RV
2004,
2007,
2010,
2013,
2015) |
Altenquotient
(20-64-
Jährige/
65-Jährige
und Ältere) |
Anzahl der
über
65-Jährigen
(Statistisches
Jahrbuch
2011, 2016) |
2001 |
k.A |
k.A. |
19,232 Mill. |
27,5 |
14,066 Mill. |
2002 |
k.A |
k.A |
19,463 Mill.
(+ 231 Tsd.) |
28,3
(+ 0,8) |
14,439 Mill.
(+ 373 Tsd.) |
2003 |
1,88 |
14,292 Mill. |
19,558 Mill.
(+ 95 Tsd.) |
29,3
(+ 1,0) |
14,860 Mill.
(+ 421 Tsd.) |
2004 |
1,83 |
14,405 Mill.
(+ 131 Tsd.) |
19,812 Mill.
(+ 254 Tsd.) |
30,5
(+ 1,2) |
15,367 Mill.
(+ 507 Tsd.) |
2005 |
k.A |
k.A |
20,012 Mill.
(+ 200 Tsd.) |
31,7
(+ 1,2) |
15,870 Mill.
(+ 503 Tsd.) |
2006 |
1,84 |
14,561 Mill.
(+ 156 Tsd.) |
20,116 Mill.
(+ 104 Tsd.) |
32,7
(+ 1,0) |
16,299 Mill.
(+ 429 Tsd.) |
2007 |
1,85 |
14,592 Mill.
(+ 31 Tsd.) |
20,243 Mill.
(+ 127 Tsd.) |
33,2
(+ 0,5) |
16,519 Mill.
(+ 220 Tsd.) |
2008 |
1,88 |
14,651 Mill.
(+ 59 Tsd.) |
20,317 Mill.
(+ 74 Tsd.) |
33,7
(+ 0,5) |
16,729 Mill.
(+ 210 Tsd.) |
2009 |
1,84 |
14,700 Mill.
(+ 49 Tsd.) |
20,412 Mill.
(+ 95 Tsd.) |
34,1
(+ 0,4) |
16,902 Mill.
(+ 173 Tsd.) |
2010 |
1,81 |
14,748 Mill.
(+ 48 Tsd.) |
20,492 Mill.
(+ 80 Tsd.) |
33,8
(- 0,3) |
16,844 Mill.
(- 58 Tsd.) |
2011 |
1,97 |
14,755 Mill.
(+ 7 Tsd.) |
20,534 Mill.
(+ 42 Tsd.) |
33,9
(+ 0,1) |
16,603 Mill.
(- 251 Tsd.) |
2012 |
1,92 |
14,782 Mill.
(+ 27 Tsd.) |
20,609 Mill.
(+ 75 Tsd.) |
34,1
(+ 0,2) |
16,715 Mill.
(+ 112 Tsd.) |
2013 |
1,90 |
14,764 Mill.
(- 18 Tsd.) |
20,576 Mill.
(- 33 Tsd.) |
34,2
(+ 0,1) |
16,853 Mill.
(+ 138 Tsd.) |
2014 |
1,90 |
15,007 Mill.
(+ 243 Tsd.)
|
20,617 Mill.
(+ 41 Tsd.) |
34,6
(+ 0,2) |
17,089 Mill.
(+ 236 Tsd.) |
2015 |
1,92 |
15,389 Mill.
(+ 382 Tsd.) |
20,822 Mill.
(+ 205 Tsd.) |
34,7
(+ 0,1) |
17,300 Mill.*
(+ 211 Tsd.) |
|
* Statistisches
Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 1.3, 2015, S.14; eigene
Berechnung |
Die unterschiedlichen
Indikatoren zur Entwicklung von Alterung und Rentenempfängern
zeigt, dass es keinen linearen Zusammen zwischen der Zunahme der
über 65-Jährigen und der Entwicklung der Rentenempfängerzahlen
bzw. Beitragszahler gibt. Dabei ist zu berücksichtigten, dass
der Zensus 2011 zu einer Korrektur der Bevölkerungsentwicklung
führte, die sich auf die einzelnen Indikatoren unterschiedlich
auswirkte.
Im Jahr 2003 nahm die Zahl
der über 65-Jährigen mehr als vier mal so stark zu als die Zahl
der Rentnerneuzugänge. Im Jahr 2013 nahm die Zahl der
Rentenneuzugänge sogar ab, obwohl die Zahl der über 65-Jährigen
weiter stieg. Meistens überstieg die Zahl der über 65-Jährigen
um ein Vielfaches die Zahl der Rentnerneuzugänge. Dies liegt u.a.
daran, dass das tatsächliche Rentenzugangsalter unter dem
gesetzlichen Rentenzugangsalter liegt. Aber auch
Gesetzesvorhaben, die die Konditionen des Rentenzugangs neu
regeln, können das Verhältnis ändern (z.B. die Rente ab 63).
Wer wie HÜTHER eine weitere
Erhöhung des Renteneintrittsalters fordert, der vernachlässigt
die Potenziale, die sich aus der Differenz zwischen den über
65-Jährigen und den Rentnern ergibt. So gab es im Jahr 2001 über
5,2 Millionen Rentner mehr als über 65-Jährige. 2014 bestand
immer noch eine Differenz von 3,5 Millionen. Aufgrund der Rente
mit 67 wird sich die Differenz in den nächsten Jahren weiter
verringern.
"Da die Lebenserwartung
steigt, wird sich der Anteil der über 67-Jährigen an der
Gesamtbevölkerung von derzeit knapp 18 auf rund 26 Prozent
erhöhen",
erklärt uns HÜTHER, der mit
pessimistischen Zahlen hantiert, denn die aktuelle 13.
Bevölkerungsvorausberechnung, die bereits pessimistische
Annahmen macht, beruht auf dem Ausgangsjahr 2013, als der Anteil
der 67-Jährigen bereits bei 18,7 Prozent lag. Dieser steigt nach
der von seriösen Wissenschaftlern benutzen Variante 2 bis 2030
auf 23,8 % und 2040 auf 27,4 % Nimmt man den Altenquotienten
der 65-Jährigen, der 2013 bei 34,2 lag, dann steigt dieser bis
2020 auf 37,3. Er steigt also in 7 Jahren um 3,1. Dies wären ca.
0,4 pro Jahr. Dies wäre vergleichbar mit dem Anstieg in den
Jahren 2007 bis 2009. In den 10 Jahren von 2020 bis 2030 erfolgt
dann ein Anstieg um 11,4, also pro Jahr um nicht einmal 1,2.
Dies entspricht einem Anstieg. Solch einen Anstieg gab es in den
Jahren 2004 und 2005. Obwohl damals sogar eine hohe
Massenarbeitslosigkeit herrschte, verkraftete dies das
Alterssicherungssystem. In den 10 Jahren von 2030 bis 2040
erhöht sich der Altenquotient nur noch 6,5 und liegt damit
lediglich geringfügig über dem Anstieg der Jahre 2007 und 2008.
Die Annahmen des Statistischen Bundesamtes sind - wie gesagt -
pessimistisch, d.h. die Situation könnte sich durch die
steigende Geburtenrate, die nicht angemessen berücksichtigt
wurde, noch bessern.
Fazit: Der Anstieg des
Altenquotienten ist keineswegs bedrohlich, sondern ist
vergleichbar mit dem Anstieg in den Nuller Jahren. Selbst wenn
die Konjunktur zurückgeht, wäre das kein Problem, weil die
Nuller Jahre arbeitsmarktmäßig keine Glanzzeit war. Die
gesetzliche Rente ist besser als ihr Ruf bei den Neoliberalen!
ÖCHSNER, Thomas & Markus ZYDRA (2016): Rente mit 69? Nein, danke.
Mit 67 Jahren soll noch nicht
Schluss sein: Die Bundesbank fordert, das gesetzliche
Regeleintrittsalter in den Ruhestand weiter zu erhöhen. Die
Bundesregierung will davon lieber nichts hören,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 16.08.
ÖCHSNER & ZYDRA stellen uns
Exkurs
Zur längerfristigen Entwicklung der Alterssicherung des
Monatsberichts August der Deutschen Bundesbank vor.
