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Vorbemerkung
Die
Entwicklung der Lebenserwartung gilt Demografen und Ökonomen
neben der
Entwicklung der Geburten in Deutschland als das
gesellschaftliche Hauptproblem des demografischen Wandels.
Insbesondere die Rentenversicherung und die Krankenversicherung
sowie die Pflegeversicherung (Stichworte: Pflegebedarf bzw.
Pflegenotstand) erscheint in einer
Gesellschaft der Langlebigen
als bedroht. Spätestens seit Ende der 1970er Jahre wird das
Rentensystem aufgrund der steigenden Altenlast immer wieder vor
dem Kollaps gesehen. Leistungseinschnitte oder
Privatisierungen gelten Neoliberalen bzw. Nationalkonservativen
als einzige Möglichkeit, um die Sozialversicherungssysteme zu
retten. Dabei bleiben die zentralen Fragen außen vor: Was
bedeutet der Anstieg der Lebenserwartung überhaupt für unsere
Gesellschaft? Nicht demografische Aspekte, sondern
nicht-demografische Aspekte wie der medizinische und
technologische Fortschritt, die Gesundheit jüngerer und älterer
Menschen, infrastrukturelle und arbeitsmarktstrukturelle
Veränderungen sind in der hier vertretenen Sicht bedeutender.
Die Zukunft
Deutschlands könnte also ganz anders aussehen als dies die
üblichen Prognosen behaupten. Diese Bibliografie widmet sich
deshalb in erster Linie jenen Fragen, die gewöhnlich eher
vernachlässigt werden, weil sie nicht von mächtigen
Interessensgruppen vorangetrieben werden.
Kommentierte Bibliografie (Teil 3: 2010 -
2014)
2010
RÖTZER, Florian (2010): Wir leben länger, weil die Folgen des Alterns
durch Medizin und Wohlstand verzögert werden.
Seit 170 Jahren
ist die Lebenserwartung in einigen Ländern um jeweils 2,5 Jahre pro
Jahrzehnt angestiegen – aber wie geht es weiter?,
in: Telepolis v. 25.03.
BRACHAT-SCHWARZ, Werner (2010):
Die Lebenserwartung der baden-württembergischen Bevölkerung.
Aktuelle Trends und Perspektiven,
in:
Statistisches Monatsheft
Baden-Württemberg, Heft 7
"Ausgeprägte Unterschiede in der
Lebenserwartung gibt es nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern
auch zwischen den Teilräumen des Landes. Innerhalb Baden-Württembergs
weist die Bevölkerung im Landkreis Tübingen sowohl bei den Frauen als
auch bei den Männern die höchste Lebenserwartung auf; mit 84,3 Jahren
bei den Frauen und 79,7 Jahren bei den Männern liegt sie immerhin
jeweils um ein Jahr höher als landesweit. Am zweitlängsten leben – im
Schnitt – die Frauen im Enzkreis und die Männer im Landkreis
Breisgau-Hochschwarzwald (...). Am niedrigsten ist die
durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen in Mannheim und der
Männer im Landkreis Schwäbisch Hall",
berichtet Werner BRACHAT-SCHWARZ
über die regionalen Unterschiede bei der Lebenserwartung von Männern
und Frauen in Baden-Württemberg gemäß der Sterbetafel 2006/2008.
Nicolas EBERSTADT & Hans GROTH (2010): Demografischer Stress in der
entwickelten Welt.
Die Folgen der
Alterung von Gesellschaften für die Staatsfinanzen werden oftmals
unterschätzt,
in: Neue Zürcher Zeitung v. 06.09.
Im Jahr 2004 erregte Frank
SCHIRRMACHER Deutschland mit seinem Bestseller
Das
Methusalem-Komplott
Aufsehen. Die Welt werde aufgrund der Alterung der westlichen
Gesellschaften in einen Ausnahmezustand versetzt.
Ein neues Buch der Zeit-Redakteure
Manuel J. HARTUNG & Cosima SCHMITT mit dem programmatischen Titel
Die netten Jahre sind
vorbei beschwört
aufgrund der so genannten
Babyboomer-Generation einen
Generationenkrieg. Was ist dran an dieser Behauptung? Im neuen
Herbstthema wird auf dieses Thema eingegangen, denn offensichtlich hat
SCHIRRMACHER die Probleme der USA auf Deutschland projiziert,
obwohl unsere Gesellschaft viel geringere Probleme mit den Babyboomern
bekommen wird.
Die Ökonomen EBERSTADT & GROTH
zeigen in dem NZZ-Aritkel aufgrund einer Prognose der United
Nations Population Division (UNPD) das finanzielle Ausmaß, in dem
die OECD-Länder durch die
Alterung im Jahr 2030
betroffen sein werden (Staatsverschuldung gemessen am
Bruttoinlandsprodukt).
Im Artikel werden die Probleme der
Länder Deutschland, Italien Frankreich, Japan und die USA näher
betrachtet.
Weder Frankreich (300
%), das mit einem tollen Geburtenniveau trumpfen kann
(hier wird, wie auch auf dieser Website betont, kritisiert, dass
unklar ist, wie sich die Geburtenraten ethnisch zusammensetzen), noch
die ebenfalls mit einem Babyboom
gesegnete USA (300 %), erst
recht nicht Japan (600
%), dessen Alterungssprobleme seit langem bekannt sind,
sondern Deutschland (200 %) und
Italien
(200 %) stehen relativ gut da.
Da es den beiden Ökonomen um eine
Einführung eines demografischen Stresstests geht, ist die Lage
natürlich in allen Ländern ernst. Auch wenn - entgegen den
Behauptungen der Wissenschaftler - solche Prognosen mit großen
Problemen behaftet sind, so lassen sich doch Trends erkennen. Die
genannten Trends stimmen im Großen und Ganzen mit den auf dieser
Website seit Jahren betonten Annahmen zu den tatsächlichen Problemen
verschiedener Länder überein.
DESTATIS (2010):
Lebenserwartung in Deutschland erreicht höchsten Stand,
in:
Pressemitteilung Statistisches Bundesamt v. 04.11.
Die "Lebenserwartung in Deutschland (ist) weiter angestiegen. Sie
beträgt nach der Sterbetafel 2007/2009 für neugeborene Jungen 77 Jahre
und 4 Monate und für neugeborene Mädchen 82 Jahre und 6 Monate. Dies
ist der höchste Stand seit Berechnung der ersten Sterbetafel 1871/1881
für das Deutsche Reich. Im Vergleich zur vorherigen Sterbetafel
2006/2008 stieg die Lebenserwartung für neugeborene Jungen um zwei
Monate und für Mädchen um einen Monat.
Auch für ältere Menschen hat die Lebenserwartung um einen weiteren
Monat zugenommen. Nach der Sterbetafel 2007/2009 beläuft sich die noch
verbleibende (fernere) Lebenserwartung von 60-jährigen Männern auf
weitere 21 Jahre. 60-jährige Frauen können statistisch gesehen mit
weiteren 24 Jahren und 10 Monaten rechnen.
Aus der Sterbetafel 2007/2009 lässt sich darüber hinaus ablesen, dass
nach den aktuellen Sterblichkeitsverhältnissen statistisch gesehen
jeder zweite Mann in Deutschland wenigstens 80 Jahre alt werden und
jede zweite Frau sogar ihren 85. Geburtstag erleben kann. Zumindest
das 60. Lebensjahr erreichen 89,2% der Männer und 94,1% der Frauen.
Im Deutschen Reich betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines
neugeborenen Jungen in der Berichtsperiode 1871/1881 nur 35 Jahre und
7 Monate, ein neugeborenes Mädchen konnte mit einer durchschnittlichen
Lebenserwartung von 38 Jahren und 5 Monaten rechnen. Demnach hat sich
die Lebenserwartung der Neugeborenen in den vergangenen etwa 130
Jahren mehr als verdoppelt. Dazu trug zunächst vor allem der Rückgang
der Kindersterblichkeit bei. In den letzten Jahrzehnten ist auch die
Sterblichkeit Älterer stark gesunken.
Die aktuellen Periodensterbetafeln der amtlichen Statistik basieren
auf den Daten über die Gestorbenen und die Durchschnittsbevölkerung
der letzten drei Jahre. Es handelt sich hierbei um eine Momentaufnahme
der Sterblichkeitsverhältnisse der gesamten Bevölkerung für diesen
Zeitraum. Die fernere Lebenserwartung gibt daher an, wie viele weitere
Lebensjahre Menschen eines bestimmten Alters nach den in der aktuellen
Berichtsperiode - zum Beispiel 2007/2009 - geltenden
Sterblichkeitsverhältnissen im Durchschnitt noch leben könnten. Eine
Abschätzung der Entwicklung der Lebenserwartung in der Zukunft ist
damit also nicht eingeschlossen", heißt es in der Pressemitteilung
PLICKERT, Philip
(2010): Frührente verkürzt das Leben.
Der
Sonntagsökonom: Männer, die vorzeitig die Arbeit aufgeben, verfallen
geistig und körperlich. Frauen nicht,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 21.11.
Philip PLICKERT setzt
den Gewerkschaften mit ihrem Dachdecker den toten Frührentner
entgegen. Das Diskussionspapier
Fatal
Attraction? Access to Early Retirement and Mortality von
Andreas KUHN, Jean-Philippe WUELLRICH und Josef ZWEIMÜLLER will uns
einreden, dass die Frührente ungesund sei. Dabei hat das erhöhte
Sterblichkeitsrisiko nichts mit der Erwerbsarbeit zu tun, sondern
mit den Folgen des Lebensstils im Ruhestand:
"Als Gründe für die höhere
Sterblichkeit und die vermehrten Herz- und Kreislauf-Probleme
sehen die Forscher vor allem einen schlechteren Lebenswandel der
Männer. Sie bewegen sich zu wenig, rauchen und trinken mehr als in
der Arbeitsphase. Frauen hingegen haben sich offenbar besser unter
Kontrolle."
PLICKERT setzt zudem Frührente
mit Arbeitslosigkeit gleich, was nur für jene zutrifft, die dazu
mehr oder weniger gezwungen werden und in einem sozialen Umfeld
leben, das die Frührente nicht akzeptiert. Daraus die Notwendigkeit
des längeren Arbeitens abzuleiten wie das Neoliberale tun, ist eine
einseitige Sichtweise.
HANK, Rainer (2010): Bloß keine Rente mit 67.
Soll doch jeder
arbeiten, solange er will. Es braucht nur eine Regel: Wer länger
schuftet, erhält mehr Rente,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 14.11.
Rainer HANK geht die
Rente mit 67 nicht weit genug, sondern er will das
Renteneintrittsalter mittels Abschlägen und Zuschlägen steuern.
