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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Die Entwicklung der Lebenserwartung in Deutschland

 
       
   

Die Debatte um den Anstieg der Lebenserwartung, die Gesundheit Älterer, die Unterschiede der Sterblichkeit und ihre Bedeutung für die Sozialsysteme (Teil 3)

 
       
   

Die Chronologie der Debatte

 
       
   
     
 

Vorbemerkung

Die Entwicklung der Lebenserwartung gilt Demografen und Ökonomen neben der Entwicklung der Geburten in Deutschland als das gesellschaftliche Hauptproblem des demografischen Wandels. Insbesondere die Rentenversicherung und die Krankenversicherung sowie die Pflegeversicherung (Stichworte: Pflegebedarf bzw. Pflegenotstand) erscheint in einer Gesellschaft der Langlebigen als bedroht. Spätestens seit Ende der 1970er Jahre wird das Rentensystem aufgrund der steigenden Altenlast immer wieder vor dem Kollaps gesehen. Leistungseinschnitte oder Privatisierungen gelten Neoliberalen bzw. Nationalkonservativen als einzige Möglichkeit, um die Sozialversicherungssysteme zu retten. Dabei bleiben die zentralen Fragen außen vor: Was bedeutet der Anstieg der Lebenserwartung überhaupt für unsere Gesellschaft? Nicht demografische Aspekte, sondern nicht-demografische Aspekte wie der medizinische und technologische Fortschritt, die Gesundheit jüngerer und älterer Menschen, infrastrukturelle und arbeitsmarktstrukturelle Veränderungen sind in der hier vertretenen Sicht bedeutender. Die Zukunft Deutschlands könnte also ganz anders aussehen als dies die üblichen Prognosen behaupten. Diese Bibliografie widmet sich deshalb in erster Linie jenen Fragen, die gewöhnlich eher vernachlässigt werden, weil sie nicht von mächtigen Interessensgruppen vorangetrieben werden.

Kommentierte Bibliografie (Teil 3: 2010 - 2014)

2010

RÖTZER, Florian (2010): Wir leben länger, weil die Folgen des Alterns durch Medizin und Wohlstand verzögert werden.
Seit 170 Jahren ist die Lebenserwartung in einigen Ländern um jeweils 2,5 Jahre pro Jahrzehnt angestiegen – aber wie geht es weiter?,
in: Telepolis v. 25.03.

BRACHAT-SCHWARZ, Werner (2010): Die Lebenserwartung der baden-württembergischen Bevölkerung.
Aktuelle Trends und Perspektiven,
in:
Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Heft 7

"Ausgeprägte Unterschiede in der Lebenserwartung gibt es nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen den Teilräumen des Landes. Innerhalb Baden-Württembergs weist die Bevölkerung im Landkreis Tübingen sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern die höchste Lebenserwartung auf; mit 84,3 Jahren bei den Frauen und 79,7 Jahren bei den Männern liegt sie immerhin jeweils um ein Jahr höher als landesweit. Am zweitlängsten leben – im Schnitt – die Frauen im Enzkreis und die Männer im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald (...). Am niedrigsten ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen in Mannheim und der Männer im Landkreis Schwäbisch Hall",

berichtet Werner BRACHAT-SCHWARZ über die regionalen Unterschiede bei der Lebenserwartung von Männern und Frauen in Baden-Württemberg gemäß der Sterbetafel 2006/2008.

Nicolas EBERSTADT & Hans GROTH (2010): Demografischer Stress in der entwickelten Welt.
Die Folgen der Alterung von Gesellschaften für die Staatsfinanzen werden oftmals unterschätzt,
in: Neue Zürcher Zeitung v. 06.09.

Im Jahr 2004 erregte Frank SCHIRRMACHER Deutschland mit seinem Bestseller Das Methusalem-Komplott Aufsehen. Die Welt werde aufgrund der Alterung der westlichen Gesellschaften in einen Ausnahmezustand versetzt.

Ein neues Buch der Zeit-Redakteure Manuel J. HARTUNG & Cosima SCHMITT mit dem programmatischen Titel Die netten Jahre sind vorbei beschwört aufgrund der so genannten Babyboomer-Generation einen Generationenkrieg. Was ist dran an dieser Behauptung? Im neuen Herbstthema wird auf dieses Thema eingegangen, denn offensichtlich hat SCHIRRMACHER die Probleme der USA auf Deutschland projiziert, obwohl unsere Gesellschaft viel geringere Probleme mit den Babyboomern bekommen wird.

Die Ökonomen EBERSTADT & GROTH zeigen in dem NZZ-Aritkel aufgrund einer Prognose der United Nations Population Division (UNPD) das finanzielle Ausmaß, in dem die OECD-Länder durch die Alterung im Jahr 2030 betroffen sein werden (Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt).

Im Artikel werden die Probleme der Länder Deutschland, Italien Frankreich, Japan und die USA näher betrachtet. Weder Frankreich (300 %), das mit einem tollen Geburtenniveau trumpfen kann (hier wird, wie auch auf dieser Website betont, kritisiert, dass unklar ist, wie sich die Geburtenraten ethnisch zusammensetzen), noch die ebenfalls mit einem Babyboom gesegnete USA (300 %), erst recht nicht Japan (600 %), dessen Alterungssprobleme seit langem bekannt sind, sondern Deutschland (200 %) und Italien (200 %) stehen relativ gut da.

Da es den beiden Ökonomen um eine Einführung eines demografischen Stresstests geht, ist die Lage natürlich in allen Ländern ernst. Auch wenn - entgegen den Behauptungen der Wissenschaftler - solche Prognosen mit großen Problemen behaftet sind, so lassen sich doch Trends erkennen. Die genannten Trends stimmen im Großen und Ganzen mit den auf dieser Website seit Jahren betonten Annahmen zu den tatsächlichen Problemen verschiedener Länder überein.

DESTATIS (2010): Lebenserwartung in Deutschland erreicht höchsten Stand,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt v. 04.11.

Die "Lebenserwartung in Deutschland (ist) weiter angestiegen. Sie beträgt nach der Sterbetafel 2007/2009 für neugeborene Jungen 77 Jahre und 4 Monate und für neugeborene Mädchen 82 Jahre und 6 Monate. Dies ist der höchste Stand seit Berechnung der ersten Sterbetafel 1871/1881 für das Deutsche Reich. Im Vergleich zur vorherigen Sterbetafel 2006/2008 stieg die Lebenserwartung für neugeborene Jungen um zwei Monate und für Mädchen um einen Monat.
Auch für ältere Menschen hat die Lebenserwartung um einen weiteren Monat zugenommen. Nach der Sterbetafel 2007/2009 beläuft sich die noch verbleibende (fernere) Lebenserwartung von 60-jährigen Männern auf weitere 21 Jahre. 60-jährige Frauen können statistisch gesehen mit weiteren 24 Jahren und 10 Monaten rechnen.
Aus der Sterbetafel 2007/2009 lässt sich darüber hinaus ablesen, dass nach den aktuellen Sterblichkeitsverhältnissen statistisch gesehen jeder zweite Mann in Deutschland wenigstens 80 Jahre alt werden und jede zweite Frau sogar ihren 85. Geburtstag erleben kann. Zumindest das 60. Lebensjahr erreichen 89,2% der Männer und 94,1% der Frauen.
Im Deutschen Reich betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines neugeborenen Jungen in der Berichtsperiode 1871/1881 nur 35 Jahre und 7 Monate, ein neugeborenes Mädchen konnte mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 38 Jahren und 5 Monaten rechnen. Demnach hat sich die Lebenserwartung der Neugeborenen in den vergangenen etwa 130 Jahren mehr als verdoppelt. Dazu trug zunächst vor allem der Rückgang der Kindersterblichkeit bei. In den letzten Jahrzehnten ist auch die Sterblichkeit Älterer stark gesunken.
Die aktuellen Periodensterbetafeln der amtlichen Statistik basieren auf den Daten über die Gestorbenen und die Durchschnittsbevölkerung der letzten drei Jahre. Es handelt sich hierbei um eine Momentaufnahme der Sterblichkeitsverhältnisse der gesamten Bevölkerung für diesen Zeitraum. Die fernere Lebenserwartung gibt daher an, wie viele weitere Lebensjahre Menschen eines bestimmten Alters nach den in der aktuellen Berichtsperiode - zum Beispiel 2007/2009 - geltenden Sterblichkeitsverhältnissen im Durchschnitt noch leben könnten. Eine Abschätzung der Entwicklung der Lebenserwartung in der Zukunft ist damit also nicht eingeschlossen", heißt es in der Pressemitteilung