Zum Schluss wird uns eine
völlig absurde Forderung der Bundesbanker präsentiert:
"Die Bundesbank fordert die
Bundesregierung auf, offizielle Prognosen zur Rentenentwicklung
vorzulegen, die bis 2060 reichen. Das stärke die
»Planungssicherung« für die Bürger und gebe »Orientierungsgrößen
für den Bedarf ergänzender Vorsorge«"
Die
Bundesbanker sind nicht einmal in der Lage die
Wirtschaftsentwicklung für ein Jahr einigermaßen genau zu
prognostizieren und verlangen Prognosen über rund 45 Jahre zur
Rentenentwicklung. Selbst die Annahmen der Bundesbank zur
Bevölkerungsentwicklung bis 2060 erweisen sich bei näherer
Betrachtung als unseriös. Dazu heißt es im Monatsbericht:
"Den Angaben liegt die
fernere Lebenserwartung aus Variante 2 der 13. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung zugrunde (Kontinuität bei stärkerer
Zuwanderung). Vgl.: Statistisches Bundesamt (2015), Bevölkerung
Deutschlands bis 2060, 13. koordinierte
Bevölkerungsvorausberechnung." (S.72)
Die Lebenserwartung wird also
nach der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung angenommen. Zu dem
Verhältnis von Beitragszahlern zu den Rentnern heißt es im
Monatsbericht weiter:
"Zur Ermittlung der
Rentenanpassungen wird der Rentnerquotient durch den
demografischen Altenquotienten (definiert als das Verhältnis der
über 65-Jährigen zu den 20- bis unter 65-Jährigen) aus der 13.
Bevölkerungsvorausberechnung (Variante 2: Geburtenziffer
konstant bei 1,4 Kindern je Frau, steigende Lebenserwartung,
langfristiger Wanderungssaldo 200 000 Personen pro Jahr)
approximiert." (S.72)
Eine Geburtenrate von 1,4 Kinder pro Frau ist bereits heute
überholt, denn die aktuelle Geburtenrate geht auf 1,5 Kinder pro
Frau zu. Diese Kinder wären damit die Berufseinsteiger ab
2040. Oder anders formuliert: Die Anzahl der potentiellen
künftigen Beitragszahler wird in dieser Annahme unterschätzt.
Hinzu kommt, dass sich nach den Berechnungen der 13.
Bevölkerungsvorausberechnung der Altenquotient in den einzelnen
Szenarien stark unterscheidet.
Schon die Prognos-Berechnungen die uns kürzlich der Spiegel
präsentiert hat, haben hier Defizite aufgewiesen.
Erst gestern - möglicherweise sogar im Hinblick auf diese
Bundesbank-Simulation - hat der prominente Ökonom Thomas
STRAUBHAAR solche Praktiken scharf kritisiert.
Fazit: Angesichts der
Unsicherheit der Entwicklungen bis zum Jahr 2060 wären Prognosen
nichts als Kaffeesatzleserei. Ihr einziger Zweck bestände darin,
berechtigte Forderungen hinsichtlich der gesetzlichen
Rentenentwicklung auszuhebeln.
SIEMS,
Dorothea
(2017): Königsweg bei der Rente.
Von einer längeren Arbeitszeit
profitieren Beitragszahler und Senioren gleichermaßen. Das zeigen neue
IW-Berechnungen,
in: Welt
v. 15.08.
Dorothea SIEMS fungiert als
Durchlauferhitzer für die Lobbyorganisation der Arbeitgeber, die
wieder ihr Lieblingsthema ins Gespräch bringen möchte.
"Momentan stehen 100
sozialversicherungspflichtige Beitragszahler 58 Rentenempfängern
gegenüber",
wird uns zum
"Rentnerquotienten" erklärt. Dies entspräche einem Verhältnis von
1,72 und liegt damit unterhalb des
"Rentnerquotienten" von
1,92 für das Jahr 2015, in den neben der Kopfzahl auch die
Entwicklung der Löhne mit einfließt, weshalb dieser Faktor
wesentlich genauer die künftige Entwicklung angibt als jener
Faktor, der vom IW Köln benutzt wird (vgl. 2017, Abb. 4, S.16).
Susanne KOCHSKÄMPER rechnet also das Verhältnis bewusst schlecht,
um das Anliegen einer Rente mit 70 dringender zu machen.
Während die Ostrentenanpassung
im Simulationsmodell berücksichtigt wird, bleiben die Auswirkungen
der Entgeltumwandlung durch das Betriebsrentenstärkungsgesetz
unberücksichtigt. Dieses führt zu einer Senkung der
Rentenansprüche. Oder anders formuliert: Was die Rente mit 70
dringlicher macht, wird in der Simulationsrechnung berücksichtigt,
während gegenteilige Effekte außen vor bleiben.
"In seinem Szenario für die
»Rente mit 70« geht das IW davon aus, dass die Altersgrenze 2035
auf 68 Jahre angehoben wird, 2039 auf 69 Jahre steigt und man
2043 schließlich erst mit dem 70. Geburtstag das Berufsleben
beendet. Die Anhebung erfolgt damit deutlich rascher, als dies
derzeit bei der Umsetzung der Rente mit 67 der Fall ist.
Denn momentan verschiebt sich die reguläre Altersgrenze
lediglich um einen Monat pro Jahr",
behauptet SIEMS. Dagegen heißt
es bei KOCHSKÄMPER:
"Dabei folgt das Szenario
»Rente mit 67« der gegenwärtigen Gesetzgebung, in dem in der
Simulation hier die Regelaltersgrenze in 2024 auf 66 Jahre und
in 2031 auf 67 Jahre steigt und anschließend konstant bleibt;
für die »Rente mit 70« gilt hingegen ein weitere Anstieg der
Regelaltersgrenze nach 2031 im jeweils vierjährigen Rhythmus.
(...).
Dabei wird hier auf ein monatliches Ansteigen der
Regelaltersgrenze verzichtet, wie es die gegenwärtige
Gesetzeslage vorsieht, und stattdessen ein sprunghafter Anstieg
um jeweils ein Jahr modelliert; analog werden nur
Versichertenjahrgänge betrachtet. Dies hat den Vorteil, dass
keine Annahmen darüber zu treffen sind, wie sich die Geburtstage
der Versicherten über das Jahr verteilen – wie viele Versicherte
also beispielsweise im Januar und wie viele erst im Oktober die
jeweilige Regelaltersgrenze erreichen. Nachteilig ist, dass es
in der Simulation dadurch zu sprunghaften Veränderungen kommt,
sobald eine neue Regelaltersgrenze erreicht wird und kein
glatter Übergang in den Jahren zwischen zwei Regelaltersgrenzen
stattfindet. Im Verhältnis zu einer monatsweisen Modellierung
fallen die Änderungen von Beitragssatz und
Netto-Standardrentenniveau vor Steuern zwischen einer
Regelaltersgrenze bis zum Erreichen einer neuen
Regelaltersgrenze stärker aus, ebenso ist die Korrektur des
Anpassungspfades nach Erreichen der neuen Regelaltersgrenze
abrupter als in einer Modellierung nach Monaten." (2017, S.13f.)
Die Simulation vereinfacht
lediglich das Prinzip. Erst nach 2031 ist der Anstieg im Szenario
"Rente mit 70" höher als bei der Rente mit 67. Dieses
Arbeitgeber-Modell verschärft damit rasant das
Modell der "Rente mit
69", das die Bundesbank bereits im August 2016 gefordert hat.
Danach sollte jedoch erst im Jahr 2064 der erste Geburtsjahrgang
1995 mit 69 Jahren in Rente gehen.
Fazit: Obwohl sich die
Situation der Rentenversicherung in den letzten Jahren verbessert
hat, werden die Forderungen der Arbeitgeber und ihrer Claqueure
unter den "Top-Ökonomen" und Medien immer dreister.
HOFFMANN, Catherine (2017): Merkels Nein.
Rente mit 70 - das ist im Wahlkampf
kein Hit. Also ist Angela Merkel dagegen. Kommen wird sie aber, nur
später,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 06.09.
Wie schon gestern der
neoliberale Wirtschaftsteil der FAZ, ist nun auch der
neoliberale Wirtschaftsteil der SZ auf Seiten von Wolfgang
SCHÄUBLE und Jens SPAHN, die in der CDU für die Rente mit 70
votieren MERKEL kann sowieso versprechen was sie will, es ist auf
alle Fälle unglaubwürdig:
"Es besteht in der nun
kommenden Legislaturperiode tatsächlich kein Handlungsbedarf für
ein höheres Rentenalter, noch nicht einmal in der
Legislaturperiode danach, denn bis 2029 müssen wir erst einmal
die Rente mit 67 einführen",
wird Axel-Börsch SUPAN ein
Verfechter der Kopplung des Renteneintrittsalters an die
Lebenserwartung, der in Vorwahlzeiten ganz anders argumentiert
hat.