Arbeiten über 67 Jahre hinaus solle lukrativer werden. Im Vorfeld
des Berichts zur Lage älterer Arbeitnehmer, den Ursula von der LEYEN
am Mittwoch vorlegt, erläutert uns HANK, dass die
Beschäftigungssituation der Rente mit 67 nicht im Wege steht:
"Die Beschäftigung Älterer hat
sich in Deutschland überdurchschnittlich verbessert. Seit 2003 ist
die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 65 Jahren um ein
Fünftel gestiegen auf 5,5 Millionen Arbeitnehmer. Die
Erwerbstätigenquote dieser Altersgruppe hat sich in der
vergangenen Dekade fast verdoppelt. Zumeist sind das
sozialversicherungspflichtige, also ordentliche Jobs."
Eine Meldung der SZ zur
gestiegenen Arbeitslosigkeit lässt HANK nicht gelten, sondern sei
lediglich ein Taschenspielertrick:
"Eine Gruppe von
Vorruheständlern, die früher nicht als arbeitslos zählte, wird
seit 2008 registriert. Statistisch ist das auffällig. Für die
Rente mit 67 lässt sich daraus gar nichts ableiten."
KAUBE, Jürgen & Reinhard MÜLLER (2010):
Krise! Welche Krise?
Provozierendes
über Zustand und Zukunft des Sozialstaats in Deutschland,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.11.
In der ansonsten
sozialstaatskritischen FAZ wird plötzlich die
Anpassungsfähigkeit des Sozialstaats bejubelt und der
demografische Wandel als "harmlos" eingeschätzt.
Da dürfte sich der Hysteriker Frank SCHIRRMACHER ziemlich auf seinen
Schlips getreten fühlen. Die Einschätzung des demografischen Wandels
als harmlos kommt nicht etwa von dem gewerkschaftsnahen Statistiker
Gerd BOSBACH,
der dies bereits seit einigen Jahren vertritt, sondern von
Axel BÖRSCH-SUPAN, der von
der FAZ als Nachfolger von Bert RÜRUP ins Gespräch gebracht
wurde, dann aber nicht zum
Zuge kam.
OBERHUBER, Nadine (2010): Jungs, es wird teurer.
Männer leben im
Durchschnitt kürzer als Frauen und bezahlen für Versicherungen daher
weniger. Das könnte sich bald ändern,
in: Die ZEIT Nr.52 v. 22.12.
"Demnächst entscheidet der
Europäische Gerichtshof darüber, ob es rechtens ist, dass Männer
und Frauen unterschiedlich viel für ihre Policen bezahlen.
Besonders bei Kranken-, Kapitallebens- und privaten
Rentenversicherungen macht der kleine Unterschied ein paar
Zehntausend, manchmal sogar Hunderttausend Euro aus, die die Frau
mehr bezahlen muss. Sie lebe länger, sie verursache somit höhere
Kosten oder kassiere länger Rentenzahlungen, so die Begründung
bisher. Darum müsse sie mehr einzahlen oder sich mit geringeren
Auszahlungen zufrieden geben. Das lange Leben der Frau ist laut
Versicherungsbranche ein Naturgesetz, damit rechnet sie.
Belege dafür gibt es nicht. Frauen haben nicht die besseren Gene
oder biologische Vorteile. Vielmehr könnten beide Geschlechter
gleich alt werden, wenn die Männer nur einen gesünderen Lebensstil
pflegten",
erzählt uns Nadine OBERHUBER, die
uns weiter berichtet, dass der Europäische Gerichtshof in einem
Urteil aus dem Jahr 2004 für deutsche Versicherer eine Ausnahme
vorsah und damit Unisex-Tarife in Deutschland verhindert wurden.
Heinz ROTHGANG, Sibylle RAASCH, Marc LUY, Paola Di GIULIO und Ute
SACKSOFSKY werden als Kritiker dieser Ausnahmeregelung zitiert.
OBERHUBER nennt
versicherungsmathematische Begründungen als Säbelrasseln und weist
darauf hin, dass Unisextarife inzwischen erfolgreich bei der
Riester-Rente eingeführt wurden:
"In anderen Ländern gibt es
längst Unisextarife, auch bei der Riester-Rente wurde sie
zwischenzeitlich eingeführt, ohne dass dies die Anbieter in
Bedrängnis gebracht hätte. Im Gegenteil: Männer riestern fleißig
weiter. Auch wenn sie, wie die Universität Mannheim herausfand, im
Schnitt sieben Prozent mehr zahlen als zuvor, während Frauen ein
Prozent sparen."
SEIBT, Gustav (2010): Dem Bewahren, Schönen, Guten.
Erst ging es nur um
Nachhaltigkeit und Manufactum-Besteck. Dann war plötzlich die Rede von
Schulreformen und Angst vor Überfremdung. Was bisher aussah wie
Lifestyle, hat in Wirklichkeit den Boden bereitet für einen neuen
Konservatismus. Wir wollen es nur nicht wahrhaben,
in: SZ-Magazin Nr.47 v. 26.11.
"Seit einigen Jahren führen wir
Demografiedebatten, Migrantendebatten und Sozialstaatsdebatten.
Diese Themen bündelt das erfolgreichste politische Buch, das in
der Geschichte der Bundesrepublik je erschien – Thilo Sarrazins
Weckruf
Deutschland schafft sich ab. Die um
ihre breite Mitte kreisende Politik wurde kalt erwischt. Noch ist
daraus keine politische Bewegung geworden, aber Sarrazins
Forderungen werden die Parteien der Mitte so verändern, wie es auf
der anderen Seite der kurzfristige Erfolg der Linkspartei auch
tat",
meint Gustav SEIBT, Jahrgang
1959.
"Um 2002 trat in unser
Bewusstsein, dass wir eine alternde Gesellschaft sind",
schreibt SEIBT, nur weil die SZ damals
das Thema Demografischer Wandel verpennt hatte und dann stramm mit
Niedergangsszenarien im Agenda-Mainstream
mitmarschierte. Dummerweise
wurde gerade in der FAZ der Untergang des Abendlandes
abgeblasen. Und
Frank SCHIRRMACHERs Methusalem-Komplett
fällt mangels Substanz leider aus. Nach
der Volkszählung dürfte die deutsche Demografiewelt sowieso völlig
anders aussehen. Die
Debatte um den Geburtenrückgang könnte durch einen
aktuellen Artikel von Olga PÖTZSCH in der
Oktoberausgabe der ehemaligen Zeitschrift für Bevölkerungspolitik
(neu: Comparative Population Studies) neuen Zündstoff erhalten,
denn die in den 1950er Jahren geborenen Frauenjahrgänge haben - im
Gegensatz zur hysterisch geführten Debatte des letzten Jahrzehntes -
nur eine minimal höhere Geburtenrate als die Mitte der 1960er Jahre
Geborenen erzielt:
Der prominente
westdeutsche Frauenjahrgang 1965
hat eine
Geburtenrate von ca. 1,5 erzielt, während die 1955 Geborenen
gerade einmal auf 1,6 kommen (siehe Tabelle 3, S.183). Es gibt in
Deutschland bislang keinen einzigen Frauenjahrgang, der am Ende
seiner reproduktiven Phase eine Geburtenrate von 1,3 erzielt hätte.
Jene Zahl also, auf die sich die hysterische deutsche Debatte
bezieht.
Am Ende könnten unsere Eliten à
la Gustav SEIBT (Jahrgang 1959) und Frank SCHIRRMACHER (ebenfalls
Jahrgang 1959) ganz schön alt aussehen mit ihren Prognosen. Denn
womit ließe sich eine Debatte um Generationengerechtigkeit
rechtfertigen, wenn sich die Kontrahenten in ihrem Geburtenertrag
nur unwesentlich unterscheiden? Wer selber im Glashaus sitzt, sollte
bekanntlich keine Steine werfen.
STEINAECKER, Thomas von (2010): Wer glaubt denn an die Rente mit 67?
Ich kann schon nicht mehr schlafen, wenn ich an mein Alter denke.
Die Politik hat noch vierunddreißig Jahre, um eine Lösung für mich zu
finden,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14.12.
Im hysterischen SCHIRRMACHER-Feuilleton ist
wieder einmal ein jung vergreister Endzeit-Visionär unterwegs.
Da wird die Bevölkerungspyramide glorifiziert,
also das Wegsterben der Kinder. Da
wird der Pilz beschworen, den bereits die nächste Volkszählung
zurückstutzen könnte. Die derzeitige Altersstruktur ähnelt dagegen
eher einer bauchigen Vase.
Endzeitvisionäre in den 1930er Jahren hatten
den Pilz für Deutschland bereits für das Jahr 1975 vorgesehen.
Vorausberechnungen können
innerhalb von weniger als 10 Jahren kippen, wie Dirk KONIETZKA &
Michaela KREYENFELD in ihrem aufschlussreichen Aufsatz
Zwischen soziologischen Makrotheorien und
demographischen Vorausberechnungen - Möglichkeiten und Grenzen des
Blicks in die Zukunft der Familien- und Geburtenentwicklung
am Beispiel von Vorausberechnungen aus den 1950er und 1960er Jahren
aufzeigen.
Viele haben es heutzutage
verdrängt, dass man in den 1950er Jahren bereits das Aussterben der
Deutschen befürchtete, während man den Baby-Boom in Deutschland als
solchen erst erkannte als er bereits fast vorbei war, nur soviel zum
Problem der Zeitdiagnostik.
SCHERBOV, Sergei & Warren SANDERSON (2010): Negative Folgen der
Alterung bislang überbewertet.
Neue Maßzahlen für aktuelle Bevölkerungsentwicklung,
in: Demografische Forschung aus erster Hand, Heft 4, 20.12.
Der Untergang des Abendlandes,
den die Hysteriker von FAZ
und
SZ ständig neu beschwören, muss abgesagt werden. SCHERBOV &
SANDERSON kritisieren den
bislang gängigen Maßstab des Altersquotienten, der das Verhältnis
der Erwerbsfähigen zu den Rentnern ausdrücken soll. Diese
Maßzahl, die nicht einmal die letzten Jahrzehnte angemessen
beschrieben hat, angesichts der
massenhaften Zunahme Postadoleszenter 15 - 30 Jähriger
(Auszubildende, Studenten und Praktikanten) und der gleichzeitigen
Frühverrentungspraxis der Unternehmen.
Verniedlicht dieser
Altersquotient sozusagen die Belastungen der Vergangenheit für die
Sozialsysteme, so behauptet er für die Zukunft, dass diese Belastung
konstant bleibt, obwohl z.B. die steigende Lebenserwartung die
Kosten für 65 - 80Jährige in den nächsten Jahren voraussichtlich
senken wird. SCHERBOV & SANDERSON stellen 2 alternative Maßzahlen
vor, die unseren westlichen Industriestaaten angemessener sind.
2011
STEINBERG, Juliane &
Gabriele DOBLHAMMER (2011): Blick in die Zukunft bleibt mit
Unsicherheit behaftet.
Dennoch können
demografische Bevölkerungsprognosen verlässliche Wegweiser sein,
in: Demografische Forschung aus erster Hand, Nr.1
Passend zur aktuellen Medienkampagne zur Erhöhung des
Rentenentrittsalters (ZEIT-Dossier Rentnermacht v.