PLICKERT, Philip (2010): Frührente verkürzt das Leben.
Der Sonntagsökonom: Männer, die vorzeitig die Arbeit aufgeben, verfallen geistig und körperlich. Frauen nicht,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 21.11.

Philip PLICKERT setzt den Gewerkschaften mit ihrem Dachdecker den toten Frührentner entgegen. Das Diskussionspapier Fatal Attraction? Access to Early Retirement and Mortality von Andreas KUHN, Jean-Philippe WUELLRICH und Josef ZWEIMÜLLER will uns einreden, dass die Frührente ungesund sei. Dabei hat das erhöhte Sterblichkeitsrisiko nichts mit der Erwerbsarbeit zu tun, sondern mit den Folgen des Lebensstils im Ruhestand:

"Als Gründe für die höhere Sterblichkeit und die vermehrten Herz- und Kreislauf-Probleme sehen die Forscher vor allem einen schlechteren Lebenswandel der Männer. Sie bewegen sich zu wenig, rauchen und trinken mehr als in der Arbeitsphase. Frauen hingegen haben sich offenbar besser unter Kontrolle."

PLICKERT setzt zudem Frührente mit Arbeitslosigkeit gleich, was nur für jene zutrifft, die dazu mehr oder weniger gezwungen werden und in einem sozialen Umfeld leben, das die Frührente nicht akzeptiert. Daraus die Notwendigkeit des längeren Arbeitens abzuleiten wie das Neoliberale tun, ist eine einseitige Sichtweise.

HANK, Rainer (2010): Bloß keine Rente mit 67.
Soll doch jeder arbeiten, solange er will. Es braucht nur eine Regel: Wer länger schuftet, erhält mehr Rente,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 14.11.

Rainer HANK geht die Rente mit 67 nicht weit genug, sondern er will das Renteneintrittsalter mittels Abschlägen und Zuschlägen steuern. Arbeiten über 67 Jahre hinaus solle lukrativer werden. Im Vorfeld des Berichts zur Lage älterer Arbeitnehmer, den Ursula von der LEYEN am Mittwoch vorlegt, erläutert uns HANK, dass die Beschäftigungssituation der Rente mit 67 nicht im Wege steht:

"Die Beschäftigung Älterer hat sich in Deutschland überdurchschnittlich verbessert. Seit 2003 ist die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 65 Jahren um ein Fünftel gestiegen auf 5,5 Millionen Arbeitnehmer. Die Erwerbstätigenquote dieser Altersgruppe hat sich in der vergangenen Dekade fast verdoppelt. Zumeist sind das sozialversicherungspflichtige, also ordentliche Jobs."

Eine Meldung der SZ zur gestiegenen Arbeitslosigkeit lässt HANK nicht gelten, sondern sei lediglich ein Taschenspielertrick:

"Eine Gruppe von Vorruheständlern, die früher nicht als arbeitslos zählte, wird seit 2008 registriert. Statistisch ist das auffällig. Für die Rente mit 67 lässt sich daraus gar nichts ableiten." 

KAUBE, Jürgen & Reinhard MÜLLER (2010): Krise! Welche Krise?
Provozierendes über Zustand und Zukunft des Sozialstaats in Deutschland,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.11.

In der ansonsten sozialstaatskritischen FAZ wird plötzlich die Anpassungsfähigkeit des Sozialstaats bejubelt und der demografische Wandel als "harmlos" eingeschätzt. Da dürfte sich der Hysteriker Frank SCHIRRMACHER ziemlich auf seinen Schlips getreten fühlen. Die Einschätzung des demografischen Wandels als harmlos kommt nicht etwa von dem gewerkschaftsnahen Statistiker Gerd BOSBACH, der dies bereits seit einigen Jahren vertritt, sondern von Axel BÖRSCH-SUPAN, der von der FAZ als Nachfolger von Bert RÜRUP ins Gespräch gebracht wurde, dann aber nicht zum Zuge kam.

OBERHUBER, Nadine (2010): Jungs, es wird teurer.
Männer leben im Durchschnitt kürzer als Frauen und bezahlen für Versicherungen daher weniger. Das könnte sich bald ändern,
in: Die ZEIT Nr.52 v. 22.12.

"Demnächst entscheidet der Europäische Gerichtshof darüber, ob es rechtens ist, dass Männer und Frauen unterschiedlich viel für ihre Policen bezahlen. Besonders bei Kranken-, Kapitallebens- und privaten Rentenversicherungen macht der kleine Unterschied ein paar Zehntausend, manchmal sogar Hunderttausend Euro aus, die die Frau mehr bezahlen muss. Sie lebe länger, sie verursache somit höhere Kosten oder kassiere länger Rentenzahlungen, so die Begründung bisher. Darum müsse sie mehr einzahlen oder sich mit geringeren Auszahlungen zufrieden geben. Das lange Leben der Frau ist laut Versicherungsbranche ein Naturgesetz, damit rechnet sie.
Belege dafür gibt es nicht. Frauen haben nicht die besseren Gene oder biologische Vorteile. Vielmehr könnten beide Geschlechter gleich alt werden, wenn die Männer nur einen gesünderen Lebensstil pflegten",

erzählt uns Nadine OBERHUBER, die uns weiter berichtet, dass der Europäische Gerichtshof in einem Urteil aus dem Jahr 2004 für deutsche Versicherer eine Ausnahme vorsah und damit Unisex-Tarife in Deutschland verhindert wurden. Heinz ROTHGANG, Sibylle RAASCH, Marc LUY, Paola Di GIULIO und Ute SACKSOFSKY werden als Kritiker dieser Ausnahmeregelung zitiert.

OBERHUBER nennt versicherungsmathematische Begründungen als Säbelrasseln und weist darauf hin, dass Unisextarife inzwischen erfolgreich bei der Riester-Rente eingeführt wurden:

"In anderen Ländern gibt es längst Unisextarife, auch bei der Riester-Rente wurde sie zwischenzeitlich eingeführt, ohne dass dies die Anbieter in Bedrängnis gebracht hätte. Im Gegenteil: Männer riestern fleißig weiter. Auch wenn sie, wie die Universität Mannheim herausfand, im Schnitt sieben Prozent mehr zahlen als zuvor, während Frauen ein Prozent sparen."

SEIBT, Gustav (2010): Dem Bewahren, Schönen, Guten.
Erst ging es nur um Nachhaltigkeit und Manufactum-Besteck. Dann war plötzlich die Rede von Schulreformen und Angst vor Überfremdung. Was bisher aussah wie Lifestyle, hat in Wirklichkeit den Boden bereitet für einen neuen Konservatismus. Wir wollen es nur nicht wahrhaben,
in: SZ-Magazin Nr.47 v. 26.11.