Wann die Babyboomer in Rente
gehen, das liegt im Belieben der Medien, die uns ständig neue
Zahlen präsentieren. Für die einen gehen die Babyboomer schon
heute in Rente, für die nächsten zwischen 2020 und 2030, für
HOFFMANN gehen sie nun sogar zwischen 2030 und 2040 in Rente und
das bei einem Babyboom, der in kaum einem Industriestaat mickriger
ausgefallen ist als in Deutschland. Bereits diese Uneinigkeit
zeigt, dass die Demografie als Ideologie dient, die je nach
Belieben argumentativ eingesetzt werden kann. Es wundert deshalb
kaum, dass die Glaubwürdigkeit der Mainstreammedien im freien Fall
ist.
Fazit: Der Artikel präsentiert
keine neue Fakten, sondern wiederholt lediglich das neoliberale
Mantra von SUPAN als Hardliner, der eine postdemokratische Lösung
mittels Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung
vertritt. Das ist nichts anderes als eine Umverteilung von Arm zu
Reich, denn Arme sterben früher!
AFHÜPPE, Sven
& Martin GREIVE (2017): "Die SPD ist verzweifelt".
Der CDU-Politiker und
Staatssekretär greift die Sozialdemokraten an. Beim Thema Rente wirft
er der SPD Lügen vor,
in:
Handelsblatt v. 07.09.
Jens SPAHN ist sichtlich
gezeichnet vom Tiefschlag, dem ihn die Kanzlerin am Sonntag
versetzt hat. Auf dem Foto verschränkt er die Arme vor seinem
Bauch, offenbar um gegen weitere Tiefschläge aus den eigenen
Reihen gewappnet zu sein. Cool sieht anders aus!
Peinlich wird es, wenn SPAHN
nun seine Rente mit 70-Forderungen, die er gerne den Medien
gesteckt hat, nun als absonderliche, eigene Meinung verstanden
haben will ("Es gibt keinen Beschluss der CDU für eine Rente mit
70").
"In fünf bis zehn Jahren
werden Millionen Menschen freiwillig länger arbeiten, weil sie
für sich gerne eine Aufgabe haben",
erklärt uns SPAHN nun. Oder
anders formuliert: Die Rente mit 70 wird sich ganz von alleine
durchsetzen. Warum dann also sein ganzes Gelabere? Dann könnte
SPAHN eigentlich das Rententhema abhaken.
"Inhaltlich und
politkulturell stehen wir der FDP am nächsten",
erklärt uns SPAHN. Hier will er
nun plötzlich doch wieder für seine Partei sprechen und nicht nur
wie in der Rentendebatte eine absonderliche Meinung vertreten.
SCHWENN,
Kerstin (2017): Denkverbote im Renten-Wahlkampf.
Leidartikel: Rente ist Mathematik.
Stellschrauben für eine Reform sind begrenzt Tabus helfen nicht,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 07.09.
Die Neoliberale Kerstin SCHWENN
ist entrüstet über Angela MERKEL, die Wolfgang SCHÄUBLE und Jens
SPAHN als Rente mit 70-Verfechtern in den Rücken gefallen ist.
Schlimmer noch: Selbst die neoliberalen Ökonomen haben nun in der
heißen Phase des Wahlkampfes Kreide gefressen:
"Nun sagen selbst renommierte
Rentenexperten wie Bert Rürup oder Axel Börsch-Supan und die in
der BEDA vereinten Arbeitgeber (...) im Moment sei eine Debatte
über die »Rente mit 70« überflüssig."
Der FDP bescheinigt SCHWENN
Cleverness, denn sie propagiert die Rente mit 70, indem sie die
Flexibilität betont, denn schließlich können bei ihnen Vermögende,
die sich horrende Abschläge leisten können, schon mit 60 in den
Ruhestand verabschieden, während Niedriglöhnen bis 70 arbeiten
müssten, weil sie nicht über die Grundsicherung im Alter hinaus
kommen.
SCHWENN ist auch nicht so dumm
wie Catherine HOFFMANN in der gestrigen SZ, die uns das steigende
Renteneintrittsalter mit den Rentenneugängen der Babyboomer
erklärte. Bei SCHWENN heißt es dagegen:
"Denn die Alterung der
Gesellschaft schreitet nach 2030 verschärft voran, weil die
geburtenstarken Jahrgänge dann im Ruhestand sind und immer
weniger Beitragszahler dies finanzieren müssen. Die weiter
wachsende Lebenserwartung belastet die Rentenkassen".
Auch das ist lediglich
Spekulation, denn schon heute werden jedes Jahr mehr Kinder
geboren als in den aktuellen Bevölkerungsvorausberechnungen
ausgewiesen werden, die Grundlage dieser Spekulationen sind. Hinzu
kommt, dass der Anstieg der Lebenserwartung nicht mehr in dem Maße
erfolgen muss wie in der Vergangenheit. Es gibt also jede Mange
Unsicherheiten bezüglich der zukünftigen Entwicklung des
demografischen Wandels.
Flexibilität ist für SCHWENN
ein Zaubermittel, denn darunter subsumiert sie auch die Kopplung
des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung, obwohl das alles
andere als Flexibilität ist, nämlich: ein postdemokratischer
Versuch die Demokratie auf dem Felde der Rentenpolitik
auszuhebeln!
FUNKE, Eva
(2017): Älteste Stuttgarterin gestorben.
Statistik: In Stuttgart leben 113
Menschen, die 100 Jahre und älter sind,
in:
Welt v. 08.09.
"Nach Angaben des städtischen
Amts für öffentliche Ordnung leben derzeit 113 Menschen in
Stuttgart die 100 und älter sind - und obwohl Frauen statistisch
gesehen älter werden als Männer, hält in Stuttgart jetzt mit 105
Jahren ein Mann den Altersrekord",
berichtet Eva FUNKE zur
Situation, nachdem die älteste Frau mit 107 Jahren in Stuttgart
gestorben ist.
CREUTZBURG, Dietrich (2017): Schäuble widersetzt sich Merkels
Renten-Postulat.
Nach der Absage der Kanzlerin an
eine "Rente mit 70" warnt der Finanzminister vor Tabus,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 09.09.
SIMMANK, Jakob (2017): Die Lüge vom
guten Altwerden.
Verweht: Wer heute in Deutschland
geboren wird, wird im Schnitt über 80 Jahre alt. Die Leute leben
länger und gesünder. Gleichzeitig hatte das Alter noch nie einen so
schlechten Ruf. Warum?
in:
TAZ v. 23.09.
SIEVERS, Markus (2017): Jamaika und
die Rente mit 70.
Die künftige Regierung muss nach
Ansicht der führenden deutschen Forschungsinstitute den Bürgern
einiges zumuten,
in:
Frankfurter Rundschau v. 29.09.
SCHWENN,
Kerstin (2017): Rente mit 63 weiter sehr beliebt.
Rentenversicherer entwickeln
übergreifende Information,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.10.
Kerstin SCHWENN schreibt von
einer "abschlagfreien Rente mit 63" obwohl das falsch ist, denn
diese gab es nur für die vor 1953 Geborenen. Der Jahrgang 1954
muss dagegen bereits 4 Monate länger arbeiten und der Jahrgang
1958 kann sogar erst mit 64 Jahren in Rente gehen. Die Jahrgänge
ab 1964 müssen bis 65 Jahre arbeiten, um abschlagfrei in Rente
gehen zu können. Und für alle Jahrgänge gilt: Sie müssen
mindestens 45 Beitragsjahre zusammen haben, was die meisten
Erwerbstätigen nicht erreichen. Nichts davon lesen wir bei SCHWENN.
Dort heißt es lediglich:
"Bis Ende August zählten die
Rentenversicherer rund 160.000 Anträge (...). Das sind kaum
weniger als vor einem Jahr. Ingesamt hatten im vergangenen Jahr
240.000 Arbeitnehmer eine Rente mit 63 beantragt."
Diese Zahlen sind jedoch nicht
aussagekräftig, wenn unbekannt ist, wie viel Prozent der
Neurentner das sind.
In der Publikation
Rentenversicherung in Zahlen 2017 werden für das Jahr 2016
783.718 Neuzugänge bei den Altersrenten ausgewiesen (vgl. 2017
S.60). Davon entfallen 225.290 auf Renten für besonders langjährig
Versicherte (Frauen: 99.234; Männer: 126.056; vgl. 2017 S.59 und
61). Wer einen Antrag stellt, geht also noch lange nicht
abschlagsfrei mit 63 Jahren in Rente. Im Jahr 2015 gingen noch
274.287 Männer und Frauen abschlagfrei in Rente (vgl.
Rentenversicherung in Zeitreihen 10/2016, S.62).