07.04.2001), haben sich STEINBERG & DOBLHAMMER
3 Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes
herausgesucht, die belegen, dass bislang der Anstieg der
Lebenserwartung vom Statistischen Bundesamt unterschätzt wurde
(Artikel als PDF-Datei
hier).
SCHWENTKER, Björn & James W. VAUPEL (2011): Eine neue Kultur des
Wandels,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.10-11 v. 07.03.
"Ein 2010 in Deutschland
geborenes Baby wird mit mindestens 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit
hundert Jahre alt. Die Kinder, die heute auf den Geburtsstationen
liegen, sind bereits die Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft der
Hundertjährigen.
Gleichzeitig erreichen schon jetzt immer mehr Senioren ein sehr hohes
Alter. Weil die verbleibende Lebenserwartung im Verlauf des Lebens
steigt, können 65-jährige Frauen heute mit im Durchschnitt 20 weiteren
Jahren rechnen, und sogar 85-jährige noch mit sechs. Ein nicht nur
langes, sondern sehr langes Leben ist also kein Phänomen der ferneren
Zukunft. Es ist bereits Wirklichkeit. Deswegen ist auch der radikale
Wandel von Politik und Gesellschaft, den die Erweiterung unseres
Lebenshorizontes nötig macht, kein Projekt, das sich für die Zukunft
aufheben ließe. Es gilt, dies jetzt anzugehen" (S.5),
verkünden uns SCHWENTKER &
VAUPEL. Noch
im Jahr 2003 wurde uns von Jürgen KAUBE in seinem VAUPEL-Porträt
die Generation Golf (1965 bis 1975Geborene) zur Generation der
Hundertjährigen verklärt. Nun klingt das ganz anders. Wenn nun die
fernere Lebenserwartung von 65-Jährigen oder gar 85-Jährigen
herangezogen wird, um die Steigerung der Lebenserwartung zu
dramatisieren, dann ist das unseriös. Es müsste dann auch dazu
geschrieben werden, wie viele Menschen dann schon tot sind, weil sie
das 65. bzw. 85. Lebensjahr nicht erreicht haben. Was hier als die
Gesellschaft der Hundertjährigen phantasiert wird, ist eine
Gesellschaft der Besserverdienenden, bei der die Klassenunterschiede
geleugnet werden.
BOLLMANN, Ralph (2011): Rente mit 69,
na und?
Länger leben,
länger arbeiten: Nirgends ist die Rechnung so einfach wie bei der
Rente,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.05.
Ralph BOLLMANN ist der
Simplifizierer. Alles ganz einfach! Besonders bei der
Alterssicherung:
"Wir müssen ganz einfach nur
länger arbeiten. Dann steigen in der Rentenkasse die
Beitragseinnahmen, die Kosten sinken. Und gegen den Mangel an
Fachkräften ist auch etwas getan."
Und davor soll uns nun auch nicht
das Kapitaldeckungsverfahren schützen können. Dumm nur, dass diese
Einsicht uns immer nur dann gepredigt wird, wenn der Fokus der
Rentendebatte auf anderen Reformen liegt. Abschaffen will BOLLMANN
die Kapitaldeckung natürlich auch nicht. Dafür haben Neoliberale das
Argument von der Risikostreuung geschaffen. Diese muss man sich
jedoch erst leisten können.
Am Schluss wendet sich BOLLMANN
gegen starre Altersgrenzen. Er bleibt dabei jedoch möglichst vage
und bringt zudem noch das Langlebigkeitsrisiko ins Spiel:
"Es bleibt der Einwand, dass
ein festes Rentenalter sozial ungerecht ist. Ein
Universitätsprofessor wird im Zweifelsfall froh sein, wenn er für
sein lebenslanges Forschen noch ein paar Jahre länger auf
Assistenten und Hilfskräfte zurückgreifen darf. Beim Bauarbeiter
ist das anders. Er wird mit Abschlägen in Frührente gehen, obwohl
seine statistische Lebenserwartung geringer ist, er in der Summe
also ohnehin geringere Altersbezüge erhält.
Das Argument spricht jedoch nicht gegen längeres Arbeiten, sondern
allenfalls gegen eine starre Altersgrenze - oder für ein neues
Beitragssystem, das sich stärker am Risiko orientiert: Die Gefahr
der Langlebigkeit, gegen die eine Rentenversicherung ihre
Mitglieder materiell absichert, ist beim Bauarbeiter deutlich
geringer als beim Professor. Warum soll er also nicht niedrigere
Beiträge bezahlen? Das würde nicht nur die Rentenversicherung
gerechter, sondern auch die Arbeit attraktiver machen."
RÖTZER, Florian (2011): Lebensentscheidende Geografie.
Am Beispiel
Großbritannien wird deutlich, wie stark der Lebensraum die
Lebenserwartung bestimmen kann,
in:
Telepolis v. 09.06.
CORNELIUS, Ivar (2011): Regionale Unterschiede in der Lebenserwartung
in Baden-Württemberg,
in:
Statistisches Monatsheft
Baden-Württemberg, Heft
9
DESTATIS (2011):
Lebenserwartung in Deutschland erneut leicht gestiegen,
in:
Pressemitteilung Statistisches Bundesamt v. 20.09.
"Die Lebenserwartung in
Deutschland ist erneut leicht angestiegen: Sie beträgt nach der
Sterbetafel 2008/2010 für neugeborene Jungen 77 Jahre und 6 Monate und
für neugeborene Mädchen 82 Jahre und 7 Monate. (...)(Im) Vergleich zur
vorherigen Sterbetafel 2007/2009 (stieg) die Lebenserwartung für
neugeborene Jungen um zwei Monate und für Mädchen um einen Monat.
Auch für ältere Menschen hat die Lebenserwartung weiter zugenommen.
Nach der Sterbetafel 2008/2010 beläuft sich zum Beispiel die noch
verbleibende (fernere) Lebenserwartung von 65-jährigen Männern auf
weitere 17 Jahre und 4 Monate. 65-jährige Frauen können statistisch
gesehen mit weiteren 20 Jahren und 7 Monaten rechnen. Im Vergleich zur
vorherigen Sterbetafel 2007/2009 hat damit die Lebenserwartung bei den
65-jährigen Frauen und Männern jeweils um 1 Monat zugenommen.
Aus der Sterbetafel 2008/2010 lässt sich darüber hinaus ablesen, dass
nach den aktuellen Sterblichkeitsverhältnissen statistisch gesehen
jeder zweite Mann in Deutschland wenigstens 80 Jahre alt werden und
jede zweite Frau sogar ihren 85. Geburtstag erleben kann. Zumindest
das 60. Lebensjahr erreichen statistisch gesehen 89 % der Männer und
94 % der Frauen.
Im Deutschen Reich hatte die durchschnittliche Lebenserwartung eines
neugeborenen Jungen in der Berichtsperiode 1871/1881 nur 35 Jahre und
7 Monate und für ein neugeborenes Mädchen 38 Jahre und 5 Monate
betragen. Demnach hat sich die Lebenserwartung der Neugeborenen in den
vergangenen rund 130 Jahren mehr als verdoppelt. Dazu trug zunächst
vor allem der Rückgang der Kindersterblichkeit bei. In den letzten
Jahrzehnten ist auch die Sterblichkeit Älterer stark gesunken.
Methodische Hinweise
Die aktuellen Periodensterbetafeln der amtlichen Statistik basieren
auf den Daten über die Gestorbenen und die Durchschnittsbevölkerung
der letzten drei Jahre. Es handelt sich hierbei um eine Momentaufnahme
der Sterblichkeitsverhältnisse der gesamten Bevölkerung für diesen
Zeitraum. Die fernere Lebenserwartung gibt daher an, wie viele weitere
Lebensjahre Menschen eines bestimmten Alters nach den in der aktuellen
Berichtsperiode – zum Beispiel 2008/2010 – geltenden
Sterblichkeitsverhältnissen im Durchschnitt noch leben könnten. Eine
Abschätzung der Entwicklung der Lebenserwartung in der Zukunft ist
also, anders als bei sogenannten Generationensterbetafeln, nicht
eingeschlossen.
Zu Generationensterbetafeln hat das Statistische Bundesamt neue
Modellrechnungen zur Lebenserwartung nach Geburtsjahrgängen
veröffentlicht. Diese Modellrechnungen enthalten
Generationensterbetafeln für die Geburtsjahrgänge von 1896 bis 2009.
Eine Generationensterbetafel beschreibt die Lebenserwartung der
Angehörigen eines Geburtsjahrgangs. Hierzu werden die Sterbefälle
eines Geburtsjahrgangs über die gesamte Lebenszeit hinweg betrachtet.
Generationensterbetafeln sind als Modellrechnungen anzusehen, weil
Schätzungen zur Sterblichkeit der Geburtsjahrgänge notwendig sind,
deren Angehörige noch leben. Bei älteren Geburtsjahrgängen müssen
Datenlücken, Gebietsveränderungen und Wanderungsbewegungen
berücksichtigt werden, die in Deutschland insbesondere durch die
beiden Weltkriege verursacht wurden", heißt es in der
Pressemitteilung.
DICK, Stanislaw (2011):
Schatz, mach mich nicht krank.
Verheiratete Männer leben länger. Sie sind froh, wenn überhaupt
jemand an ihrer Seite ist. Bei Frauen entscheidet die Qualität der
Partnerschaft über ihre Gesundheit,
in: Berliner Zeitung v. 08.10.
2012
SAUM-ALDEHOFF, Thomas (2012): Und am
Schluss: das Alter.
Wir gewinnen
immer mehr Lebensjahre. Doch sind es auch gesunde Jahre?
in: Psychologie Heute, Januar
Thomas SAUM-ALEHOFF stellt eine Studie von
Andreas MERGENTHALER vor, über die bereits in
Bevölkerungsforschung Aktuell Nr.5/2011 berichtet wurde.
Anhand des Vergleichs der 1911-1926 Geborenen mit den 1917-1932
Geborenen kommt MERGENTHALER zu dem Schluss, dass ältere Menschen
trotz steigender Lebenserwartung weder weniger noch mehr gesunde
Jahre im Alter genießen können. Es wurden jedoch keine
Gesundheitsdaten erhoben, sondern nur das subjektive Empfinden.
Die Frage, ob Menschen, die
einen oder zwei Weltkriege überlebt haben, Rückschlüsse auf
Menschen, die nur Friedenszeiten kennen, erlauben, bleibt in beiden
Beiträgen außen vor.
BÖNT, Ralf (2012): Mann, mach doch mal zart.
Die
Lebenserwartung deutscher Männer liegt fünf Jahre unter der von
Frauen. Weil sie nicht auf ihre Gesundheit achten, glaubt
Schriftsteller Ralf Bönt . Er propagiert ein neues Bild vom Mann. Und
wirbt für mehr Gefühl,
in: Welt am Sonntag v. 26.02.