"Seit einigen Jahren führen wir Demografiedebatten, Migrantendebatten und Sozialstaatsdebatten. Diese Themen bündelt das erfolgreichste politische Buch, das in der Geschichte der Bundesrepublik je erschien – Thilo Sarrazins Weckruf Deutschland schafft sich ab. Die um ihre breite Mitte kreisende Politik wurde kalt erwischt. Noch ist daraus keine politische Bewegung geworden, aber Sarrazins Forderungen werden die Parteien der Mitte so verändern, wie es auf der anderen Seite der kurzfristige Erfolg der Linkspartei auch tat",

meint Gustav SEIBT, Jahrgang 1959.

"Um 2002 trat in unser Bewusstsein, dass wir eine alternde Gesellschaft sind",

schreibt SEIBT, nur weil die SZ damals das Thema Demografischer Wandel verpennt hatte und dann stramm mit Niedergangsszenarien im Agenda-Mainstream mitmarschierte. Dummerweise wurde gerade in der FAZ der Untergang des Abendlandes abgeblasen. Und Frank SCHIRRMACHERs Methusalem-Komplett fällt mangels Substanz leider aus. Nach der Volkszählung dürfte die deutsche Demografiewelt sowieso völlig anders aussehen. Die Debatte um den Geburtenrückgang könnte durch einen aktuellen Artikel von Olga PÖTZSCH in der Oktoberausgabe der ehemaligen Zeitschrift für Bevölkerungspolitik (neu: Comparative Population Studies) neuen Zündstoff erhalten, denn die in den 1950er Jahren geborenen Frauenjahrgänge haben - im Gegensatz zur hysterisch geführten Debatte des letzten Jahrzehntes - nur eine minimal höhere Geburtenrate als die Mitte der 1960er Jahre Geborenen erzielt: Der prominente westdeutsche Frauenjahrgang 1965 hat eine Geburtenrate von ca. 1,5 erzielt, während die 1955 Geborenen gerade einmal auf 1,6 kommen (siehe Tabelle 3, S.183). Es gibt in Deutschland bislang keinen einzigen Frauenjahrgang, der am Ende seiner reproduktiven Phase eine Geburtenrate von 1,3 erzielt hätte. Jene Zahl also, auf die sich die hysterische deutsche Debatte bezieht. Am Ende könnten unsere Eliten à la Gustav SEIBT (Jahrgang 1959) und Frank SCHIRRMACHER (ebenfalls Jahrgang 1959) ganz schön alt aussehen mit ihren Prognosen. Denn womit ließe sich eine Debatte um Generationengerechtigkeit rechtfertigen, wenn sich die Kontrahenten in ihrem Geburtenertrag nur unwesentlich unterscheiden? Wer selber im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich keine Steine werfen.

STEINAECKER, Thomas von (2010): Wer glaubt denn an die Rente mit 67?
Ich kann schon nicht mehr schlafen, wenn ich an mein Alter denke. Die Politik hat noch vierunddreißig Jahre, um eine Lösung für mich zu finden,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14.12.

Im hysterischen SCHIRRMACHER-Feuilleton ist wieder einmal ein jung vergreister Endzeit-Visionär unterwegs. Da wird die Bevölkerungspyramide glorifiziert, also das Wegsterben der Kinder. Da wird der Pilz beschworen, den bereits die nächste Volkszählung zurückstutzen könnte. Die derzeitige Altersstruktur ähnelt dagegen eher einer bauchigen Vase. Endzeitvisionäre in den 1930er Jahren hatten den Pilz für Deutschland bereits für das Jahr 1975 vorgesehen.

Vorausberechnungen können innerhalb von weniger als 10 Jahren kippen, wie Dirk KONIETZKA & Michaela KREYENFELD in ihrem aufschlussreichen Aufsatz Zwischen soziologischen Makrotheorien und demographischen Vorausberechnungen - Möglichkeiten und Grenzen des Blicks in die Zukunft der Familien- und Geburtenentwicklung am Beispiel von Vorausberechnungen aus den 1950er und 1960er Jahren aufzeigen.

Viele haben es heutzutage verdrängt, dass man in den 1950er Jahren bereits das Aussterben der Deutschen befürchtete, während man den Baby-Boom in Deutschland als solchen erst erkannte als er bereits fast vorbei war, nur soviel zum Problem der Zeitdiagnostik.

SCHERBOV, Sergei & Warren SANDERSON (2010): Negative Folgen der Alterung bislang überbewertet.
Neue Maßzahlen für aktuelle Bevölkerungsentwicklung,
in: Demografische Forschung aus erster Hand, Heft 4, 20.12.

Der Untergang des Abendlandes, den die Hysteriker von FAZ und SZ ständig neu beschwören, muss abgesagt werden. SCHERBOV & SANDERSON kritisieren den bislang gängigen Maßstab des Altersquotienten, der das Verhältnis der Erwerbsfähigen zu den Rentnern ausdrücken soll. Diese Maßzahl, die nicht einmal die letzten Jahrzehnte angemessen beschrieben hat, angesichts der massenhaften Zunahme Postadoleszenter 15 - 30 Jähriger (Auszubildende, Studenten und Praktikanten) und der gleichzeitigen Frühverrentungspraxis der Unternehmen.

Verniedlicht dieser Altersquotient sozusagen die Belastungen der Vergangenheit für die Sozialsysteme, so behauptet er für die Zukunft, dass diese Belastung konstant bleibt, obwohl z.B. die steigende Lebenserwartung die Kosten für 65 - 80Jährige in den nächsten Jahren voraussichtlich senken wird. SCHERBOV & SANDERSON stellen 2 alternative Maßzahlen vor, die unseren westlichen Industriestaaten angemessener sind.

2011

STEINBERG, Juliane & Gabriele DOBLHAMMER (2011): Blick in die Zukunft bleibt mit Unsicherheit behaftet.
Dennoch können demografische Bevölkerungsprognosen verlässliche Wegweiser sein,
in: Demografische Forschung aus erster Hand, Nr.1

Passend zur aktuellen Medienkampagne zur Erhöhung des Rentenentrittsalters (ZEIT-Dossier Rentnermacht v. 07.04.2001), haben sich STEINBERG & DOBLHAMMER 3 Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes herausgesucht, die belegen, dass bislang der Anstieg der Lebenserwartung vom Statistischen Bundesamt unterschätzt wurde (Artikel als PDF-Datei hier).

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE-Thema: Demografischer Wandel

SCHWENTKER, Björn & James W. VAUPEL (2011): Eine neue Kultur des Wandels,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.10-11 v. 07.03.