FERBER, Michael (2017): Steigende Altersarmut in den Industrieländern.
Unterbrochene Erwerbsbiografien
werden häufiger,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 20.10.
Wie Neoliberale uns verdummen,
das zeigt die Berichterstattung der NZZ über die steigende
Altersarmut, bei der versucht wird, das Problem der Altersarmut
auf mangelnde Generationengerechtigkeit abzuschieben, obwohl es um
ein Umverteilungsproblem geht:
"Über die OECD-Länder hinweg
habe ein 25-jähriger Mann mit Hochschulabschluss eine um fast
acht Jahre höhere Lebenserwartung als ein Gleichaltriger mit
lediglich geringen Qualifikationen,
schreibt die OECD. Bei Frauen betrage der Unterschied 4,6
Jahre.
Auch würden Geringverdiener tendenziell weniger alt als Menschen
mit hohem Einkommen, heisst es weiter. Zudem seien die
jährlichen Rentenzahlungen für über 65-Jährige heute bei Frauen
durchschnittlich um 27% niedriger als bei Männern. Auch das
Risiko der Altersarmut sei bei Frauen deutlich höher als bei
Männern.
Die OECD-Autoren kommen in der Studie zum Schluss, die Anhebung
des Rentenalters führe in der Tendenz dazu, dass die
Ungleichheit der Gesamtrenten zwischen Gering- und
Vielverdienern vergrössert werde, auch wenn der Effekt eher
gering sei. Eine sicherere Finanzierung der Systeme bei
steigender Lebenserwartung wird aber nur zu haben sein, wenn die
Menschen länger arbeiten",
fasst Michael FERBER das
Konfliktpotenzial einer Kopplung des Renteneintrittsalters an die
durchschnittliche Lebenserwartung zusammen, wobei das Problem
verharmlost wird, wenn es heißt, dass der "Effekt eher gering
sei". Das ist blanker Zynismus, denn es bedeutet, dass der frühe
Tod der geringverdienenden Männer im Vergleich zu den Frauen als
positiver Effekt angesehen wird, da Tote die Rentenkassen nicht
weiter belasten.
Fazit: Angesichts des Zynismus
der Neoliberalen in Sachen sozialer Frage darf sich niemand
wundern, dass sich mit der AfD eine erfolgreiche Männerpartei in
Deutschland etabliert hat, wenngleich deren männliche Wählerschaft
von der AfD auch nichts zu erhoffen hat.
HAAN, Peter/HAMMERSCHMID,
Anna/ROWOLD, Carla (2017): Geschlechtsspezifische Renten- und
Gesundheitsunterschiede in Deutschland, Frankreich und Dänemark,
in:
DIW-Wochenbericht Nr.43 v. 25.10.
Der DIW-Wochenbericht
Gender Pay Gap zeigt, wie der Elitenfeminismus nur jene
Themen aufgreift, die den Eliten genehm sind, während z.B. die
niedrige Lebenserwartung der Männer im Vergleich zu Frauen keine
Rolle spielt. Es ist der Zynismus dieser Art von Neoliberalismus, der die AfD und
letztlich die Unzufriedenheit mit der Demokratie stärkt.
Untersuchungsdesigns, die die
geringere Lebenserwartung von Männern im Vergleich zu Frauen außen
vor lassen, geben ein verzerrtes Bild wider. Die höhere
Sterblichkeit von Männern führt dazu, dass es überhaupt mehr
Frauen in Altersarmut geben kann. Ein unverzerrtes Bild ergibt
sich also nur, wenn als Vergleichsmaßstab die
geschlechtsspezifische Altersarmut bei gleicher Sterblichkeit der
Geschlechter gemessen wird. Das aber ist in elitenfeministischen
Untersuchungsdesigns nicht der Fall.
Fazit: Mit der Ausblendung der
niedrigen Lebenserwartung erscheint die Altersarmut als
Hauptproblem und nicht etwa die geschlechtsspezifische
Sterblichkeit. Es stellt sich also die Frage, wie es sein kann,
dass in Sachen der Gleichberechtigung ausgerechnet das
existenzielle Überleben keine Rolle spielt. Bei Haushaltsansätzen
bleiben zudem die Ärmsten der Armen, nämlich Wohnungslose und
Heimbewohner ausgeblendet. Auch hier zeigt sich der fatale
Elitenkonsens schon im Ansatz wissenschaftlicher Untersuchungen.
BRÖCKER, Michael & Eva QUADBECK (2017): Jens Spahn fordert Aus für
Rente mit 63.
Das CDU-Präsidiumsmitglied Jens
Spahn spricht im Interview mit unserer Redaktion über Vertrauen in
den Rechtsstaat, Sozialpolitik und sein Verhältnis zur Kanzlerin,
in:
Rheinische Post Online
v. 30.10.
SPECHT,
Frank (2017): Zweite Chance.
Dass Jamaika die Rente mit 63
infrage stellt, lässt hoffen, dass die nächste Regierung die
Prioritäten richtig setzt,
in:
Handelsblatt v. 02.11.
Die Infragestellung der Rente mit
63 ist der Wunschtraum der Wirtschaft. Und bislang hat dafür
lediglich Jens SPAHN plädiert. Im
Sondierungspapier der Koalition findet sich dagegen nichts dazu.
SPAHN vertritt ja gerne eigene Meinungen (siehe z.B. Rente mit 70),
die nichts mit der CDU-Fraktion zu tun haben. Weshalb es bei SPECHT
heißt:
"Das vage Ergebnispapier der
Rentensondierung lässt genug Raum für die Hoffnung, dass Jamaika
am Ende die richtigen Prioritäten setzt."
Die neoliberalen Prioritäten, die
uns SPECHT präsentiert, sind nicht neu. Wir warten ab, was im
Koalitionsvertrag steht.
CREUTZBURG, Dietrich (2017): Unternehmer hoffen auf Abschaffung
der Rente mit 63.
Jamaika-Unterhändler
dementieren angebliche Pläne. CDU-Wirtschaftsrat für beherzte
Beitragsenkung,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 02.11.
Dietrich CREUTZBURG berichtet,
dass die Bildzeitung eine Falschmeldung zur Rückabwicklung der Rente
ab 63 in der Öffentlichkeit lanciert hat, deren Begründung
CREUTZBURG aus dem Herzen spricht. Anton HOFREITER und Markus KURTH
von den Grünen sind gegen die Abschaffung. FDP und CSU sind nicht
dagegen und die Wirtschaftslobbyisten wären dankbar, weil sie in den
Älteren kostengünstige Arbeitskräfte sehen, die gegen Jüngere
ausgespielt werden können.
Interessant ist die umständliche
Sprachregelung, mit der CREUTZBURG das Faktum umschreibt, dass
gegenwärtig niemand mehr mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen
kann:
"Wer 45 Beitragsjahre beisammen
hat, kann damit seit Juli 2014 ohne Abschläge in Rente gehen, auch
wenn er die reguläre Altersgrenze noch nicht erreicht hat."
Wird man bald also nur noch über
die Abschaffung der Rente mit 64 Jahren reden, weil mit jedem
verstreichenden Monat das Unwort "Rente mit 63" nicht mehr der
Realität entspricht?
BLAWAT, Katrin (2017): Alt, weise
und zufrieden.
Etwa 17.000 Menschen in Deutschland
sind älter als 100 Jahre - und ihre Zahl steigt stetig. Viele von
ihnen sind mit ihrem Leben zufrieden. Von ihnen können auch Jüngere
lernen, wie man erfolgreich altert,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 04.11.
"Die Französin hat nicht nur
lange, sondern bis zum Schluss auch recht gut gelebt. Dank ihres
wohlhabenden Mannes musste sie sich nie ums Geld sorgen. Sie
verbrachte viel Zeit mit Opernbesuchen und Klavierspielen",
erzählt uns Katrin BLAWAT über
das Leben einer Frau, die erst mit 110 Jahren in ein Pflegeheim
zog. Die Lebenserwartung von einkommensstarken Menschen ist weit
geringer als die von wohlhabenden Menschen. Dennoch klammert der
Artikel diesen Aspekt aus und behauptet gar:
"Zufriedenheit mit dem
ökonomischen Status, ein hohes Glücksempfinden und ein als
subjektiv gut eingeschätzter Gesundheitszustand (sind
entscheidend). Letzterer, das betont Rott, hänge keineswegs
immer mit objektiver Gesundheit zusammen. Und auch mit seiner
finanziellen Situation kann man zufrieden sein, ohne dass dies
eng mit dem tatsächlichen Kontostand korrelieren muss."