Ralf BÖNT widerspricht den
Schmerzensmänner-Thesen von Nina PAUER und weist stattdessen u.
a. auf die allein
lebenden Männer als Indikator des männlichen Niederganges hin:
"Die
Zahl allein lebender Männer in Deutschland ist rasant angestiegen,
allein zwischen 1996 und 2006 um 36 Prozent. Frauen leben allein,
weil sie Witwen sind, Männer, weil sie ledig sind. Ihre
Lebenserwartung ist noch geringer als die der Männer in einer
Partnerschaft. Das verwundert nicht. Es gibt Männer, die zur
Physiotherapie gehen, um einmal angefasst zu werden. Manche mögen
übervolle Busse oder stehen gern im Gedränge von Diskotheken, weil
sie dann Körperkontakt haben können. Das mögen Extremfälle sein,
aber generell steht der Mann nicht im Mittelpunkt, wie man
jahrzehntelang in feministischer Fixierung auf repräsentative
Positionen behauptet hat."
OESTREICH, Heide (2012): "Männer sterben fünfeinhalb Jahre früher".
Gender: Geschlechterforscher Thomas
Gesterkamp fordert eine Männerpolitik gegen "ruinöse männliche
Lebensentwürfe", die private Enttäuschungen erzeugen. "Männer machen
auch Opfererfahrungen",
in:
TAZ v. 25.05.
PANY, Thomas (2012): Ältere Väter und das Versprechen auf längeres
Leben des Nachwuchses.
Eine US-Studie
suggeriert, dass Spermien von älteren Männern für eine genetische
Programmierung sorgen, die die Lebenserwartung der Kinder erhöht,
in:
Telepolis v. 14.06
RME (2012): Singles und einsame Senioren sterben früher.
Menschen,
die sich im Alter einsam fühlen, haben einer aktuellen Studie zufolge
ein erhöhtes Sterberisiko. Nach einer anderen Untersuchung enden
Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch bei "jüngeren" Singles häufiger
tödlich,
in:
Deutsches Ärzteblatt Online v. 19.06.
KABLITZ, Susanne (2012): Im Westen werden die Deutschen älter.
Statistik II:
Die Lebenserwartung in den einzelnen Bundesländern ist extrem
unterschiedlich. Die Gründe dafür sind vielfältig,
in: Das Parlament v. 06.08.
RÖTZER,
Florian (2012): Alleinlebende haben höheres Sterberisiko im mittleren
Alter.
Während eine Studie ein erhöhtes Risiko bei Alleinlebenden sieht,
führt eine andere das höhere Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko auf
Einsamkeit zurück, die es auch bei Paaren gibt,
in: Telepolis v. 10.08.
Es ist schon merkwürdig wie
sorglos Studien interpretiert werden, die das Sterberisiko von
Alleinlebenden betreffen. Zuerst einmal müsste geprüft werden,
ob die Ergebnisse nicht für Deutschland vom genannten
Durchschnitt abweichen.
Der Soziologe Jens ALBER
hat in seinem Beitrag
Wer ist das schwache Geschlecht? die Sterblichkeit international und historisch vergleichend
untersucht. Danach war die Sterblichkeit von 35-44jährigen
Männern in den 1920er, den 1970er und den 1990er Jahren
zwischen 1,17 mal (verheiratete Männer in den 1920er Jahren)
und 2,84 mal (geschiedene Männer in den 1990er Jahren) so hoch
wie von gleichaltrigen Frauen. Innerhalb von Europa ist die
Sterblichkeit von geschiedenen Männern in den 1990er Jahren in
Frankreich 3,59 mal und in Spanien sogar fast 5 mal so hoch
gewesen wie bei gleichaltrigen Frauen. Es gibt also
gravierende Unterschiede von Land zu Land und von Geschlecht
zu Geschlecht in der Sterblichkeit zu beachten.
Florian RÖTZER nennt aber nur
Zahlen für Alleinlebende, nicht aber für deutsche
Alleinlebende. Der Link im Artikel verweist nicht zur Studie, sondern
lediglich zur Zusammenfassung, in der keine länderspezifische
Zahlen für Alleinlebende genannt werden. Man müsste also diese
Werte kennen, falls sie vorhanden und aussagekräftig sind.
Das mittlere Lebensalter
muss man wohl mit 45-65Jahre gleichsetzen, obwohl das mittlere
Lebensalter z.B. in der aktuellen Erhebung des Statistischen
Bundesamtes zu
Alleinlebenden in Deutschland die 35-65Jährigen umfasst.
In Deutschland
dominieren im mittleren Lebensalter die Männer, die wie
bei ALBER nachzulesen eine höhere Sterblichkeit als Frauen
haben. Von den 45-65jährigen Alleinlebenden in Deutschland
sind 2,345 Millionen männlich und 2,004 Millionen weiblich.
Geschiedene Männer sind
nach einer
deutschen Studie von Hans-Werner WAHL u. a. hinsichtlich
des Gesundheitszustandes eine Problemgruppe. Rund 1,4
Millionen Alleinlebende sind geschiedene Männer. Davon sind
60,6 % 45-65Jahre alt. Fast jeder 5. Alleinlebende in diesem
Alter ist ein geschiedener Mann.
Sind also Alleinlebende
generell gefährdeter als Zusammenlebende oder nur bestimmte
Risikogruppen? Und wenn es bestimmte Gefährdungen gibt, ist
dann tatsächlich Einsamkeit das Hauptproblem?
Um tatsächlich brauchbare
Ergebnisse zu bekommen, sind Studien mit sehr großen
Fallzahlen erforderlich. Eine Untersuchung von 45.000
Patienten mag auf den ersten Blick ausreichend erscheinen. Bei
44 Ländern, 2 Geschlechtern, 2 Altersgruppen usw. kommt man
gerade bei den Alleinlebenden (nicht einmal 8.600 Patienten)
ganz schnell zu Fallzahlen die für statistisch signifikante
Aussagen zu klein sind.
Welche Probleme gerade
hinsichtlich der Erforschung des Gesundheitszustandes
verschiedener Bevölkerungsgruppen und deren Ursachen bestehen,
darüber klärt das hervorragende Buch
Lebensqualität produzieren
von Alban KNECHT auf. Am Beispiel der
Herz-Kreislauf-Erkrankungen zeigt sich die ganze Komplexität
von Sterblichkeitsrisiken.
KROH, Martin/NEISS,
Hannes/KROLL, Lars/LAMPERT, Thomas (2012): Menschen mit hohen
Einkommen leben länger,
in: DIW-Wochenbericht, Nr.38 v. 19.09.
KROH/NEISS/KROLL/LAMPERT
beschreiben die Restriktionen bei der Erforschung der differentiellen
Lebenserwartung und die Vor- und Nachteile zweier Datenquellen
folgendermaßen:
"In vielen Ländern werden zur
Analyse von Unterschieden in der Lebenserwartung nach
Einkommensgruppen Daten aus Sterberegistern oder dem Zensus auf der
einen Seite mit Registerdaten der Sozial- oder Steuerstatistik auf der
anderen Seite verknüpft. Da dies ist in Deutschland nicht möglich ist,
wird bei entsprechenden Forschungsfragen entweder auf Daten der
deutschen Rentenversicherung zurückgegriffen oder, wie in der
vorliegenden Analyse, auf die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP).
Vorteil der offiziellen Statistiken der Rentenversicherung sind eine
große Fallzahl und die Validität der Angaben zum beitragsrelevanten
Einkommen. Zu den Nachteilen zählen die Beschränkung der
Einkommensinformationen auf sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungen, so dass Einkommen aus Selbständigkeit oder von
Beamten, aber auch zum Beispiel Kapitaleinkünfte, Einkünfte aus
Vermietung/Verpachtung oder Transferleistungen anderer Personen keine
Berücksichtigung finden. Ein weiteres Problem stellt der Mangel an
weiteren Personenmerkmalen wie dem Gesundheitszustand zum Alter 65
oder dem gesundheitsrelevanten Verhalten dar. Das Sozio-oekonomische
Panel ist eine seit 1984 durchgeführte repräsentative
Wiederholungsbefragung von Haushalten in West- und seit 1990 auch in
Ostdeutschland.3 Derzeit werden über 20 000 Personen in mehr als 10
000 Haushalten pro Erhebungsjahr befragt. Der Untersuchungszeitraum
von 1984 bis 2010 erlaubt die Analyse der ferneren Lebenserwartung der
Kohorten 1919 bis 1944. Diese umfassen etwa 6 400 Personen, von denen
etwa 1 200 im Untersuchungszeitraum verstarben.
Das SOEP hat den Vorteil, dass der Analyse ein breiter Begriff des
verfügbaren Einkommens aus verschiedenen Einkommensquellen zugrunde
gelegt werden kann. Weiterhin steht eine Vielzahl sozio-ökonomischer
und gesundheitsrelevanter Merkmale zu den Untersuchungspersonen zum
Alter 65 zur Verfügung. Da die Stichprobe jedoch erheblich kleiner ist
als die offizielle Statistik der Rentenversicherung, steigt die
Ungenauigkeit bei der Schätzung der Lebenserwartung, insbesondere für
kleine Subgruppen. Außerdem ist die Teilnahme am SOEP freiwillig, was
möglicherweise selektive Teilnahmeraten zur Folge hat. Dies betrifft
in den berichteten Analysen lediglich den Eintritt in die Analyse mit
65 Jahren, nicht jedoch den Status der Befragten in den folgenden
Jahren, da das SOEP regelmäßig den vitalen Status von ehemaligen
Befragten auf Basis der Melderegister abgleicht und somit unabhängig
von der Teilnahme das Todesjahr von SOEP-Befragten bestimmt." (2016,
S.4)
Die Ergebnisse der Studie betreffen
die Geburtsjahrgänge 1919 bis 1944
und haben auch nur für diese Kohorten eine Aussagekraft:
"50 Prozent der 65-jährigen Männer
(werden) wenigstens 81 Jahre alt (...), während 50 Prozent der Frauen
wenigstens 86 Jahre alt werden. (...).
Männer aus armutsgefährdeten Haushalten und solchen mit prekären
Einkommen leben gemäß den SOEP-basierten Schätzungen durchschnittlich
fünf Jahre weniger als Männer aus wohlhabenden Haushalten. In den
mittleren Einkommenskategorien sind die Unterschiede etwas geringer:
Männer aus Haushalten mit 80 bis 100 Prozent des mittleren Einkommens
haben eine um viereinhalb Jahre geringere Lebenserwartung. Für
Haushalte mit 100 bis 150 Prozent beträgt die Differenz zur höchsten
Einkommensgruppe noch gut drei Jahre.
Bei Frauen sind die Unterschiede nach Einkommen weit weniger
ausgeprägt als bei Männern". (2012, S.6f.)
Die Ergebnisse zeigen, dass das
Einkommen für Männer eine größere Aussagekraft hat als für Frauen.