"Ein 2010 in Deutschland geborenes Baby wird mit mindestens 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit hundert Jahre alt. Die Kinder, die heute auf den Geburtsstationen liegen, sind bereits die Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft der Hundertjährigen.
Gleichzeitig erreichen schon jetzt immer mehr Senioren ein sehr hohes Alter. Weil die verbleibende Lebenserwartung im Verlauf des Lebens steigt, können 65-jährige Frauen heute mit im Durchschnitt 20 weiteren Jahren rechnen, und sogar 85-jährige noch mit sechs. Ein nicht nur langes, sondern sehr langes Leben ist also kein Phänomen der ferneren Zukunft. Es ist bereits Wirklichkeit. Deswegen ist auch der radikale Wandel von Politik und Gesellschaft, den die Erweiterung unseres Lebenshorizontes nötig macht, kein Projekt, das sich für die Zukunft aufheben ließe. Es gilt, dies jetzt anzugehen" (S.5),

verkünden uns SCHWENTKER & VAUPEL. Noch im Jahr 2003 wurde uns von Jürgen KAUBE in seinem VAUPEL-Porträt die Generation Golf (1965 bis 1975Geborene) zur Generation der Hundertjährigen verklärt. Nun klingt das ganz anders. Wenn nun die fernere Lebenserwartung von 65-Jährigen oder gar 85-Jährigen herangezogen wird, um die Steigerung der Lebenserwartung zu dramatisieren, dann ist das unseriös. Es müsste dann auch dazu geschrieben werden, wie viele Menschen dann schon tot sind, weil sie das 65. bzw. 85. Lebensjahr nicht erreicht haben. Was hier als die Gesellschaft der Hundertjährigen phantasiert wird, ist eine Gesellschaft der Besserverdienenden, bei der die Klassenunterschiede geleugnet werden.

BOLLMANN, Ralph (2011): Rente mit 69, na und?
Länger leben, länger arbeiten: Nirgends ist die Rechnung so einfach wie bei der Rente,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.05.

Ralph BOLLMANN ist der Simplifizierer. Alles ganz einfach! Besonders bei der Alterssicherung:

"Wir müssen ganz einfach nur länger arbeiten. Dann steigen in der Rentenkasse die Beitragseinnahmen, die Kosten sinken. Und gegen den Mangel an Fachkräften ist auch etwas getan."

Und davor soll uns nun auch nicht das Kapitaldeckungsverfahren schützen können. Dumm nur, dass diese Einsicht uns immer nur dann gepredigt wird, wenn der Fokus der Rentendebatte auf anderen Reformen liegt. Abschaffen will BOLLMANN die Kapitaldeckung natürlich auch nicht. Dafür haben Neoliberale das Argument von der Risikostreuung geschaffen. Diese muss man sich jedoch erst leisten können.

Am Schluss wendet sich BOLLMANN gegen starre Altersgrenzen. Er bleibt dabei jedoch möglichst vage und bringt zudem noch das Langlebigkeitsrisiko ins Spiel:

"Es bleibt der Einwand, dass ein festes Rentenalter sozial ungerecht ist. Ein Universitätsprofessor wird im Zweifelsfall froh sein, wenn er für sein lebenslanges Forschen noch ein paar Jahre länger auf Assistenten und Hilfskräfte zurückgreifen darf. Beim Bauarbeiter ist das anders. Er wird mit Abschlägen in Frührente gehen, obwohl seine statistische Lebenserwartung geringer ist, er in der Summe also ohnehin geringere Altersbezüge erhält.
Das Argument spricht jedoch nicht gegen längeres Arbeiten, sondern allenfalls gegen eine starre Altersgrenze - oder für ein neues Beitragssystem, das sich stärker am Risiko orientiert: Die Gefahr der Langlebigkeit, gegen die eine Rentenversicherung ihre Mitglieder materiell absichert, ist beim Bauarbeiter deutlich geringer als beim Professor. Warum soll er also nicht niedrigere Beiträge bezahlen? Das würde nicht nur die Rentenversicherung gerechter, sondern auch die Arbeit attraktiver machen."

RÖTZER, Florian (2011): Lebensentscheidende Geografie.
Am Beispiel Großbritannien wird deutlich, wie stark der Lebensraum die Lebenserwartung bestimmen kann,
in:
Telepolis v. 09.06.

CORNELIUS, Ivar (2011): Regionale Unterschiede in der Lebenserwartung in Baden-Württemberg,
in:
Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Heft 9

DESTATIS (2011): Lebenserwartung in Deutschland erneut leicht gestiegen,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt v. 20.09.

"Die Lebenserwartung in Deutschland ist erneut leicht angestiegen: Sie beträgt nach der Sterbetafel 2008/2010 für neugeborene Jungen 77 Jahre und 6 Monate und für neugeborene Mädchen 82 Jahre und 7 Monate. (...)(Im) Vergleich zur vorherigen Sterbetafel 2007/2009 (stieg) die Lebenserwartung für neugeborene Jungen um zwei Monate und für Mädchen um einen Monat.
Auch für ältere Menschen hat die Lebenserwartung weiter zugenommen. Nach der Sterbetafel 2008/2010 beläuft sich zum Beispiel die noch verbleibende (fernere) Lebenserwartung von 65-jährigen Männern auf weitere 17 Jahre und 4 Monate. 65-jährige Frauen können statistisch gesehen mit weiteren 20 Jahren und 7 Monaten rechnen. Im Vergleich zur vorherigen Sterbetafel 2007/2009 hat damit die Lebenserwartung bei den 65-jährigen Frauen und Männern jeweils um 1 Monat zugenommen.
Aus der Sterbetafel 2008/2010 lässt sich darüber hinaus ablesen, dass nach den aktuellen Sterblichkeitsverhältnissen statistisch gesehen jeder zweite Mann in Deutschland wenigstens 80 Jahre alt werden und jede zweite Frau sogar ihren 85. Geburtstag erleben kann. Zumindest das 60. Lebensjahr erreichen statistisch gesehen 89 % der Männer und 94 % der Frauen.
Im Deutschen Reich hatte die durchschnittliche Lebenserwartung eines neugeborenen Jungen in der Berichtsperiode 1871/1881 nur 35 Jahre und 7 Monate und für ein neugeborenes Mädchen 38 Jahre und 5 Monate betragen. Demnach hat sich die Lebenserwartung der Neugeborenen in den vergangenen rund 130 Jahren mehr als verdoppelt. Dazu trug zunächst vor allem der Rückgang der Kindersterblichkeit bei. In den letzten Jahrzehnten ist auch die Sterblichkeit Älterer stark gesunken.
Methodische Hinweise
Die aktuellen Periodensterbetafeln der amtlichen Statistik basieren auf den Daten über die Gestorbenen und die Durchschnittsbevölkerung der letzten drei Jahre. Es handelt sich hierbei um eine Momentaufnahme der Sterblichkeitsverhältnisse der gesamten Bevölkerung für diesen Zeitraum. Die fernere Lebenserwartung gibt daher an, wie viele weitere Lebensjahre Menschen eines bestimmten Alters nach den in der aktuellen Berichtsperiode – zum Beispiel 2008/2010 – geltenden Sterblichkeitsverhältnissen im Durchschnitt noch leben könnten. Eine Abschätzung der Entwicklung der Lebenserwartung in der Zukunft ist also, anders als bei sogenannten Generationensterbetafeln, nicht eingeschlossen.
Zu Generationensterbetafeln hat das Statistische Bundesamt neue Modellrechnungen zur Lebenserwartung nach Geburtsjahrgängen veröffentlicht. Diese Modellrechnungen enthalten Generationensterbetafeln für die Geburtsjahrgänge von 1896 bis 2009.
Eine Generationensterbetafel beschreibt die Lebenserwartung der Angehörigen eines Geburtsjahrgangs. Hierzu werden die Sterbefälle eines Geburtsjahrgangs über die gesamte Lebenszeit hinweg betrachtet. Generationensterbetafeln sind als Modellrechnungen anzusehen, weil Schätzungen zur Sterblichkeit der Geburtsjahrgänge notwendig sind, deren Angehörige noch leben. Bei älteren Geburtsjahrgängen müssen Datenlücken, Gebietsveränderungen und Wanderungsbewegungen berücksichtigt werden, die in Deutschland insbesondere durch die beiden Weltkriege verursacht wurden", heißt es in der Pressemitteilung.