Über die Sozialstruktur der
Hundertjährigen schweigt sich der Artikel aus, obwohl alle
einschlägigen Studien zur Entwicklung der Lebenserwartung - nicht
nur in Deutschland - einen engen Zusammenhang zwischen Einkommen
und Lebenserwartung aufzeigen.
"Allein auf gute Gene zu
hoffen, dürfte (...). wenig bringen. (...).
Dafür könnte es helfen, an einem dieser sechs Orte zu leben: auf
der griechischen Insel Ikaria, auf der Halbinsel Nicoya in Costa
Rica, in der kalifornischen Stadt Loma Linda, auf der
japanischen Insel Okinawa, ind er italienischen Kleinstadt
Acciaroli oder auf Sardinien. In diesen sogenannten Blauen Oasen
leben statistisch gesehen jeweils besonders viele
Hundertjährige."
Ob das noch für jene gelten
wird, die in 50 oder 100 Jahren dort leben, das wäre die
interessantere Frage.
Der Artikel konzentriert sich
auf die üblichen Modethemen: Resilienz ("Widerstandskraft") und
positives Denken als Bedingungen für eine hohes Altern. Das passt
zu einer neubürgerlichen Gesellschaft, in der Missstände dem
Lebensstil zugeschrieben werden und nicht gesellschaftlichen
Bedingungen.
BECKER,
Benedikt & Cornelia SCHMERGAL (2017): Alter Schwede.
Soziales: Die angehenden
Jamaikakoalitionäre wollen den Renteneintritt flexibler machen und
starre Altersgrenzen aufbrechen - eine überfällige Reform. Vorbild
dafür ist Skandinavien,
in:
Spiegel Nr.46 v. 11.11.
BECKER & SCHMERGAL preisen das
neoliberalisierte Schweden als Rentenvorbild. Dazu präsentieren
sie uns die dünne Broschüre
Meine Zeit in Schweden - Arbeit und Rente europaweit. Die
Neoliberalen greifen sich jene Elemente aus dem schwedischen
Alterssicherungssystem heraus, das ihnen gerade in den Kram passt.
In diesem Fall die flexible Altersrente, die dem angeblich
"verkrusteten" deutschen Sozialrecht gegenüber gestellt wird.
Individualisierung gilt BECKER & SCHMERGAL den pauschalen Vorgaben
überlegen.
Neoliberale passen ihre
Rhetorik jeweils den Umständen an, weshalb nun dem
besserverdienenden, gesuchten Physiker ein arbeitsunfähiger Maurer
zur Seite gestellt wird. Das ist der Kritik am neoliberalen Modell
geschuldet, das den Akademiker zur Norm erklärt hat und dadurch in
letzter Zeit viel Gegenwind bekam. Dies zeigt sich auch in
Studien, denn vor allem Gutgebildete arbeiten weiter:
"Ausgerechnet dort, wo es
keine feste Altersgrenze mehr gibt, bleiben Senioren besonders
lange im Berufsleben (...). In Schweden sind es 16,4 Prozent,
das ist Rekord in der EU",
erklären uns BECKER &
SCHMERGAL. Dumm nur, dass Länder wie Japan mit fester Altersgrenze
noch mehr berufstätige 65-Jährige und Ältere aufweisen als
Schweden. Hinzu kommt, dass BECKER & SCHMERGAL uns verschweigen,
dass sich die erwähnte Studie
Arbeiten im Rentenalter - Erwerbstätigkeit 65plus in Europa
sich gar nicht auf alle 28 EU-Länder bezieht, sondern nur auf 15
EU-Länder. Die Daten stammen aus dem Jahr 2014. Just im gleichen
Jahr
beschwerte sich der Neoliberale Carsten LINNEMANN darüber,
dass zwar in Schweden mehr Menschen über 65-Jahre weiterarbeiten,
dafür aber noch mehr bereits früher aussteigen - möglichst mit 61
Jahren. Aus diesem Grund sollen die Abschläge für "Frührentner"
möglichst so gestaltet werden, dass sich das nur sehr wenige
Menschen leisten können. Bei BECKER & SCHMERGAL wird dies jedoch
verschwiegen. Die Autoren preisen das lebenslange Lernen, d.h. der
Maurer, der seine Arbeit nicht mehr ausführen kann, soll zum
Bürohengst umfunktioniert werden. Ob das funktioniert, ist die
andere Frage. Als letzter Ausweg gilt die Erwerbsminderungsrente,
die jedoch so gestaltet werden soll, dass sie möglichst wenig
kostet.
Ausgerechnet der Neoliberale
Thomas STRAUBHAAR - ein Wolf im Schafspelz - wird als Lobpreiser
der schwedischen Mindestrente präsentiert. STRAUBHAAR plädiert
bekanntlich für ein garantiertes Grundeinkommen (das durchaus sehr
niedrig sein darf!), das letztlich alle Sozialversicherungssysteme
von Krankenkasse bis Rente überflüssig machen soll. Der Gedanke
dahinter: mit der Aussicht auf ein Grundeinkommen lässt sich ein
radikaler Abbau der sozialen Sicherung besser vermarkten. Am
Schluss malen uns BECKER & SCHMERGAL ein idyllisches Bild einer
Rentenreform à la Jamaika:
"Die Liberalen verfolgen seit
Jahren ausdrücklich das Ziel, die Regelaltersgrenze flexibler zu
machen. Die Grünen träumen von einer steuerfinanzierten
Mindestabsicherung, die Union unterstützt mehr Hilfe für
Erwerbsgeminderte. Diese Konzepte (...) ließen sich vereinen."
Man darf sicher sein, dass die
Umsetzung nicht die Bedürfnisse der Arbeitnehmerschaft
widerspiegeln wird, sondern die Kostensenkungsinteressen der
Wirtschaft.
SCHORB, Friedrich (2017): Nicht
Verhalten, sondern Verhältnisse ändern.
Arme Menschen sind häufiger
übergewichtig und sterben früher. Grund sind vor allem die sozialen
Verhältnisse,
in:
TAZ v. 14.11.
Während derzeit in Deutschland
über Steuern für Dickmacher geredet wird (vgl. Tagesthema des Kölner
Stadt-Anzeigers), kritisiert Friedrich SCHORB ("Dick, doof und arm")
eine solche neoliberale Anreizpolitik, die an den Lebensverhältnissen
der Armen vorbei geht:
"Man kann darüber streiten, woran
es liegt, dass arme Menschen statistisch gesehen früher sterben.
Daran, dass arme Menschen häufiger dick sind als Wohlhabende liegt es
wohl eher nicht",
meint SCHORB, der sich auf Kate
PICKETT & Richard WILKINSON ("Gleichheit
ist Glück") beruft, die zwischen sozialen Selektionsprozessen
(Krankheit macht arm) und Verursachungsprozessen (Armut macht krank)
unterscheiden. Stigmatisierungsprozesse, die sich gegen Dicke richten,
verschärften diese Problematik noch. Beispielhaft präsentiert SCHORB
den Fall von Gabrielle DEYDIER (keine Angehörige der Unterschicht wie
sie z.B. Paul NOLTE zum Feindbild des neuen Bürgertums stilisierte),
deren Memoiren ("One ne naît grosse", zu deutsch etwa: Man wird nicht
dick geboren) in Frankreich zum Bestseller wurden. Deutschland ist für
SCHORB in Sachen Fat-Acceptance-Bewegung noch ein Entwicklungsland.
Dazu beigetragen hat nicht zuletzt der
aktivierende Sozialstaat, der statt zu fördern, allzu oft nur fordert
und Probleme allein dem individuellen Verhalten zuschreibt.
ÖCHSNER, Thomas (2017): Sieben gute und sieben schlechte Jahre.
Wie geht's der gesetzlichen Rente?
Die Bundesregierung wagt in einem Bericht den Blick in die Zukunft.
Danach wird das Altersgeld um durchschnittlich gut zwei Prozent
steigen. Doch von 2024 an geht es mit den Beiträgen abrupt abwärts,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 22.11.