Hinter dem Indikator "Einkommen" können sich unterschiedliche
Ursachenfaktoren verbergen, die nichts mit der Einkommenshöhe an sich
zu tun haben, sondern auf Faktoren wie Elternhaus, Wohnort, Bildung,
berufliche Belastungen, Unsicherheit, Gesundheit usw. zurückführen
lassen. Dabei stellt sich jedoch das Problem der Operationalisierung,
sodass solche Analysen eher nur Hinweise darstellen können, in welche
Richtung weiter zu forschen wäre. Die Autoren haben eine Vielzahl von
Faktoren überprüft und ziehen daraus ihre Schlussfolgerungen. Nach
Überprüfung dieser Faktoren verbleibt jedoch immer noch ein großer
Rest, der nicht durch andere Faktoren als der Einkommenshöhe erklärt
werden kann. Das fassen sie folgendermaßen zusammen:
"Während Männer aus wohlhabenden
Haushalten absolut betrachtet mehr als fünf Jahre länger leben als
Männer aus armutsgefährdeten Haushalten und solche mit prekären
Einkommen, reduziert sich diese Differenz nach Berücksichtigung
anderer Einflüsse auf die Lebenserwartung um zwei Jahre auf
dreieinhalb Jahre. Etwa in gleichem Umfang reduzieren sich die
Unterschiede zwischen wohlhabenden Männern und solchen mit Einkommen
zwischen 80 und 100 Prozent (von viereinhalb auf etwas über zwei
Jahre) und Männern mit Einkommen zwischen 100 und 150 Prozent (von
dreieinhalb auf etwas unter zwei Jahre).
Bei Frauen waren die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den
Einkommensgruppen bereits vor Berücksichtigung weiterer Faktoren
geringer als bei Männern; nach Einbeziehung dieser Faktoren sind sie
nicht mehr signifikant. Die verbleibenden Unterschiede in Lebensjahren
zwischen den Einkommensgruppen liegen für Frauen zwischen einem halben
und anderthalb Jahren. Die Unsicherheit der Schätzung ist in allen
Fällen zu groß, um die Behauptung empirisch absichern zu können, dass
nach der Bereinigung um weitere Faktoren noch ein bedingter
statistischer Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung bei
Frauen vorhanden ist. Bei Männern trifft diese Einschränkung lediglich
auf den Unterschied zwischen mittleren und hohen Einkommen zu.
Ansonsten zeigen sich auch unter Berücksichtigung alternativer
Faktoren signifikante Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen
wohlhabenden Männern und solchen aus prekären und armutsgefährdeten
Haushalten". (2012, S.13f.)
WITTENBERG, Erich (2012):
"Lebenserwartung von Menschen mit geringen Einkommen erhöhen".
Fünf Fragen an Martin
Kroh,
in: DIW-Wochenbericht,
Nr.38 v. 19.09.
DESTATIS (2012): Lebenserwartung in
Deutschland erneut gestiegen.
in: Pressemitteilung
Statistisches Bundesamt v. 02.10.
" Die Lebenserwartung in Deutschland ist erneut angestiegen: Sie
beträgt nach der auf die aktuellen Sterblichkeitsverhältnisse
bezogenen Periodensterbetafel 2009/2011 für neugeborene Jungen 77
Jahre und 9 Monate und für neugeborene Mädchen 82 Jahre und 9 Monate.
(...)(Im) Vergleich zur vorherigen Sterbetafel 2008/2010 (erhöhte
sich) die Lebenserwartung für neugeborene Jungen um 3 Monate und für
Mädchen um 2 Monate.
Auch für ältere Menschen hat die Lebenserwartung weiter zugenommen.
Nach der Sterbetafel 2009/2011 beläuft sich zum Beispiel die noch
verbleibende Lebenserwartung - die sogenannte fernere Lebenserwartung
- von 65-jährigen Männern auf weitere 17 Jahre und 6 Monate.
65-jährige Frauen können statistisch gesehen damit rechnen, noch
weitere 20 Jahre und 8 Monate zu leben. Im Vergleich zur vorherigen
Sterbetafel 2008/2010 hat damit die fernere Lebenserwartung bei den
65-jährigen Frauen um 2 Monate und bei den Männern um 1 Monat
zugenommen.
Aus der Sterbetafel 2009/2011 lässt sich darüber hinaus ablesen, dass
nach den aktuellen Sterblichkeitsverhältnissen statistisch gesehen
jeder zweite Mann in Deutschland wenigstens 80 Jahre alt werden und
jede zweite Frau sogar ihren 85. Geburtstag erleben kann. Wenn sich
die Entwicklung der Lebenserwartung zukünftig so fortsetzt wie in der
Vergangenheit, ist damit zu rechnen, dass die Lebenserwartung für
beide Geschlechter weiter beträchtlich ansteigen wird.
Methodische Hinweise
Die aktuellen Periodensterbetafeln der amtlichen Statistik basieren
auf den Daten über die Gestorbenen und die Durchschnittsbevölkerung
der letzten drei Jahre. Es handelt sich hierbei also um eine
Momentaufnahme der Sterblichkeitsverhältnisse der gesamten Bevölkerung
für diesen Zeitraum. Die fernere Lebenserwartung gibt daher an, wie
viele weitere Lebensjahre Menschen eines bestimmten Alters nach den in
der aktuellen Berichtsperiode - zum Beispiel 2009/2011 - geltenden
Sterblichkeitsverhältnissen im Durchschnitt noch leben könnten. Eine
Abschätzung der Entwicklung der Lebenserwartung in der Zukunft ist
also, anders als bei sogenannten Generationensterbetafeln, nicht
eingeschlossen. Zu Generationensterbetafeln hat das Statistische
Bundesamt Modellrechnungen zur Lebenserwartung nach Geburtsjahrgängen
veröffentlicht. Diese Modellrechnungen enthalten
Generationensterbetafeln für die Geburtsjahrgänge von 1896 bis 2009.
Eine Generationensterbetafel beschreibt die Lebenserwartung der
Angehörigen eines Geburtsjahrgangs. Hierzu werden die Sterbefälle
eines Geburtsjahrgangs über die gesamte Lebenszeit hinweg betrachtet.
Generationensterbetafeln sind als reine Modellrechnungen anzusehen,
weil Schätzungen zur Entwicklung der Sterblichkeit der
Geburtsjahrgänge notwendig sind, deren Angehörige noch leben. Je
jünger dabei der betrachtete Jahrgang ist, desto unsicherer werden
diese Schätzungen. Bei älteren Geburtsjahrgängen müssen zudem
Datenlücken, Gebietsveränderungen und Wanderungsbewegungen
berücksichtigt werden, die in Deutschland insbesondere durch die
beiden Weltkriege verursacht wurden. Wenn sich der in der
Vergangenheit beobachtete Trend bei der Sterblichkeit in der Zukunft
ungebrochen fortsetzt, kann nach den Ergebnissen der
Generationensterbetafel (Trendvariante 2) ein 2009 geborener Junge
statistisch mit einer Lebenserwartung von 86 Jahren und 5 Monaten
rechnen. Bei einem Mädchen sind es sogar 90 Jahre und 8 Monate", heißt
es in der Pressemitteilung.
KLOEPFER, Inge (2012): Mehr vom Leben erleben.
Spezial Forever
old: Was heißt hier "Vergreisung"? Der medizinische und technische
Fortschritt führt dazu, dass der Tod immer weiter zurückgedrängt wird.
Das Risiko, früh zu sterben, war noch nie so gering wie heute. Wir
alle bleiben länger fit. Das ist der größte zivilisatorische Erfolg
der jüngeren Geschichte. Die Menschen müssen aus den gewonnenen Jahren
nur noch etwas machen. Und sie müssen länger arbeiten, um sich das
lange Leben auch leisten zu können,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 28.10.
Inge KLOEPFER stellt uns mit
Peter BARTEL einen Dachdecker vor, der uns das lange Arbeiten
schmackhaft machen soll. Der Dachdecker ist aber kein normaler
Dachdecker wie er in der Debatte um die Rente mit 67 im Vordergrund
stand, sondern ein Firmenchef und damit nicht repräsentativ für die
arbeitende Bevölkerung.
Wie üblich, wird uns das Jahr
2050 beschrieben, als ob die Vorausberechnungen der demografischen
Entwicklung nicht Kaffeesatzleserei, sondern unumstößliche
Gewissheit sei. Geht man 50 Jahre zurück, dann ist man im Jahr 1962.
Damals glaubte man
an endlos wachsende, statt an schrumpfende Bevölkerungen.
Genauso verhält es sich mit der
Lebenserwartung. Nichts weniger als die Unsterblichkeit wird uns
seit Jahrzehnten verkündet. Noch ist es jedoch nicht ganz so weit.
KLOEPFER präsentiert uns Jutta GAMPE vom Max-Planck-Institut für
Demographie:
"Einem neugeborenen Mädchen
werden heute nach den Berechnungen 83 Lebensjahre prognostiziert.
Gampe vermutet, dass die Kleine mit hoher Wahrscheinlichkeit
einhundert Jahre oder sogar älter werden wird.
Wie erklärt sich der Unterschied zwischen Statistischem Bundesamt
und Max-Planck-Statistik? Ganz einfach: Die Vorhersagen des Amtes
tun so, als würde es den medizinischen und technologischen
Fortschritt, der das Leben verlängert, in Zukunft nicht mehr
geben."
Warum Mädchen und nicht Jungen?
Weil dann ersichtlich wäre, dass Frauen wesentlich länger leben als
Männer und dies bei diesen sogar noch stärker mit dem Einkommen
korreliert. Nichts davon liest man bei KLOEPFER.
Inwieweit jedoch der medizinische
Fortschritt überhaupt für ein langes Leben entscheidend ist, das ist
umstritten. Entscheidender sind die Lebensbedingungen, denen wir
ausgesetzt sind. Das ist nicht allein unser Lebensstil, sondern z.B.
auch die Arbeitsbedingungen und das Wohnumfeld. Uns wird erklärt,
dass das Sterberisiko erst mit 80 Jahren erhöht sei - Belege werden
uns dafür jedoch vorenthalten.
Und im letzten Drittel des
Artikels wird uns der Lieblingsökonom Axel BÖRSCH-SUPAN der FAZ
(und gleichzeitig der Unternehmenslobby) präsentiert, der uns wieder
von der Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung
vorschwärmt. Uns werden fünf Szenarien bis ins Jahr 2050
(Kaffeesatzleserei!) vorgestellt, von denen das Entstehungsdatum
nicht genannt wird. Daraus sollte man schließen, dass die Szenarien
schon betagt sind, denn sonst würde uns das nicht verschwiegen. Die
Kopplung wird uns als "eine Art ökonomisches Naturgesetz"
beschrieben, was völliger Unsinn ist, denn die Ökonomie ist keine
exakte Naturwissenschaft, sondern eine Ideologiewissenschaft,
insbesondere eine Rechtfertigungslehre, wenn es um politisch
erwünschte Gutachten geht und das sind Gutachten, bei denen es um
das Rentensystem und andere soziale Sicherungssysteme geht, immer.