DICK, Stanislaw (2011): Schatz, mach mich nicht krank.
Verheiratete Männer leben länger. Sie sind froh, wenn überhaupt jemand an ihrer Seite ist. Bei Frauen entscheidet die Qualität der Partnerschaft über ihre Gesundheit,
in: Berliner Zeitung v. 08.10.

2012

SAUM-ALDEHOFF, Thomas (2012): Und am Schluss: das Alter.
Wir gewinnen immer mehr Lebensjahre. Doch sind es auch gesunde Jahre?
in: Psychologie Heute, Januar

Thomas SAUM-ALEHOFF stellt eine Studie von Andreas MERGENTHALER vor, über die bereits in Bevölkerungsforschung Aktuell Nr.5/2011 berichtet wurde. Anhand des Vergleichs der 1911-1926 Geborenen mit den 1917-1932 Geborenen kommt MERGENTHALER zu dem Schluss, dass ältere Menschen trotz steigender Lebenserwartung weder weniger noch mehr gesunde Jahre im Alter genießen können. Es wurden jedoch keine Gesundheitsdaten erhoben, sondern nur das subjektive Empfinden.

Die Frage, ob Menschen, die einen oder zwei Weltkriege überlebt haben, Rückschlüsse auf Menschen, die nur Friedenszeiten kennen, erlauben, bleibt in beiden Beiträgen außen vor.

BÖNT, Ralf (2012): Mann, mach doch mal zart.
Die Lebenserwartung deutscher Männer liegt fünf Jahre unter der von Frauen. Weil sie nicht auf ihre Gesundheit achten, glaubt Schriftsteller Ralf Bönt . Er propagiert ein neues Bild vom Mann. Und wirbt für mehr Gefühl,
in: Welt am Sonntag v. 26.02.

Ralf BÖNT widerspricht den Schmerzensmänner-Thesen von Nina PAUER und weist stattdessen u. a. auf die allein lebenden Männer als Indikator des männlichen Niederganges hin:

"Die Zahl allein lebender Männer in Deutschland ist rasant angestiegen, allein zwischen 1996 und 2006 um 36 Prozent. Frauen leben allein, weil sie Witwen sind, Männer, weil sie ledig sind. Ihre Lebenserwartung ist noch geringer als die der Männer in einer Partnerschaft. Das verwundert nicht. Es gibt Männer, die zur Physiotherapie gehen, um einmal angefasst zu werden. Manche mögen übervolle Busse oder stehen gern im Gedränge von Diskotheken, weil sie dann Körperkontakt haben können. Das mögen Extremfälle sein, aber generell steht der Mann nicht im Mittelpunkt, wie man jahrzehntelang in feministischer Fixierung auf repräsentative Positionen behauptet hat."

OESTREICH, Heide (2012): "Männer sterben fünfeinhalb Jahre früher".
Gender: Geschlechterforscher Thomas Gesterkamp fordert eine Männerpolitik gegen "ruinöse männliche Lebensentwürfe", die private Enttäuschungen erzeugen. "Männer machen auch Opfererfahrungen",
in:
TAZ v. 25.05.

PANY, Thomas (2012): Ältere Väter und das Versprechen auf längeres Leben des Nachwuchses.
Eine US-Studie suggeriert, dass Spermien von älteren Männern für eine genetische Programmierung sorgen, die die Lebenserwartung der Kinder erhöht,
in:
Telepolis v. 14.06

RME (2012): Singles und einsame Senioren sterben früher.
Menschen, die sich im Alter einsam fühlen, haben einer aktuellen Studie zufolge ein erhöhtes Sterberisiko. Nach einer anderen Untersuchung enden Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch bei "jüngeren" Singles häufiger tödlich,
in:
Deutsches Ärzteblatt Online v. 19.06.

KABLITZ, Susanne (2012): Im Westen werden die Deutschen älter.
Statistik II: Die Lebenserwartung in den einzelnen Bundesländern ist extrem unterschiedlich. Die Gründe dafür sind vielfältig,
in: Das Parlament v. 06.08.

RÖTZER, Florian (2012): Alleinlebende haben höheres Sterberisiko im mittleren Alter.
Während eine Studie ein erhöhtes Risiko bei Alleinlebenden sieht, führt eine andere das höhere Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko auf Einsamkeit zurück, die es auch bei Paaren gibt,
in: Telepolis v. 10.08.

Es ist schon merkwürdig wie sorglos Studien interpretiert werden, die das Sterberisiko von Alleinlebenden betreffen. Zuerst einmal müsste geprüft werden, ob die Ergebnisse nicht für Deutschland vom genannten Durchschnitt abweichen.

Der Soziologe Jens ALBER hat in seinem Beitrag Wer ist das schwache Geschlecht? die Sterblichkeit international und historisch vergleichend untersucht. Danach war die Sterblichkeit von 35-44jährigen Männern in den 1920er, den 1970er und den 1990er Jahren zwischen 1,17 mal (verheiratete Männer in den 1920er Jahren) und 2,84 mal (geschiedene Männer in den 1990er Jahren) so hoch wie von gleichaltrigen Frauen. Innerhalb von Europa ist die Sterblichkeit von geschiedenen Männern in den 1990er Jahren in Frankreich 3,59 mal und in Spanien sogar fast 5 mal so hoch gewesen wie bei gleichaltrigen Frauen. Es gibt also gravierende Unterschiede von Land zu Land und von Geschlecht zu Geschlecht in der Sterblichkeit zu beachten.

Florian RÖTZER nennt aber nur Zahlen für Alleinlebende, nicht aber für deutsche Alleinlebende. Der Link im Artikel verweist nicht zur Studie, sondern lediglich zur Zusammenfassung, in der keine länderspezifische Zahlen für Alleinlebende genannt werden. Man müsste also diese Werte kennen, falls sie vorhanden und aussagekräftig sind.

Das mittlere Lebensalter muss man wohl mit 45-65Jahre gleichsetzen, obwohl das mittlere Lebensalter z.B. in der aktuellen Erhebung des Statistischen Bundesamtes zu Alleinlebenden in Deutschland die 35-65Jährigen umfasst. In Deutschland dominieren im mittleren Lebensalter die Männer, die wie bei ALBER nachzulesen eine höhere Sterblichkeit als Frauen haben. Von den 45-65jährigen Alleinlebenden in Deutschland sind 2,345 Millionen männlich und 2,004 Millionen weiblich.

Geschiedene Männer sind nach einer deutschen Studie von Hans-Werner WAHL u. a. hinsichtlich des Gesundheitszustandes eine Problemgruppe. Rund 1,4 Millionen Alleinlebende sind geschiedene Männer. Davon sind 60,6 % 45-65Jahre alt. Fast jeder 5. Alleinlebende in diesem Alter ist ein geschiedener Mann.

Sind also Alleinlebende generell gefährdeter als Zusammenlebende oder nur bestimmte Risikogruppen? Und wenn es bestimmte Gefährdungen gibt, ist dann tatsächlich Einsamkeit das Hauptproblem?

Um tatsächlich brauchbare Ergebnisse zu bekommen, sind Studien mit sehr großen Fallzahlen erforderlich. Eine Untersuchung von 45.000 Patienten mag auf den ersten Blick ausreichend erscheinen. Bei 44 Ländern, 2 Geschlechtern, 2 Altersgruppen usw. kommt man gerade bei den Alleinlebenden (nicht einmal 8.600 Patienten) ganz schnell zu Fallzahlen die für statistisch signifikante Aussagen zu klein sind.