Thomas ÖCHSNER benutzt die
Erfindung eines Zwischenhochs (der Zusatz "demografisch", der auch
gerne benutzt wird, fehlt jedoch), um die weitere Entwicklung der
Renten zu erklären:
"Dem Bericht zufolge gibt es von
2017 bis 2023 ein Zwischenhoch mit steigenden Renten, einem stabilen
Beitragssatz und stabilem Rentenniveau. Der Rentenexperte Werner
Siepe, der die Zahlen der Regierung analysiert hat, spricht von
»sieben guten Rentenjahren«, weil der Job-Boom viel Geld in die
Rentenkasse spült. 2024 folgt dann ein Übergangsjahr. Danach kommen
eher sieben schlechte Rentenjahre. »Das liegt am Eintritt der
Babyboomer mit den Geburtsjahrgängen 1959 bis 1968 in den Ruhestand.
Die Rentenneuzugänge in diesen Jahren werden deutlich zunehmen, was
zu einem starken Anstieg der Rentenausgaben führen wird«, schreibt
Finanzmathematiker Siepe in seiner Analyse."
Im Rentenversicherungsberichten
2017 und 2016 heißt es zur Bevölkerungsentwicklung:
"Ausgangspunkt für die
Fortschreibung der Rentenausgaben bildet die
Bevölkerungsentwicklung, die der 2017 aktualisierten Version der 13.
koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen
Bundesamtes entspricht. Die Wanderungsannahmen und die Geburtenrate
sind somit an die tatsächliche Entwicklung am aktuellen Rand
angepasst. Die mittlere fernere Lebenserwartung 65-Jähriger beträgt
im Jahr 2030 bei Männern 19,1 Jahre und bei Frauen 22,5 Jahre. Die
zusammengefasste Geburtenziffer wird langfristig bei 1,5 konstant
gehalten. Bezüglich der Außenwanderung wird für die langfristige
Vorausberechnung von einem positiven Wanderungssaldo in Höhe von
200.000 Personen jährlich ausgegangen." (2017, S.11)
"Ausgangspunkt für die
Fortschreibung der Rentenausgaben bildet die
Bevölkerungsentwicklung, die sich an der 13. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes
orientiert, wobei die aktuellen Bevölkerungsdaten zum 31.12.2015
sowie die tatsächlichen Wanderungssalden der letzten Jahre
berücksichtigt wurden. Auch die Veränderung der Lebenserwartung
wurde am aktuellen Rand angepasst. Im Vergleich zu heute wird die
mittlere fernere Lebenserwartung von 65-jährigen Frauen bis zum Jahr
2030 um 1,4 Jahre auf 22,5 Jahre ansteigen. Bei Männern wird ein
Anstieg von 1,3 Jahren auf dann 19,1 Jahre erwartet. Bezüglich der
Fertilität wird von einer zusammengefassten Geburtenziffer in Höhe
von rund 1,4 ausgegangen. Darüber hinaus wird langfristig von einer
jährlichen Nettozuwanderung von 200 000 Personen jährlich
ausgegangen." (2016, S.11)
Die Annahmen unterscheiden sich
lediglich in einer veränderten Geburtenentwicklung (TFR 1,5 statt
1,4), welche keinerlei Auswirkungen auf die Rentenentwicklung der
nächsten Jahre hat. Vergleicht man diese Annahmen mit dem
Rentenversicherungsbericht 2010, dann ergeben sich
erstaunliche Unterschiede bei der Lebenserwartung:
"Die Berechnungen zur
Bevölkerungsentwicklung basieren auf der 12. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes. Die
mittlere fernere Lebenserwartung von 65-jährigen Frauen wird von
heute bis zum Jahr 2030 um gut 2 Jahre auf 22,8 Jahre ansteigen. Bei
Männern wird ebenfalls ein Anstieg von gut 2 Jahren auf dann 19,4
Jahre erwartet. Die zusammengefasste Geburtenziffer bleibt
annahmegemäß langfristig auf dem gegenwärtigen Niveau von rund 1,4.
Darüber hinaus wird eine jährliche Nettozuwanderung unterstellt, die
bis zum Jahr 2020 auf 200 000 Personen jährlich aufwächst." (2010,
S.12)
2010
wurde im Rentenversicherungsbericht im Gegensatz zu 2016 und 2017 von
einer höheren Lebenserwartung ausgegangen. Nimmt man den öffentlichen
Diskurs, dann müsste eigentlich von einer steigenden und nicht von
einer sinkenden Lebenserwartung ausgegangen werden.
Tatsächlich wurde auch die
Lebenserwartung bei Geburt zwischen der 12. und der 13. aktualisierten
Bevölkerungsvorausberechnung von 85,0 (Männer) auf 84,7 Jahre und bei
Frauen von 89,2 auf 88,6 Jahre reduziert. Oder anders formuliert: Es
wird heute von einem geringeren Anstieg der
Lebenserwartung ausgegangen
als noch vor wenigen Jahren prognostiziert wurde. Dies lässt sich auch
anhand einer
Tabelle zur Entwicklung der ferneren Lebenserwartung von 65-Jährigen
in Deutschland ablesen. Zwischen 2005 und 2010 betrug der Anstieg
der Lebenserwartung noch 0,76 Jahre, während es zwischen 2010 und 2015
gerade noch 0,2 Jahre waren. Diese Fakten stehen im Gegensatz zu der
Debatte um die Erhöhung des Renteneintrittsalters, die von den
Neoliberalen - nicht nur in Deutschland - vorangetrieben wird.
Der Begriff
"Babyboomer" findet
sich nirgends im Rentenversicherungsbericht. Steigende Rentnerzahlen
drücken sich jedoch im Äquivalenzrentner aus (Die Ermittlung der
Anzahl der Äquivalenzrentner erfolgt durch Division des
Gesamtrentenvolumens durch eine Regelaltersrente mit 45
Entgeltpunkten). Die nachfolgende Tabelle vergleicht dessen
Entwicklung anhand der Rentenversicherungsberichte (Abkürzung: RV)
2010 bis 2017 für die Jahre 2015 - 2030:
Jahr |
Entwicklung des Äquivalenzrentners 2015 - 2030
(in Tausend; gemäß Übersicht B 18 der Rentenver-
sicherungsberichte) |
RV 2010 |
RV 2014 |
RV 2016 |
RV 2017 |
tatsächliche
Entwicklung |
2015 |
15.097 |
15.420 |
|
|
15.389
|
2016 |
15.183 |
15.494 |
15.481 |
|
|
2017 |
15.284 |
15.592 |
15.572 |
15.532 |
|
2018 |
15.409 |
15.721 |
15.699 |
15.615 |
|
2019 |
15.541 |
15.851 |
15.834 |
15.731 |
|
2020 |
15.674 |
15.979 |
15.984 |
15.869 |
|
2021 |
15.816 |
16.130 |
16.151 |
16.030 |
|
2022 |
15.971 |
16.302 |
16.391 |
16.266 |
|
2023 |
16.134 |
16.483 |
16.642 |
16.520 |
|
2024 |
16.308 |
16.680 |
16.845 |
16.738 |
|
2025 |
|
16.885 |
17.049 |
16.968 |
|
2026 |
|
17.093 |
17.295 |
17.211 |
|
2027 |
|
17.309 |
17.565 |
17.463 |
|
2028 |
|
17.528 |
17.812 |
17.714 |
|
2029 |
|
|
18.076 |
17.980 |
|
2030 |
|
|
18.347 |
18.253 |
|
Der Vergleich zeigt, dass die
Entwicklung der Rentnerzahlen wenig aussagekräftig sind, wenn es um
die Rentenentwicklung geht, sondern auch die Entwicklung der
Rentenhöhe eine wichtige Rolle spielt. Bereits geringe Änderungen bei
den Annahmen zur zukünftigen Entwicklung können zu gravierenden
Änderungen bei der Rentenentwicklung führen - jenseits des
demografischen Wandels.
STALA BW (2017): Baden‑Württemberger sind im Schnitt 43 Jahre alt.
Alterungsprozess der Bevölkerung
wird vor allem in den Großstädten durch Zuwanderung deutlich
abgeschwächt,
in:
Pressemitteilung des Statistischen Landesamt Baden-Württemberg
v. 29.11.
Das Durchschnittsalter der
Bevölkerung in Baden-Württemberg ist von 43,3 im Jahr 2014 auf 43,2
Jahre im Jahr 2015 gesunken, meldet das Statistische Landesamt.
DIW-Wochenbericht-Thema:
Gesetzliche Rente |
BUSLEI, Hermann (2017): Erhöhung der Regelaltersgrenze über 67
Jahre hinaus trägt spürbar zur Konsolidierung der
Rentenfinanzen und Sicherung der Alterseinkommen bei,
in:
DIW-Wochenbericht
Nr.48 v. 29.11.