2013
UNGER, Rainer & Alexander SCHULZE (2013): Können wir (alle)
überhaupt länger arbeiten? Trends in der gesunden Lebenserwartung nach
Sozialschicht in Deutschland, Comparative Population Studies –
Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft v. 31.01.
TSCHECHNÉ, Martin
(2013): Ein Land ohne Kinder?
Zoë ist drei Jahre alt. Wenn sie
fünfzig ist, wird sie immer noch zu den Jüngeren gehören. Und ihre
Chancen stehen gut, einmal hundert zu werden. Unsere Gesellschaft
ändert sich, sie wird älter. Wissenschaftler bieten schon heute
Einblicke in diese Zukunft. Und sie sagen, wo wir gegensteuern müssen,
in: Psychologie
Heute,
September
Bereits der Untertitel verrät es:
Die Zeitschrift ist eine Publikation für Besserverdienende, denn die
Mehrzahl der Bevölkerung wird eher nicht die versprochenen 100 Jahre
erreichen. Die soziale Ungleichheit wächst in Deutschland und die
Altersarmut ist politisch gewollt auf Zunahme programmiert. Beides
steht einer weiteren Höherentwicklung der Lebenserwartung entgegen.
Wenn der jetzige Trend zur
Entwicklung einer kleinen oberen Mittelschicht, die zusammen mit der
Oberschicht die Gewinner der gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklung
sind, und einer größer werdenden mittleren und unteren
Mittelschicht, die zusammen mit der Unterschicht zu den Verlierern
zählen wird, dann sieht unsere Bevölkerung bis zum Jahr 2060 ganz
anders aus, als es Demagogen wie Martin TSCHECHNÉ uns heute
erzählen. Der "Vergnügungsdampfer in der Karibik", auf den die
Rentner "verbannt" sein sollen - diese Vision ist dann so veraltet
wie futuristische Visionen der 1960er Jahre für das Jahr 2000. Und
das waren nur 40 Jahre und keine 50 Jahre wie bei unseren
Kaffeesatzlesern.
Was
passiert, wenn die soziale Schließung sich weiter verstärkt? Wenn
der Kampf um Bildung härter wird, wie das der Soziologe Heinz BUDE
in seinem Artikel
Das prekäre Gut der Bildung (Merkur, August 2013)
beschreibt?
"Es ist ein soziales Gesetz,
dass Familien erhebliche Anstrengungen unternehmen, um den
erreichten sozialen Status in der Generationenfolge zu sichern.
Hat man mehr als drei Kinder, kann man lockerer und
fehlerfreundlicher an diese Aufgabe herangehen, als wenn lediglich
ein oder zwei Kinder in der Familie existieren. (...).
In der Mitte freilich reduziert sich die Kinderzahl und steigt das
Investitionsbewusstsein in Bezug auf das einzelne Kind."
Gibt es eine homogene Mitte
überhaupt noch oder haben sich nicht schon unterschiedliche
Strategien herausgebildet? Cornelia KOPPETSCH beschreibt in ihrem
Buch
Die Wiederkehr der Konformität
drei Strategien im Kampf der Mittelschicht gegen den befürchteten
Abstieg. Demnach beschreibt BUDE lediglich die Strategie der
oberen Mittelschicht, die sich ums Erbe dreht.
Die Bevölkerungsentwicklung hängt
keineswegs von demografischen Sachzwängen ab, sondern in erster
Linie vom Ausgang der politischen Kämpfe in der Mitte. Die
zukünftige Bevölkerungsentwicklung ist nicht vorprogrammiert wie uns
unsere Demagogen in Sachen demografischer Wandel erzählen, sondern
sie ist eine politische Richtungsentscheidung.
FELLMANN, Max & Roland SCHULZ (2013): Warum altern wir?
Und was können wir dagegen tun? Ein
Gespräch mit dem Altersforscher Christoph Englert,
in: SZ-Magazin Nr.38 v.
20.09.
HAUN,
Daniel (2013): Werden wir wirklich zu alt?
Dossier: Vier Irrtümer über den
Demografiewandel und eine Bitte an den Bundestag,
in:
ZEITWISSEN, Oktober/November
"Zahlreiche Umfragen belegen,
dass die große Mehrheit den Zusammenbruch der Sozialsysteme
befürchtet - dass kaum noch Renten gezahlt und die Kranken nicht
mehr gut versorgt werden könnten und dass zudem die Wirtschaft
Probleme bekommen werde, weil Menschen im arbeitsfähigen Alter
fehlten. All das, weil die Jugend zu egoistisch zum Kinderkriegen
sei.
Aber stimmt das? Vieles spricht dafür, dass es sich dabei um -
besonders hatnäckige - Irrtümer handelt,
behauptet Daniel HAUN.
Es gab keine Irrtümer, sondern lediglich politische Propaganda,
um den Sozialstaat ohne große Widerstände umbauen zu können.
HAUN
wartet mit angeblichen Überraschungen des Zensus 2011 auf, wonach
2011 bereits 1,5 Millionen Menschen weniger in Deutschland lebten,
was in Bevölkerungsvorausberechnungen erst für 2020 prognostiziert
worden war:
"Die Gruppe der über
75-Jährigen wurde mit Abstand am stärksten überschätzt: Es gibt
fast fünf Prozent weniger von ihnen als bislang gedacht - was auch
Konsequenzen für die durchschnittliche Lebenserwartung hat."
Bereits im April 2008 war bekannt, dass es bei den über
90jährigen westdeutschen Männern im Jahr 2005 über 40 % weniger gab.
Bei den gleichaltrigen westdeutschen Frauen waren es "nur" 15 %
weniger.
UHLMANN, Berit
(2013): Wer kümmert sich?
Pflegebedürftige: Niemals zuvor brauchten
so viele Menschen derart lange und intensive Pflege wie heute. Dies
greift tief in die Beziehungsgeflechte von Familien ein. Doch wird es
richtig organisiert, empfinden es die Helfer sogar als Bereicherung,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 17.10.
"Als die junge Frau den 15
Jahre älteren Mann heiratete, ahnte sie wohl nicht, was auf sie
zukommen würde. Kaum waren die Kinder aus dem Gröbsten heraus,
wurden erst seine Eltern, dann ihre Mutter, dann der Gatte selbst
zum Pflegefall. Ein halbes Frauenleben verging (...).
Nun sitzt sie allein in dem leeren Haus und fragt sich, wer für
sie sorgen wird.
Wer pflegt mich einmal? Das ist eine der schwierigsten Fragen des
modernen Lebens. Und es ist eine, die in dieser Häufigkeit
ohne Beispiel ist",
behauptet Berit UHLMANN,
obwohl der Altersunterschied bei Paaren eher selten 15 Jahre beträgt
(vgl. DESTATIS "Altersunterschied bei Paaren im Durchschnitt 4
Jahre", 22.10.2013).
Die Konstellation junge Frau und älterer Mann ist jedoch ungleich
häufiger als die
Konstellation ältere Frau und jüngerer Mann. Auch ist das
Alleinleben im Alter bei den Frauen weiter verbreitet als bei
Männern, wobei aber die Tendenz für Frauen abnehmend und für Männer
zunehmend ist, da die Generation der Kriegerwitwen wegstirbt, die
Altersunterschiede bei Paaren der jüngeren Generationen abgenommen
haben. Die Tendenzen bei der Lebenserwartung sind eher
unüberschaubar, da die Bevölkerungsfortschreibung gravierende Fehler aufweist, die
erst mit dem Zensus 2011 bereinigt werden können.
SAUM-ALDEHOFF, Thomas (2013): Die Hundertjährigen kommen.
Schon heute gibt es mehr als 13.000
Hundertjährige in Deutschland, und in gut 50 Jahren soll sich ihre
Zahl verhundertfacht haben. Wie lebt es sich jenseits der
"Schallmauer"? Nicht ohne Beschwerden, wie die neue Heidelberger
Hundertjährigen-Studie zeigt. Doch viele der Hochbetagten sind geistig
noch ziemlich auf Draht, und die meisten haben Freude an ihrem Leben,
in: Psychologie
Heute,
Dezember
"Ziel der
Untersuchung (...) war nicht etwa, herauszufinden, wie man es
schafft, 100 Jahre alt zu werden. Vielmehr wollten die
Untersucher mehr darüber erfahren, wie es ist, hundert zu
sein (...). Schon einmal sind die Forscher der Universität
Heidelberg diesen Fragen nachgegangen, während ihrer
ersten Hundertjährigen-Studie vor elf Jahren. Nun wollten sie
wissen, was sich an der Lebenssituation der heutigen
Hundertjährigen gegenüber damals verändert hat. Sie kontaktierten
also dieselben Einwohnermeldeämter im Großraum Heidelberg wie
seinerzeit und sammelten Informationen über sämtliche dort
lebenden Personen der Geburtsjahrgänge 1911 und 1912.
Interviewerinnen schwärmten aus und führten mit 100 dieser Frauen
und 12 der Männer ein ausführliches Gespräch. Auch jeweils ein
»Proxy«, eine dem Betreffenden nahestehende Person, wurde befragt
(...).
Um die Situation der Hundertjährigen mit der anderer Altersgruppen
vergleichen zu können, wurden Daten von je rund 150 Personen im
Alter von 65 bis 79 Jahren sowie von 80 bis 95 Jahren aus
Heidelberg herangezogen. Ferner wurden die Antworten der
Heidelberger Hundertjährigen mit denen von Altersgenossen in New
York und im portugiesischen Porto verglichen",
beschreibt SAUM-ALDEHOFF das
Design und die Zielsetzung der Studie. Warum aber das Interesse an
den Hundertjährigen?
"Binnen zehn Jahren, von 2000
bis 2010 stieg die Zahl der Hundertjährigen in Deutschland von
rund 6000 auf 13000. In den Geburtsjahrgängen der heutigen
Hundertjährigen erreichen 0,3 Prozent der Männer und immerhin 0,8
Prozent der Frauen dieses hohe Alter. Bei den 50 Jahre später,
also Anfang der 1960er Jahre Geborenen werden nach Hochrechnungen
bereits knapp drei Prozent der Männer und fünfeinhalb Prozent der
Frauen ihren hundertsten Geburtstag feiern - eine beachtliche
Minderheit."
Die Schätzungen dürften - zumindest was die Männer betrifft -
deutlich überzogen sein. Das zeigen auch die
Rekrutierungsprobleme:
"•Die
172 angeschriebenen Städte und Gemeinden meldeten uns insgesamt
475 Personen, die 1901 und früher geboren wurden.
•Davon erfüllten 281 das Einschlusskriterium, d.h. sie waren 100
Jahre alt.
•Von dieser Brutto-Stichprobe waren 125 Personen (44,5 %) bereits
verstorben, unbekannt verzogen, gänzlich unbekannt oder sie waren
keine 100 Jahre alt."