Welche Probleme gerade hinsichtlich der Erforschung des Gesundheitszustandes verschiedener Bevölkerungsgruppen und deren Ursachen bestehen, darüber klärt das hervorragende Buch Lebensqualität produzieren von Alban KNECHT auf. Am Beispiel der Herz-Kreislauf-Erkrankungen zeigt sich die ganze Komplexität von Sterblichkeitsrisiken.

DIW-Wochenbericht: Einkommen und Lebenserwartung

KROH, Martin/NEISS, Hannes/KROLL, Lars/LAMPERT, Thomas (2012): Menschen mit hohen Einkommen leben länger,
in: DIW-Wochenbericht, Nr.38 v. 19.09.

KROH/NEISS/KROLL/LAMPERT beschreiben die Restriktionen bei der Erforschung der differentiellen Lebenserwartung und die Vor- und Nachteile zweier Datenquellen folgendermaßen:

"In vielen Ländern werden zur Analyse von Unterschieden in der Lebenserwartung nach Einkommensgruppen Daten aus Sterberegistern oder dem Zensus auf der einen Seite mit Registerdaten der Sozial- oder Steuerstatistik auf der anderen Seite verknüpft. Da dies ist in Deutschland nicht möglich ist, wird bei entsprechenden Forschungsfragen entweder auf Daten der deutschen Rentenversicherung zurückgegriffen oder, wie in der vorliegenden Analyse, auf die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP).
Vorteil der offiziellen Statistiken der Rentenversicherung sind eine große Fallzahl und die Validität der Angaben zum beitragsrelevanten Einkommen. Zu den Nachteilen zählen die Beschränkung der Einkommensinformationen auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen, so dass Einkommen aus Selbständigkeit oder von Beamten, aber auch zum Beispiel Kapitaleinkünfte, Einkünfte aus Vermietung/Verpachtung oder Transferleistungen anderer Personen keine Berücksichtigung finden. Ein weiteres Problem stellt der Mangel an weiteren Personenmerkmalen wie dem Gesundheitszustand zum Alter 65 oder dem gesundheitsrelevanten Verhalten dar. Das Sozio-oekonomische Panel ist eine seit 1984 durchgeführte repräsentative Wiederholungsbefragung von Haushalten in West- und seit 1990 auch in Ostdeutschland.3 Derzeit werden über 20 000 Personen in mehr als 10 000 Haushalten pro Erhebungsjahr befragt. Der Untersuchungszeitraum von 1984 bis 2010 erlaubt die Analyse der ferneren Lebenserwartung der Kohorten 1919 bis 1944. Diese umfassen etwa 6 400 Personen, von denen etwa 1 200 im Untersuchungszeitraum verstarben.
Das SOEP hat den Vorteil, dass der Analyse ein breiter Begriff des verfügbaren Einkommens aus verschiedenen Einkommensquellen zugrunde gelegt werden kann. Weiterhin steht eine Vielzahl sozio-ökonomischer und gesundheitsrelevanter Merkmale zu den Untersuchungspersonen zum Alter 65 zur Verfügung. Da die Stichprobe jedoch erheblich kleiner ist als die offizielle Statistik der Rentenversicherung, steigt die Ungenauigkeit bei der Schätzung der Lebenserwartung, insbesondere für kleine Subgruppen. Außerdem ist die Teilnahme am SOEP freiwillig, was möglicherweise selektive Teilnahmeraten zur Folge hat. Dies betrifft in den berichteten Analysen lediglich den Eintritt in die Analyse mit 65 Jahren, nicht jedoch den Status der Befragten in den folgenden Jahren, da das SOEP regelmäßig den vitalen Status von ehemaligen Befragten auf Basis der Melderegister abgleicht und somit unabhängig von der Teilnahme das Todesjahr von SOEP-Befragten bestimmt." (2016, S.4)

Die Ergebnisse der Studie betreffen die Geburtsjahrgänge 1919 bis 1944 und haben auch nur für diese Kohorten eine Aussagekraft:

"50 Prozent der 65-jährigen Männer (werden) wenigstens 81 Jahre alt (...), während 50 Prozent der Frauen wenigstens 86 Jahre alt werden. (...).
Männer aus armutsgefährdeten Haushalten und solchen mit prekären Einkommen leben gemäß den SOEP-basierten Schätzungen durchschnittlich fünf Jahre weniger als Männer aus wohlhabenden Haushalten. In den mittleren Einkommenskategorien sind die Unterschiede etwas geringer: Männer aus Haushalten mit 80 bis 100 Prozent des mittleren Einkommens haben eine um viereinhalb Jahre geringere Lebenserwartung. Für Haushalte mit 100 bis 150 Prozent beträgt die Differenz zur höchsten Einkommensgruppe noch gut drei Jahre.
Bei Frauen sind die Unterschiede nach Einkommen weit weniger ausgeprägt als bei Männern". (2012, S.6f.)

Die Ergebnisse zeigen, dass das Einkommen für Männer eine größere Aussagekraft hat als für Frauen. Hinter dem Indikator "Einkommen" können sich unterschiedliche Ursachenfaktoren verbergen, die nichts mit der Einkommenshöhe an sich zu tun haben, sondern auf Faktoren wie Elternhaus, Wohnort, Bildung, berufliche Belastungen, Unsicherheit, Gesundheit usw. zurückführen lassen. Dabei stellt sich jedoch das Problem der Operationalisierung, sodass solche Analysen eher nur Hinweise darstellen können, in welche Richtung weiter zu forschen wäre. Die Autoren haben eine Vielzahl von Faktoren überprüft und ziehen daraus ihre Schlussfolgerungen. Nach Überprüfung dieser Faktoren verbleibt jedoch immer noch ein großer Rest, der nicht durch andere Faktoren als der Einkommenshöhe erklärt werden kann. Das fassen sie folgendermaßen zusammen:

"Während Männer aus wohlhabenden Haushalten absolut betrachtet mehr als fünf Jahre länger leben als Männer aus armutsgefährdeten Haushalten und solche mit prekären Einkommen, reduziert sich diese Differenz nach Berücksichtigung anderer Einflüsse auf die Lebenserwartung um zwei Jahre auf dreieinhalb Jahre. Etwa in gleichem Umfang reduzieren sich die Unterschiede zwischen wohlhabenden Männern und solchen mit Einkommen zwischen 80 und 100 Prozent (von viereinhalb auf etwas über zwei Jahre) und Männern mit Einkommen zwischen 100 und 150 Prozent (von dreieinhalb auf etwas unter zwei Jahre).
Bei Frauen waren die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Einkommensgruppen bereits vor Berücksichtigung weiterer Faktoren geringer als bei Männern; nach Einbeziehung dieser Faktoren sind sie nicht mehr signifikant. Die verbleibenden Unterschiede in Lebensjahren zwischen den Einkommensgruppen liegen für Frauen zwischen einem halben und anderthalb Jahren. Die Unsicherheit der Schätzung ist in allen Fällen zu groß, um die Behauptung empirisch absichern zu können, dass nach der Bereinigung um weitere Faktoren noch ein bedingter statistischer Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung bei Frauen vorhanden ist. Bei Männern trifft diese Einschränkung lediglich auf den Unterschied zwischen mittleren und hohen Einkommen zu. Ansonsten zeigen sich auch unter Berücksichtigung alternativer Faktoren signifikante Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen wohlhabenden Männern und solchen aus prekären und armutsgefährdeten Haushalten". (2012, S.13f.)
    

WITTENBERG, Erich (2012): "Lebenserwartung von Menschen mit geringen Einkommen erhöhen".
Fünf Fragen an Martin Kroh,
in: DIW-Wochenbericht, Nr.38 v. 19.09.