Das DIW ist unter Marcel
FRATZSCHER noch weiter nach rechts gerückt und liegt nun auf
einer stramm neoliberalen Linie - nicht nur was die
gesetzliche Rentenversicherung anbelangt.
Bei Hermann BUSLEI wird
nicht etwa die
aktualisierte Variante der 13. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung zugrunde gelegt, sondern
die völlig veralteten Varianten aus dem Jahr 2015. Die
Geburtenrate wird konstant bei 1,4 Kinder pro Frau gehalten,
obwohl sie steigt und derzeit bereits bei 1,5 Kinder pro
Frau liegt. Der Anteil jüngerer Arbeitskräfte wird damit
unterschätzt, insbesondere für die Jahre nach 2040. In den
Ausführungen wird lediglich der Altenquotient 65+ und nicht
der Altenquotient 67+ nachgewiesen - offenbar, um das
Problem zusätzlich zu dramatisieren (vgl. Tabelle 1), obwohl
das Simulationsmodell selber mit Annahmen zur
Erwerbsbeteiligung operiert, die gar nichts mit dem
präsentierten Altenquotient zu tun hat (siehe Kasten).
Die Annahmen grenzen
damit an dreiste Demagogie. Das Ziel bestimmt die Annahmen!
Der Autor kennt zwar die aktualisierte Variante (siehe
Fn12), hält aber die alten Varianten für seine demagogischen
Zwecke geeigneter.
Es werden dann
Kausalschlüsse gezogen, wonach die Erhöhung der
Regelaltersgrenze zu höherer Beschäftigung führt, was nichts
als ein Zirkelschluss ist. Dass zwischen der
Beschäftigungsentwicklung und der Regelaltersgrenze
keinerlei zwingender Kausalzusammenhang besteht, das belegen
die langen Jahrzehnte vor der Einführung der Rente mit 67,
in denen niedrigere und höhere Beschäftigungsniveaus
bestanden - trotz gleichbleibend niedriger
Regelaltersgrenze.
Auch der Zusammenhang
zwischen Regelaltersgrenze und den Alterseinkommen ist nicht
so eng wie die Studie unterstellt, denn entscheidend ist die
Lohnentwicklung, die sich in den letzten Jahren immer mehr
von der Beschäftigungsentwicklung abgekoppelt hat.
Fazit: Die Studie belegt
nicht, was sie zu belegen beansprucht, sondern aufgrund der
Annahmen und den berücksichtigten Faktoren, kommt genau das
erwünschte Ergebnis zustande. Infolgedessen ist die
Literatur, auf die sich der Autor bezieht, aufschlussreicher
für die Interessengeleitetheit der Studie als die dürftige,
pseudowissenschaftliche "Beweisführung", die überwiegend auf
Zirkelschlüssen beruht.
BÄCKER, Gerhard (2017): Entwicklung des
Altersübergangs: Immer mehr Ältere wechseln aus einer
versicherungspflichtigen Beschäftigung in die Rente,
in:
sozialpolitik-aktuell.de
v. 04.12.
OECD (2017): Pensions reforms have
slowed in OECD countries but need to continue.
Further reforms are needed across
OECD countries to mitigate the impact of population ageing, increasing
inequality among the elderly and the changing nature of work,
according to a new OECD report,
in:
Pressemitteilung der OECD v. 05.12.
Die neoliberale
Lobbyorganisation OECD hat den jährlichen Bericht
Pensions at a Glance 2017 veröffentlicht. Frank SPECHT
nutzt auf handelsblatt.de die Publikation, um der Politik
die neoliberalen Leviten zu lesen:
Woran es in der Rentenpolitik hapert.
"»Wir wollen das heutige
Rentenniveau sichern und durch einen neuen Generationenvertrag
die Beiträge stabilisieren«, heißt es in den Leitlinien, die der
Bundesvorstand am Montag beschlossen hat und mit denen die
Partei in Sondierungsgespräche mit der Union gehen will.
Außerdem soll, wer ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und
Rentenbeiträge gezahlt hat, im Alter nicht auf staatliche
Unterstützung angewiesen sein",
fasst SPECHT die SPD-Position
zusammen. Das neoliberale Kernprojekt - die Erhöhung der
Erwerbstätigkeit im Rentenalter streicht SPECHT besonders hervor:
"Positiv hebt die
Industrieländerorganisation hervor, dass hierzulande die Quote
der erwerbstätigen 55- bis 64-Jährigen seit der Jahrtausendwende
um gut 30 Prozentpunkte gestiegen ist. Damit ist Deutschland
absoluter Spitzenreiter. Bei der Beschäftigungsquote der 65- bis
69-Jährigen liegt die Bundesrepublik allerdings leicht unter dem
OECD-Durchschnitt."
Das ist für Neoliberale aber
nicht ausreichend, denen die Rente mit 63 genauso ein Dorn im Auge
ist wie die zu niedrigen Anreize fürs Weiterarbeiten. Die
Verschiebung des neoliberalen Frontverlaufs in die richtige
Richtung in Europa rekapituliert SPECHT folgendermaßen:
"Insgesamt reagierten die
Industriestaaten in den zurückliegenden zwei Jahren sehr
unterschiedlich auf die demografische Entwicklung. So haben
Finnland, Japan und Spanien Nachhaltigkeitsfaktoren eingeführt,
wie es sie auch hierzulande gibt. Sie koppeln Rentenanpassungen
an die Bevölkerungsentwicklung. Frankreich und Dänemark haben
das Renteneintrittsalter an die durchschnittliche
Lebenserwartung geknüpft. Im OECD-Durchschnitt wird das
Rentenalter für Männer bis 2060 um 1,5 Jahre und für Frauen um
2,1 Jahre steigen. Dänemark, Italien und die Niederlande haben
schon heute ein Renteneintrittsalter von mehr als 68 Jahren."
Monika QUEISSERs Steckenpferd
ist die Individualisierung der Alterssicherung. Aus dieser Sicht
wird die Benachteiligung der Frauen im deutschen Rentensystem
angeprangert (Infos auf der deutschen OECD-Website finden sich
hier).
Die Absurdität der neoliberalen
Sicht, zeigt sich im Ranking zur finanziellen Nachhaltigkeit der
Alterssicherung. Dort wird uns die Verhältnis der Erwerbstätigen
zu den Rentnern für das Jahr 2075 präsentiert. Korea steht dort
auf Platz 1 vor Portugal und Japan. Man kann sich über diese Art
von Kaffeesatzleserei eigentlich nur wundern.
SCHWENN,
Kerstin
(2017):
CDU-Wirtschaftsrat: "Wir müssen
länger arbeiten".
Die Lebenserwartung steigt, die
Rentenausgaben auch. Das zwingt die Politik zur Reformdebatte,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.12.
Die Deutsche Rentenversicherung
(DRV) hat Daten zur Entwicklung der Rentenbezugsdauer bis 2016
vorgelegt. Die Neoliberalen leiten daraus gewagte Schlüsse ab.
Entgegen der Suggestion einer
rapide steigenden Lebenserwartung, geht der neue
Rentenversicherungsbericht 2017 von einer geringeren
Zunahme der Lebenserwartung aus.
Entgegen der
Meldung der DRV ist die Rentenbezugsdauer 2016 genauso lang
wie 2015, nämlich 19,6 Jahre (vgl. Rentenversicherung in
Zeitreihen, Oktober 2017, S.157). Die Rentenbezugsdauer von Frauen
ist um 0,1 Jahre gesunken, während sie bei den Männern um die
gleiche Zahl zugenommen hat.
Die FAZ versucht uns
deshalb mit einer Grafik zu verdummen, die durch die
Skaleneinteilung einen dramatischen Anstieg der Rentenbezugsdauer
in den letzten Jahren suggeriert, obwohl das genaue Gegenteil der
Fall ist.
Von 2012 bis 2016 ist die
Rentenbezugsdauer lediglich um 0,6 Jahre gestiegen. Zuvor ist sie
im gleichen Zeitraum (2008 bis 2012) um 1 Jahr gestiegen. Aufgrund
der Rente mit 67 ist davon auszugehen, dass sich die
Rentenbezugsdauer keineswegs parallel zur Entwicklung der
Lebenserwartung entwickelt, sondern stärker stagniert oder sogar
rückläufig sein wird.
ÖCHSNER,
Thomas (2017):
Ein hartes Stück Arbeit.
Die Deutschen leben länger, die
Rentenversicherung muss länger zahlen. Noch spült der Job-Boom Geld in
die Kassen, aber damit könnte bald Schluss sein,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 08.12.