Apokalyptiker wie Bernd RAFFELSHÜSCHEN gehen von einer
wachsenden Zahl Hochbetagter bei gleichbleibend schlechter
Gesundheit aus und entwerfen deshalb Horrorszenarien hinsichtlich
der zukünftigen Pflegebedürftigkeit. Gerd BOSBACH & Jens Jürgen
KORFF haben diese Sicht in ihrem Sammelbandbeitrag Altersarmut in
einem reichen Land aus dem Jahr 2012 folgendermaßen kritisiert:
"Die Anzahl der
Pflegebedürftigen entspricht zurzeit etwa der Hälfte der Anzahl
der Über-84-Jährigen. Da sich nach den Modellrechnungen des
Statistischen Bundesamtes der Anteil der Über-84-Jährigen - auch
Hochbetagte genannt - bis 2050 etwa vervierfacht, wird vielfach
für diesen Zeitpunkt mit einer Vervierfachung der Pflegekosten
gerechnet. (...). Bei der Lebenserwartung ist Raffelhüschens
Denkweise dynamisch: Er vollzieht eine Veränderung bis 2050 nach.
Die Altersgrenze jedoch, bei der er die Gruppe der Hochbetagten
beginnen lässt, bleibt konstant bei 85 stehen. An dieser Stelle
rechnet Raffelhüschen plötzlich statisch! Wenn das stimmen würde,
hieße dies, dass die Älteren im Jahr 2050 alle sieben Jahren, die
sie an Lebenszeit hinzugewonnen haben, in Krankheit und
Pflegebedürftigkeit verbringen. Das widerspricht nicht nur allen
historischen Erfahrungen, es ist auch schlicht unlogisch: Denn
warum sollten wir sieben Jahre älter werden, wenn unsere
Gesundheit keine Fortschritte macht?
(2012, S.184)
Geht man von einer Zunahme der
gesunden Jahre aus, dann ergibt sich ein anderes Szenario für die
zukünftige Entwicklung der Pflegebedürftigkeit:
"Werden alle sieben
zusätzlichen Jahre in Pflege verbracht, ist die Angst vor der
Vervierfachung der Kosten berechtigt. Verbringen wir wenigstens
die Hälfte davon in leidlicher Gesundheit, würde sich der Anteil
der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung etwa verdoppeln.
Das mag zunächst immer noch dramatisch klingen, aber
Produktivitätssteigerungen werden im Verlauf von 45 Jahren viele
andere Arbeiten überflüssig machen. Da bietet die Altenhilfe sogar
ein gutes Mittel gegen die in anderen Szenarien geschürte Angst,
dass uns die Arbeit ausgehen könnte. Und sind die sieben
ausnahmslos gesunde Jahre, bliebe der Anteil der Pflegebedürftigen
sogar konstant.
Die letzte Annahme ist gar nicht so unwahrscheinlich, weil der
medizinisch-technische Fortschritt Krankheiten auch zurückdrängen
kann. Gesundheitswissenschaftler diskutieren sogar die These, dass
die Anzahl der Krankheitsjahre im Leben eines Menschen tendenziell
sinken wird (Kompressionsthese), und begründen sie oft mit Daten
aus sozial höheren Schichten, die den zu erwartenden Fortschritt
für die breite Mehrheit gewissermaßen vorwegnehmen könnten. Oder
umgekehrt als Bedingung formuliert: Wenn es uns 2050 sozial und
gesundheitlich nicht besser geht, werden wir wohl kaum sieben
Jahre länger leben."
(2012, S.185f.)
Die Hundertjährigenstudie zeigt,
dass sich die Gesundheit der Hochbetagten verbessert hat:
"Die Hundertjährigen heute sind
in einigen Aspekten weniger eingeschränkt als ihre Altersgenossen
vor elf Jahren. Das trifft erfreulicherweise auch und besonders
auf die geistige Fitness zu. 52 Prozent haben keine oder nur
geringe kognitive Einbußen. 26 Prozent sind mäßig und nur 22
Prozent stark in ihrem Intellekt eingeschränkt. Demenz ist nicht
das vorherrschende Bild des hohen Alters!"
Aufgrund der besseren
medizinischen Versorgung durch mobile Dienste können zudem
Hundertjährige länger in ihren eigenen vier Wänden leben:
"Die Zahl der Hundertjährigen,
die in ihren eigenen vier Wänden leben, hat sich im Vergleich zur
ersten Studie verdoppelt."
Nichtsdestotrotz beschwört
SAUM-ALDEHOFF das Bild vom "demografischen Erdrutsch", weil sich die
Pflegesituation der Hochbetagten zukünftig ändern könnte:
"Das Gros der pflegerischen
Hilfe leisten allerdings die Angehörigen, vor allem die Töchter,
die meistens in der Nähe, wenn nicht sogar im selben Gebäude
wohnen. Diese pflegenden »Kinder« sind meist selbst längst im
Rentenalter (...). Kinderarmut doppelte Berufstätigkeit von Frau
und Mann, Mobilität: Die gesellschaftlichen Trends in Deutschland
laufen diesem Modell entgegen."
Ob die gesellschaftlichen Trends
sich tatsächlich so entwickeln, kann durchaus bezweifelt werden.
Angesichts der Tatsache, dass sich Deutschland zu einer neuen
Klassengesellschaft entwickelt, könnten die von SAUM-ALDEHOFF
beschriebenen Trends eher eine kleiner werdende Mittelschicht der
Globalisierungsgewinner betreffen, während die deutschen
Globalisierungsverlierer mit Migrantinnen im Bereich der
haushaltsnahen Dienstleistungen konkurrieren müssen. Der derzeit
viel diskutierte Mindestlohn wird den Niedriglohnsektor nicht
verschwinden lassen, sondern lediglich weiter zementieren. Die
Heterogenität im Alter könnte also steigen und die Lebenserwartung
könnte je nach Klassenzugehörigkeit auseinandertriften.
Die üblichen Szenarien schreiben
die Vergangenheit einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft weiter
und vermengen sie mit Vorstellungen über eine Wissensgesellschaft.
Die Bedingungen einer neuen Klassengesellschaft erscheinen dagegen
nicht auf dem Radar unserer Visionäre.
BOLLMANN, Ralph (2013): Verschwörung gegen die Jungen.
Wer lange lebt,
muss länger arbeiten. Das hatte Deutschland endlich begriffen.
Schwarz-Rot will davon heute nichts mehr wissen. Und die Jungen müssen
dafür zahlen,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 01.12.
Ralph BOLLMANN berichtet
über die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU, wobei er
insbesondere die Rente ab 63 beklagt, die wesentlich teuere
Mütterrente jedoch nur nebenbei erwähnt. Als Experte wird uns wieder
der neoliberale Ökonom Axel BÖRSCH-SUPAN präsentiert, dem folgende
Rechnung zugeschrieben wird:
"Rund 17 Prozent der
Beschäftigten können die neue Regel in Anspruch nehmen, rechnet
der Ökonom Börsch-Supan vor – und sie werden es auch tun. Denn
bleiben sie bis zur offiziellen Grenze von 65 oder künftig 67
Jahren im Job, steigt dadurch die Monatsrente um keinen Cent."
BÖRSCH-SUPANs Vorstellungen
zielen auf eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die
Lebenserwartung ab. Sein Mantra:
"Er plädiert schon lange
dafür, in der alternden Gesellschaft die geschenkten Jahre im
Verhältnis 2:1 aufzuteilen: Steigt die Lebenserwartung um zwei
Jahre, könnten die Menschen demnach ein Jahr länger arbeiten und
würden dann immer noch ein Jahr länger Rente beziehen. Das würde
ausreichen, um die Rentenversicherung langfristig finanzierbar zu
halten."
Unsere Neoliberale halten uns
für ganz blöd, denn die Lebenserwartung wird nicht im Verhältnis von
2:1, sondern 1:1 aufgeteilt. Was natürlich wesentlich unschöner
klingt. Hinzu kommt, dass keiner von uns weiß, ob er den zweiten
Teil dieser statistischen Lebenserwartung überhaupt erlebt. Warum
also nicht den Renteneintritt ans Einkommen koppeln? Wer mehr
verdient muss länger arbeiten, denn schließlich lebt er statistisch
auch länger. Alles andere ist schlichtweg lediglich eine
Umverteilung von unten nach oben - also Politik für die obere
Mittelschicht.
Nach dem Motto wer bietet das
höchste Renteneintrittsalter an, preist uns BOLLMANN James VAUPEL
mit einer Rente mit 72 an.
Warum nicht bis 75 arbeiten? hieß es dagegen noch 2003.
BOLLMANN zitiert zudem
selektiv aus dem aktuellen OECD-Bericht Renten auf einen Blick.
Frankreich, das uns gerne als Geburtenmusterland vorgehalten wird,
soll uns gerade in Sachen Rente nicht als Vorbild dienen. Ärgerlich
ist für BOLLMANN, dass nicht Akademiker, sondern nur Facharbeiter zu
den Begünstigten gehören. Weil das aber natürlich politisch
unkorrekt wäre, werden die Armen vorgeschoben. Sonst drängt sich die
FAS nämlich nicht gerade vor, wenn die Befürwortung höherer
Leistungen für Arme geht.
BOLLMANN hebt besonders
hervor, dass in vielen Ländern der Trend zur Grundrente gehe, denn
schließlich geht es der FAS immer um die Schwächung der
gesetzlichen Rente und die Profitinteressen der Finanzdienstleister
und der Arbeitgeber.
2014
HAUSCHILD, Jana (2014): Dement werden wir später!
Mit
der steigenden Lebenserwartung, so fürchten viele, werde Demenz für
immer mehr Menschen zum unabwendbaren Schicksal. Neue Studien
relativieren den Pessimismus,
in:
Psychologie Heute, Januar
Jana HAUSCHILD berichtet über
Studien, die darauf hindeuten, dass jüngere Generationen seltener an
Demenz leiden als ältere Generationen. Dies bedeute, dass solche
Erkrankungen weniger biologische bzw. genetischen Ursachen hätten,
sondern die Konsequenz unseres Lebensstils seien.
MÜLLER-JUNG, Joachim
(2014): Die "alten Alten" lassen sich nicht mehr wegschieben.
Jedes zweite Baby kann heute schon mit einem Lebensalter
von mehr als 100 Jahren rechnen. Die ganz Alten schreien nach Respekt.
In einer neuen Studie werden Gesellschaft und Politik aufgefordert,
endlich etwas zu tun,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.03.
FAZ-Redakteur Joachim
MÜLLER-JUNG, Jahrgang 1964 und Autor des Buchs
Das Ende der Krankheit, berichtet über die
Heidelberger Hundertjährigenstudie.
Die Versicherungsbranche als Sponsor und die Gerontologie als
"Lobbyorganisation privilegierter Alter" haben ein gemeinsames
Interesse an der Überzeichnung eines Trends: Die
Versicherungsbranche muss die Lebenserwartung möglichst hoch
ansetzen, um bei einer steigenden Lebenserwartung, ihre Profite
maximieren zu können. Die Gerontologie wiederum negiert die
Heterogenität des Alters und nimmt die privilegierten Alten zum
Maßstab.