DESTATIS (2012): Lebenserwartung in Deutschland erneut gestiegen.
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt v. 02.10.

" Die Lebenserwartung in Deutschland ist erneut angestiegen: Sie beträgt nach der auf die aktuellen Sterblichkeitsverhältnisse bezogenen Periodensterbetafel 2009/2011 für neugeborene Jungen 77 Jahre und 9 Monate und für neugeborene Mädchen 82 Jahre und 9 Monate. (...)(Im) Vergleich zur vorherigen Sterbetafel 2008/2010 (erhöhte sich) die Lebenserwartung für neugeborene Jungen um 3 Monate und für Mädchen um 2 Monate.
Auch für ältere Menschen hat die Lebenserwartung weiter zugenommen. Nach der Sterbetafel 2009/2011 beläuft sich zum Beispiel die noch verbleibende Lebenserwartung - die sogenannte fernere Lebenserwartung - von 65-jährigen Männern auf weitere 17 Jahre und 6 Monate. 65-jährige Frauen können statistisch gesehen damit rechnen, noch weitere 20 Jahre und 8 Monate zu leben. Im Vergleich zur vorherigen Sterbetafel 2008/2010 hat damit die fernere Lebenserwartung bei den 65-jährigen Frauen um 2 Monate und bei den Männern um 1 Monat zugenommen.
Aus der Sterbetafel 2009/2011 lässt sich darüber hinaus ablesen, dass nach den aktuellen Sterblichkeitsverhältnissen statistisch gesehen jeder zweite Mann in Deutschland wenigstens 80 Jahre alt werden und jede zweite Frau sogar ihren 85. Geburtstag erleben kann. Wenn sich die Entwicklung der Lebenserwartung zukünftig so fortsetzt wie in der Vergangenheit, ist damit zu rechnen, dass die Lebenserwartung für beide Geschlechter weiter beträchtlich ansteigen wird.

Methodische Hinweise

Die aktuellen Periodensterbetafeln der amtlichen Statistik basieren auf den Daten über die Gestorbenen und die Durchschnittsbevölkerung der letzten drei Jahre. Es handelt sich hierbei also um eine Momentaufnahme der Sterblichkeitsverhältnisse der gesamten Bevölkerung für diesen Zeitraum. Die fernere Lebenserwartung gibt daher an, wie viele weitere Lebensjahre Menschen eines bestimmten Alters nach den in der aktuellen Berichtsperiode - zum Beispiel 2009/2011 - geltenden Sterblichkeitsverhältnissen im Durchschnitt noch leben könnten. Eine Abschätzung der Entwicklung der Lebenserwartung in der Zukunft ist also, anders als bei sogenannten Generationensterbetafeln, nicht eingeschlossen. Zu Generationensterbetafeln hat das Statistische Bundesamt Modellrechnungen zur Lebenserwartung nach Geburtsjahrgängen veröffentlicht. Diese Modellrechnungen enthalten Generationensterbetafeln für die Geburtsjahrgänge von 1896 bis 2009.
Eine Generationensterbetafel beschreibt die Lebenserwartung der Angehörigen eines Geburtsjahrgangs. Hierzu werden die Sterbefälle eines Geburtsjahrgangs über die gesamte Lebenszeit hinweg betrachtet. Generationensterbetafeln sind als reine Modellrechnungen anzusehen, weil Schätzungen zur Entwicklung der Sterblichkeit der Geburtsjahrgänge notwendig sind, deren Angehörige noch leben. Je jünger dabei der betrachtete Jahrgang ist, desto unsicherer werden diese Schätzungen. Bei älteren Geburtsjahrgängen müssen zudem Datenlücken, Gebietsveränderungen und Wanderungsbewegungen berücksichtigt werden, die in Deutschland insbesondere durch die beiden Weltkriege verursacht wurden. Wenn sich der in der Vergangenheit beobachtete Trend bei der Sterblichkeit in der Zukunft ungebrochen fortsetzt, kann nach den Ergebnissen der Generationensterbetafel (Trendvariante 2) ein 2009 geborener Junge statistisch mit einer Lebenserwartung von 86 Jahren und 5 Monaten rechnen. Bei einem Mädchen sind es sogar 90 Jahre und 8 Monate", heißt es in der Pressemitteilung.

KLOEPFER, Inge (2012): Mehr vom Leben erleben.
Spezial Forever old: Was heißt hier "Vergreisung"? Der medizinische und technische Fortschritt führt dazu, dass der Tod immer weiter zurückgedrängt wird. Das Risiko, früh zu sterben, war noch nie so gering wie heute. Wir alle bleiben länger fit. Das ist der größte zivilisatorische Erfolg der jüngeren Geschichte. Die Menschen müssen aus den gewonnenen Jahren nur noch etwas machen. Und sie müssen länger arbeiten, um sich das lange Leben auch leisten zu können,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 28.10.

Inge KLOEPFER stellt uns mit Peter BARTEL einen Dachdecker vor, der uns das lange Arbeiten schmackhaft machen soll. Der Dachdecker ist aber kein normaler Dachdecker wie er in der Debatte um die Rente mit 67 im Vordergrund stand, sondern ein Firmenchef und damit nicht repräsentativ für die arbeitende Bevölkerung.

Wie üblich, wird uns das Jahr 2050 beschrieben, als ob die Vorausberechnungen der demografischen Entwicklung nicht Kaffeesatzleserei, sondern unumstößliche Gewissheit sei. Geht man 50 Jahre zurück, dann ist man im Jahr 1962. Damals glaubte man an endlos wachsende, statt an schrumpfende Bevölkerungen.

Genauso verhält es sich mit der Lebenserwartung. Nichts weniger als die Unsterblichkeit wird uns seit Jahrzehnten verkündet. Noch ist es jedoch nicht ganz so weit. KLOEPFER präsentiert uns Jutta GAMPE vom Max-Planck-Institut für Demographie:

"Einem neugeborenen Mädchen werden heute nach den Berechnungen 83 Lebensjahre prognostiziert. Gampe vermutet, dass die Kleine mit hoher Wahrscheinlichkeit einhundert Jahre oder sogar älter werden wird.
Wie erklärt sich der Unterschied zwischen Statistischem Bundesamt und Max-Planck-Statistik? Ganz einfach: Die Vorhersagen des Amtes tun so, als würde es den medizinischen und technologischen Fortschritt, der das Leben verlängert, in Zukunft nicht mehr geben."

Warum Mädchen und nicht Jungen? Weil dann ersichtlich wäre, dass Frauen wesentlich länger leben als Männer und dies bei diesen sogar noch stärker mit dem Einkommen korreliert. Nichts davon liest man bei KLOEPFER.

Inwieweit jedoch der medizinische Fortschritt überhaupt für ein langes Leben entscheidend ist, das ist umstritten. Entscheidender sind die Lebensbedingungen, denen wir ausgesetzt sind. Das ist nicht allein unser Lebensstil, sondern z.B. auch die Arbeitsbedingungen und das Wohnumfeld. Uns wird erklärt, dass das Sterberisiko erst mit 80 Jahren erhöht sei - Belege werden uns dafür jedoch vorenthalten.

Und im letzten Drittel des Artikels wird uns der Lieblingsökonom Axel BÖRSCH-SUPAN der FAZ (und gleichzeitig der Unternehmenslobby) präsentiert, der uns wieder von der Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung vorschwärmt. Uns werden fünf Szenarien bis ins Jahr 2050 (Kaffeesatzleserei!) vorgestellt, von denen das Entstehungsdatum nicht genannt wird. Daraus sollte man schließen, dass die Szenarien schon betagt sind, denn sonst würde uns das nicht verschwiegen. Die Kopplung wird uns als "eine Art ökonomisches Naturgesetz" beschrieben, was völliger Unsinn ist, denn die Ökonomie ist keine exakte Naturwissenschaft, sondern eine Ideologiewissenschaft, insbesondere eine Rechtfertigungslehre, wenn es um politisch erwünschte Gutachten geht und das sind Gutachten, bei denen es um das Rentensystem und andere soziale Sicherungssysteme geht, immer. 