Thomas ÖCHSNER beschwört
"dramatische Konsequenzen", indem er suggeriert, dass die
Entwicklung der Vergangenheit auch in der Zukunft so weitergeht. Das
jedoch ist falsch wie die Zahlen
weiter oben belegen. Dass eine breite Phalanx von Neoliberalen
die Kopplung an die Lebenserwartung befürwortet und eine
DIW-Berechnung, die veraltete Zahlen zur Entwicklung der
Lebenserwartung instrumentalisiert, ist wenig verwunderlich. Nur mit
der Realität hat dies nichts zu tun.
Auch die SZ setzt Grafiken
als Suggestionsmittel ein. So präsentiert z.B. ein Schaubild nicht
etwa die Entwicklung der ferneren Lebenserwartung von 65-Jährigen
oder 67-Jährigen, sondern die Lebenserwartung von Geburt an, die für
die Rentenbezugsdauer gar nicht relevant ist. Die Entwicklung der
Rentenbezugsdauer wird durch unterschiedliche Zeiträume verzerrt.
Eine Gegenüberstellung der Entwicklung der ferneren Lebenserwartung
und der Rentenbezugsdauer (vgl. Rentenversicherung in Zeitreihen
10/2017) wird vermieden, um die Differenzen zu verdecken. Aus der
folgenden Tabelle wird ersichtlich, dass der Zusammenhang zwischen
beiden Faktoren keineswegs zwingend ist:
Tabelle: Vergleich der Entwicklung der ferneren
Lebenserwartung 65-Jähriger
(in Jahren) mit der Rentenbezugsdauer in Deutschland |
Jahr |
Männer |
Frauen |
Lebenserwartung
(in Jahren) |
Rentenbezugsdauer
(in Jahren) |
Lebenserwartung
(in Jahren) |
Rentenbezugsdauer
(in Jahren) |
1995 |
14,69 |
13,6 |
18,55 |
18,2 |
2000 |
15,72 |
k.A. |
19,50 |
k. A. |
2005 |
16,71 |
14,7 |
20,22 |
19,8 |
2010 |
17,47 |
16,2 |
20,69 |
20,9 |
2015 |
17,67 |
17,5 |
20,84 |
21,7 |
|
Der Vergleich zeigt, dass die
Rentenbezugsdauer von Frauen
oberhalb der durchschnittlichen ferneren Lebenserwartung der
65-Jährigen liegt, während es bei den Männern umgekehrt ist, wobei
die Männer in den letzten Jahren aufgeholt haben.
Zwischen 2010 und 2015 ist die
Lebenserwartung der Männer nur um 0,2 Jahre gestiegen. Dagegen ist
die Rentenbezugsdauer im gleichen Zeitraum um 1,3 Jahre gestiegen,
d.h. um mehr als das 6fache der Lebenserwartung.
Fazit: Der Zusammenhang zwischen
Lebenserwartung und Rentenbezugsdauer ist wesentlich geringer als es
die neoliberale Debatte um die Kopplung des Renteneintrittsalters an
die Lebenserwartung vermuten lässt. Es stellt sich also die Frage,
warum dann diese Debatte in dieser Form überhaupt geführt wird und
welche Interessen tatsächlich dahinter stehen.
BEISE, Marc
(2017): Die alten Deutschen.
Kommentar: Bei allen Problemen: In
Wahrheit werden doch alle jünger,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 08.12.
"Alle zehn Jahre steigt die
statistische Lebenserwartung der Deutschen um zweieinhalb Jahre.
Jedes zweite heute geborene Baby kann damit rechnen, 100 Jahre
alt zu werden. Weil gleichzeitig viel zu wenig Kinder geboren
werden, verändert sich die Statik der Gesellschaft. 2035 wird es
doppelt so viele 60-jährige geben wie unter 20-jährige.
Deutschland wird dann die älteste Bevölkerung der Welt haben.
So wird es kommen",
behauptet Marc BEISE. Das aber
glaubt noch nicht einmal das Statistische Bundesamt, das die
Treffsicherheit inzwischen aus dem Kriterienkatalog für
Bevölkerungsvorausberechnungen gestrichen hat und stattdessen nur
noch von "politischen Signalen" spricht.
BEISE argumentiert jedoch mit
der Lebenserwartung von Geburt an, die für die Rentenversicherung
im Jahr 2035 irrelevant ist. Ausschlaggebend wäre dann die fernere
Lebenserwartung der 67 Jährigen.
Diese
aber stagniert. Nach der
aktualisierten 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung
(Variante 2A) ergibt sich folgende Entwicklung der von BEISE
beklagten Relation von Jungen und Alten:
Altersgruppen |
2015 |
2020 |
2030 |
2040 |
unter
20-Jährige |
18,3 % |
18,1 % |
18,3 % |
17,5 % |
60-Jährige und Ältere |
27,4 % |
29,0 % |
33,8 % |
34,8 % |
67-Jährige und Ältere |
18,7 % |
19,5 % |
23,2 % |
26,6 % |
Im Jahr 2030 wird es kaum mehr
Rentner (23,2 %) als Junge (18,3 %) geben, wenn das
Renteneintrittsalter bei 67 Jahren liegen sollte. Dabei ist noch
nicht einmal der jetzige Geburtenanstieg im ganzen Ausmaß
berücksichtigt, denn auch die Variante 2 B bleibt weit hinter der
tatsächlichen Geburtenzahl zurück. Der Rückgang der unter
20-Jährigen könnte also durchaus noch geringer sein.
RAU, Roland (2017): Bessere Prognosen
für die Lebenserwartung.
Ungleichheiten in der Lebensspanne
sollten beachtet wer den,
in:
Demografische Forschung aus Erster Hand, Nr.4
v. 19.12.
Beitrag zur Studie
Lifespan Disparity as an Additional Indicator for Evaluating
Mortality Forecasts von Christina BOHK-EWALD, Marcus EBELING
& Roland RAU in der Zeitschrift Demography vom
05.07.2017. In dem Beitrag werden drei Prognosemodelle zur
Ermittlung der durchschnittlichen Lebenserwartung anhand der
Entwicklungen in Italien, Dänemark und Japan verglichen. Es zeigt
sich dabei, dass die beiden klassischen Modelle die Entwicklung der
Ungleichheit in den Ländern weniger genau berücksichtigen.
In der Rentenpolitik plädieren
die Mainstream-Ökonomen für eine Kopplung des Renteneintrittsalters
an die durchschnittliche Lebenserwartung. Von daher hat die Frage
der Ungleichheit bei der Entwicklung der Lebenserwartung durchaus
Auswirkungen. Je genauer ermittelt werden kann, wer von solchen
politischen Maßnahmen profitiert oder verliert, desto eher lässt
sich politischer Widerstand gegen eine solche Politik organisieren.
FRÜNDT, Steffen (2017):
Projekt Rente.
Wer ohne Konzept in den Ruhestand
geht, kann böse Überraschungen erleben,
in:
Welt v. 22.12.
Gut betuchte Workaholics sind
die Klientel von Ruhestandscoachs (kann sich jeder nennen, weil
keine geschützte Berufsbezeichnung!), die ihr Geld mit banalen
Tipps verdienen. Um ihre Klientel zu rekrutieren, schreiben
diese dann Bücher wie Auf zu neuen Ufern - Gut vorbereitet in
den Ruhestand.
Um diese Klientel geht es
auch, wenn uns die Rente von neoliberalen Verfechtern eines
höheren Renteneintrittsalters - oder gar der Abschaffung des
Ruhestands - als kritisches Lebensereignis dargestellt wird.
BLECH, Jörg
(2017): Das Schicksal in unserer Hand.
Medizin: Die Methusalem-Formel ist
gefunden: Wer sich genug bewegt und ausgewogen ernährt, lebt bis zu 17
Jahre länger. Die Macht der Gene hingegen wurde weit überschätzt. Und
es ist leichter als gedacht, sich gesundheitsbewusst zu verhalten,
in: Spiegel
Nr.1
v. 30.12.
Die Lebenserwartung als Mentalitätsproblem? So jedenfalls will es die
Ideologie des Neoliberalismus. Die Realität sagt anderes: Die
Lebenserwartung steigt mit dem Einkommensniveau. Wer arm ist stirbt
früher. Armut auf ein Mentalitätsproblem zurückzuführen, das kommt auf
alle Fälle den neuen Mittelschichten in ihrem Kampf gegen den
Transferstaat entgegen.
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