Silke van DYK fordert deshalb:
"Ein homogenisierender Blick
auf das Alter wird der Facettenvielfalt des Alters, die nicht nur
durch eine Pluralisierung der Lebensstile, sondern eben auch durch
soziale Ungleichheit bedingt ist, nicht gerecht. (...). Eine
kritische wissenschaftliche Rezeption der politischen Entdeckung
des erfolgreichen und produktiven Alters sollte (...) an diesen
Ungleichheiten ansetzen und zur Debatte stellen, inwiefern das
propagierte Bild des produktiven Alter(n)s am Alltag einer
kleinen, privilegierten Minderheit orientiert ist, deren (neue)
Freiheiten zu (disziplinierenden) Normierungen für andere werden."
(PROKLA, 146,
Nr.1, März 2007, S.109)
DESTATIS (2014): Zensus 2011: Knapp ein Viertel der Ausländer stammt
aus der Türkei,
in: Pressemeldung Statistisches
Bundesamt v. 10.04.
Nicht was das Statistische
Bundesamt meldet, sondern was es nicht meldet, macht die Brisanz
aus. Während die Pressemeldung suggeriert, dass es kaum Abweichungen
durch den Zensus 2011 gebe, so ist das nur die halbe Wahrheit, denn
vor dem Zensus fand bereits die Bereinigung der Melderegister statt,
die nach und nach in die amtliche Statistik eingeflossen ist. Würde
man also die Bereinigung der Melderegister zusammen mit dem Zensus
2011 betrachten, dann ergäben sich ganz andere Abweichungen.
Im Gegensatz zur Pressemeldung
sind die
veröffentlichten Grunddaten zu Alter und Geschlecht viel
aufschlussreicher. So zeigt sich z.B. dass es bei den
Hundertjährigen und älteren Personen über 7 mal mehr Frauen als
Männer gibt. Bei den 85 jährigen Personen sind es immerhin noch
doppelt so viele Frauen als Männer. Was bedeutet dies aber für die
Entwicklung der Pflegebedürftigen und den Pflegebedarf?
Wenn die Lebenserwartung für
Männer und Frauen derart weit auseinanderklafft, warum spielt das
bei der Debatte um die Zukunft der Sozialsysteme keinerlei Rolle?
In letzter Zeit wird gerne über die Heidelberger
Hundertjährigenstudie berichtet. Es stellt sich deshalb die
Frage, wie aussagekräftig Studien sind, bei denen von vielen Frauen
und wenigen Männern, die zwei Weltkriege überlebt haben, auf die
zukünftige Entwicklung des Lebens von Hochbetagten geschlossen wird.
Wann also beginnt eine Debatte
ohne Scheuklappen jenseits eines von diversen Lobbygruppen
inszenierten demografischen Wandels, der nichts anderes als eine
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme ist? Welche
Auswirkungen hat der gesellschaftliche Wandel auf das zukünftige
Leben? Und was bedeutet die politisch betriebene Zunahme sozialer
Ungleichheit (Klasse, Geschlecht, Region usw.) für das Leben im
Alter? Keine dieser Fragen wird heutzutage ernsthaft diskutiert.
RÉTHY, Laura
& Regina KÖHLER
(2014): Pflege in Not – Berlins größte Herausforderung.
Im Jahr 2030 müssen 170.000
Berliner gepflegt werden – ein Anstieg um mehr als 50 Prozent. Es ist
eine der größten Herausforderungen der Zukunft. Ist Berlin ihr
gewachsen? Ein Report,
in:
Berliner Morgenpost v. 24.08.
"In Berlin werden heute 110.000
Menschen gepflegt. 2030 werden es 170.000 sein, ein Anstieg um
mehr als die Hälfte. Die Zahl der über 80-Jährigen wird bis dahin
um mehr als 80 Prozent zunehmen. Wie all diese Menschen adäquat
versorgt werden sollen, ist nicht klar. Die Bertelsmann Stiftung
hat errechnet, dass 2030 allein in Berlin 20.000 Pflegekräfte
fehlen werden. Experten gehen davon aus, dass bald schon jeder
dritte Schulabsolvent in Deutschland einen Beruf in der Pflege
ergreifen müsste, um den Bedarf zu decken",
rechnen Laura RÉTHY & Regina
KÖHLER vor. Die Datenbasis des
Pflegereport 2030 der Bertelsmann Stiftung stammt aus dem
Jahr 2009 und ist aufgrund des Zensus 2011 und des - gegen jegliche
Prognose - stattfindende Bevölkerungswachstums vor allem in den
Großstädten völlig veraltet.
Fragwürdig ist die Annahme zur
Pflegebedürftigkeit, dass sich zwar die Lebenserwartung erhöht, aber
dies keinerlei Auswirkungen auf den Gesundheitszustand hat.
Der Statistiker Gerd BOSBACH hat solche Annahmen zu Recht
kritisiert. Außerdem ist davon auszugehen, dass der
Anteil der Einpersonenhaushalte bei älteren Menschen zurückgeht,
weil sich der geschlechtsspezifische Altersunterschied von Paaren
sowie die geschlechtsspezifische Lebenserwartung annähert. Inwiefern
die zunehmende räumliche Mobilität bzw. politische Entscheidungen
hinsichtlich der Pflegeversicherung einen Einfluss haben, das wäre
anhand unterschiedlicher Szenarien zu klären.
Aufgrund der Realitätsferne der
Annahmen sind Vorausberechnungen lediglich über 5 Jahre zu fordern.
Dann kann nämlich überprüft werden, inwiefern die Annahmen überhaupt
realistisch wareb. Außerdem ist zu fordern, dass die Annahmen der
jeweils letzten Vorausberechnung und das Eintreffen bei jeder neuen
Vorausberechnung mitzuliefern sind. Weil dies die Glaubwürdigkeit
solcher Vorausberechnungen in Frage stellen würde, wird dies
unterlassen. Stattdessen werden uns ständig neue
Langfristvorausberechnungen vorgelegt, deren Überprüfbarkeit durch
die langen Zeiträume verhindert werden.
Fazit: Statt Kaffeesatzleserei
ist Transparenz gefordert!
MPIDR (2014):
Späte Rente, längeres Leben.
Männer, die bereits mit 60 Jahren
aufhören zu arbeiten, haben eine deutlich verringerte Lebenserwartung,
in:
Demografische Forschung Aus Erster Hand,
Nr.3 v. 07.10.
Frührentner sterben früher als
länger Arbeitende, weil Arbeit gesund erhält, behaupten neoliberale
Verfechter einer Rente mit 70 (90)... Das Gegenteil trifft jedoch
zu: der Zusammenhang zwischen schlechtem Gesundheitszustand und
frühem Renteneintritt ist bei Männern bislang stärker als es die
neoliberale Ideologie behauptet. Dies gilt nach einer neuen
Untersuchung zumindest für die Anfang der 1930er Jahre geborenen
Männer. KÜHNTOPF & TIVIG kommen deshalb zu dem Schluss, dass "die
Lasten für das deutsche Rentensystem insgesamt geringer sein könnten
als allgemeinhin angenommen."
HAARHOFF, Heike (2014): Magie des Alters.
Oldies: 100-Jährige heute sind
agiler als 100-Jährige vor 100 Jahren. Und sie werden immer mehr. Aber
warum? Die Erforschung eines schillernden Fisches könnte das Rätsel
lösen,
in:
TAZ v. 11.10.
Heike HAARHOFF, Jahrgang 1969 und
Herausgeberin des Buchs Organversagen, berichtet über die Zunahme
der Hundertjährigen und Älteren in Deutschland:
"»Die Kinder, die heute auf den
Geburtsstationen liegen, sind bereits die Bürgerinnen und Bürger
einer Gesellschaft der Hundertjährigen«, prognostiziert James
Vaupel, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische
Forschung in Rostock. Laut dem Datenreport des Statistischen
Bundesamtes zu Bevölkerung und Demografie 2013, hat ein 2010 in
Deutschland geborenes Baby eine Chance von 50 Prozent, hundert
Jahre alt zu werden.
Schon jetzt ist die Geschwindigkeit, mit der die Zahl der
Hundertjährigen in Deutschland wächst, frappierend: Zwischen 2000
und 2010 stieg sie nach Angaben der
Human
Mortality Database von 5.937 auf 13.198, das entspricht einer
Zunahme von 122 Prozent.
Und ähnlich rasant geht es weiter: Pro Dekade erhöht sich ihre
Zahl um mehr als das Doppelte. Für Deutschland heißt das: Die Zahl
der Hundertjährigen wird zwischen 2010 und 2040 von damals 13.000
auf rund 140.000 gestiegen sein.
Interessant ist dabei vor allem, wie der Zugewinn an Lebensjahren
heute zustande kommt: Bis 1920 nahm die Lebenserwartung vor allem
zu, weil die Sterblichkeit von Kindern und Jugendlichen
beträchtlich sank. Inzwischen geht die Verlängerung des Lebens
dagegen zu fast 80 Prozent auf das Konto einer sinkenden
Sterblichkeit in der Klasse der über 65-Jährigen, erklärt der
Rostocker Demograf Rembrandt Scholz."
Als
einzige wissenschaftliche Studie zur Situation der Hundertjährigen
und Älteren in Deutschland existiert jedoch bislang nur eine
Heidelberger Studie. Hundertjährige und Ältere sollen sich vor
allem auf
Sardinien, in Kalifornien oder auf der japanischen Insel Okinawa
finden. Auch innerhalb von Deutschland sind Hundertjährige ungleich
verteilt.
Da die Anzahl der
Hundertjährigen und Älteren vergleichsweise klein ist und auch im
Jahr 2040 gerade einmal 0,2 Prozent der Bevölkerung in Deutschland
so alt sein wird (bei einer Bevölkerungszahl von ca. 70 Mill.
Menschen), ist der Beitrag von HAARHOFF in erster Linie der Magie
der Zahl 100 geschuldet. Stimmen die Prognosen von James VAUPEL,
dann wird erst im 22. Jahrhundert den Hundertjährigen für die heute
geborenen Kinder eine Bedeutung zukommen wie sie heutzutage etwa die
80-Jährigen und Älteren haben - vorausgesetzt die Lebensbedingungen
und der Gesundheitszustand der Hochaltrigen ändern sich in diesem
langen Zeitraum nicht entscheidend.
PETERSDORFF, Winand von
(2014): Von der Schönheit des Alterns.
Deutschland vergreist. Was für ein
Fortschritt. Denn die Alten von heute sind gesund, mobil und
lernfähig. Sie können Bäume ausreißen, wenn man sie nur ließe. Es wird
Zeit, einmal ganz entspannt über die Rente mit 83 nachzudenken,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 23.11.
Wenn es um die Verlängerung der
Lebensarbeitszeit geht, dann sind plötzlich alle Hochbetagten
kerngesund, geht es um geplante Einschnitte ins Sozialsystem, dann
sind Hochbetagte plötzlich alle pflegebedürftig. So verspielt man
Glaubwürdigkeit!
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