2013

UNGER, Rainer & Alexander SCHULZE (2013): Können wir (alle) überhaupt länger arbeiten? Trends in der gesunden Lebenserwartung nach Sozialschicht in Deutschland, Comparative Population Studies – Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft v. 31.01.

TSCHECHNÉ, Martin (2013): Ein Land ohne Kinder?
Zoë ist drei Jahre alt. Wenn sie fünfzig ist, wird sie immer noch zu den Jüngeren gehören. Und ihre Chancen stehen gut, einmal hundert zu werden. Unsere Gesellschaft ändert sich, sie wird älter. Wissenschaftler bieten schon heute Einblicke in diese Zukunft. Und sie sagen, wo wir gegensteuern müssen,
in: Psychologie Heute,
September

Bereits der Untertitel verrät es: Die Zeitschrift ist eine Publikation für Besserverdienende, denn die Mehrzahl der Bevölkerung wird eher nicht die versprochenen 100 Jahre erreichen. Die soziale Ungleichheit wächst in Deutschland und die Altersarmut ist politisch gewollt auf Zunahme programmiert. Beides steht einer weiteren Höherentwicklung der Lebenserwartung entgegen.

Wenn der jetzige Trend zur Entwicklung einer kleinen oberen Mittelschicht, die zusammen mit der Oberschicht die Gewinner der gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklung sind, und einer größer werdenden mittleren und unteren Mittelschicht, die zusammen mit der Unterschicht zu den Verlierern zählen wird, dann sieht unsere Bevölkerung bis zum Jahr 2060 ganz anders aus, als es Demagogen wie Martin TSCHECHNÉ uns heute erzählen. Der "Vergnügungsdampfer in der Karibik", auf den die Rentner "verbannt" sein sollen - diese Vision ist dann so veraltet wie futuristische Visionen der 1960er Jahre für das Jahr 2000. Und das waren nur 40 Jahre und keine 50 Jahre wie bei unseren Kaffeesatzlesern.

Was passiert, wenn die soziale Schließung sich weiter verstärkt? Wenn der Kampf um Bildung härter wird, wie das der Soziologe Heinz BUDE in seinem Artikel Das prekäre Gut der Bildung (Merkur, August 2013) beschreibt?

"Es ist ein soziales Gesetz, dass Familien erhebliche Anstrengungen unternehmen, um den erreichten sozialen Status in der Generationenfolge zu sichern. Hat man mehr als drei Kinder, kann man lockerer und fehlerfreundlicher an diese Aufgabe herangehen, als wenn lediglich ein oder zwei Kinder in der Familie existieren. (...).
In der Mitte freilich reduziert sich die Kinderzahl und steigt das Investitionsbewusstsein in Bezug auf das einzelne Kind."

Gibt es eine homogene Mitte überhaupt noch oder haben sich nicht schon unterschiedliche Strategien herausgebildet? Cornelia KOPPETSCH beschreibt in ihrem Buch Die Wiederkehr der Konformität drei Strategien im Kampf der Mittelschicht gegen den befürchteten Abstieg. Demnach beschreibt BUDE lediglich die Strategie der oberen Mittelschicht, die sich ums Erbe dreht.

Die Bevölkerungsentwicklung hängt keineswegs von demografischen Sachzwängen ab, sondern in erster Linie vom Ausgang der politischen Kämpfe in der Mitte. Die zukünftige Bevölkerungsentwicklung ist nicht vorprogrammiert wie uns unsere Demagogen in Sachen demografischer Wandel erzählen, sondern sie ist eine politische Richtungsentscheidung.

FELLMANN, Max & Roland SCHULZ (2013): Warum altern wir?
Und was können wir dagegen tun? Ein Gespräch mit dem Altersforscher Christoph Englert,
in: SZ-Magazin Nr.38 v. 20.09.

HAUN, Daniel (2013): Werden wir wirklich zu alt?
Dossier: Vier Irrtümer über den Demografiewandel und eine Bitte an den Bundestag,
in:
ZEITWISSEN, Oktober/November

"Zahlreiche Umfragen belegen, dass die große Mehrheit den Zusammenbruch der Sozialsysteme befürchtet - dass kaum noch Renten gezahlt und die Kranken nicht mehr gut versorgt werden könnten und dass zudem die Wirtschaft Probleme bekommen werde, weil Menschen im arbeitsfähigen Alter fehlten. All das, weil die Jugend zu egoistisch zum Kinderkriegen sei.
Aber stimmt das? Vieles spricht dafür, dass es sich dabei um  - besonders hatnäckige - Irrtümer handelt,

behauptet Daniel HAUN. Es gab keine Irrtümer, sondern lediglich politische Propaganda, um den Sozialstaat ohne große Widerstände umbauen zu können.

HAUN wartet mit angeblichen Überraschungen des Zensus 2011 auf, wonach 2011 bereits 1,5 Millionen Menschen weniger in Deutschland lebten, was in Bevölkerungsvorausberechnungen erst für 2020 prognostiziert worden war:

"Die Gruppe der über 75-Jährigen wurde mit Abstand am stärksten überschätzt: Es gibt fast fünf Prozent weniger von ihnen als bislang gedacht - was auch Konsequenzen für die durchschnittliche Lebenserwartung hat."

Bereits im April 2008 war bekannt, dass es bei den über 90jährigen westdeutschen Männern im Jahr 2005 über 40 % weniger gab. Bei den gleichaltrigen westdeutschen Frauen waren es "nur" 15 % weniger.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Serie: Beziehungsweisen (Teil 6)

UHLMANN, Berit (2013): Wer kümmert sich?
Pflegebedürftige: Niemals zuvor brauchten so viele Menschen derart lange und intensive Pflege wie heute. Dies greift tief in die Beziehungsgeflechte von Familien ein. Doch wird es richtig organisiert, empfinden es die Helfer sogar als Bereicherung,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 17.10.

"Als die junge Frau den 15 Jahre älteren Mann heiratete, ahnte sie wohl nicht, was auf sie zukommen würde. Kaum waren die Kinder aus dem Gröbsten heraus, wurden erst seine Eltern, dann ihre Mutter, dann der Gatte selbst zum Pflegefall. Ein halbes Frauenleben verging (...). Nun sitzt sie allein in dem leeren Haus und fragt sich, wer für sie sorgen wird. Wer pflegt mich einmal? Das ist eine der schwierigsten Fragen des modernen Lebens. Und es ist eine, die in dieser Häufigkeit ohne Beispiel ist",

behauptet Berit UHLMANN, obwohl der Altersunterschied bei Paaren eher selten 15 Jahre beträgt (vgl. DESTATIS "Altersunterschied bei Paaren im Durchschnitt 4 Jahre", 22.10.2013). Die Konstellation junge Frau und älterer Mann ist jedoch ungleich häufiger als die Konstellation ältere Frau und jüngerer Mann. Auch ist das Alleinleben im Alter bei den Frauen weiter verbreitet als bei Männern, wobei aber die Tendenz für Frauen abnehmend und für Männer zunehmend ist, da die Generation der Kriegerwitwen wegstirbt, die Altersunterschiede bei Paaren der jüngeren Generationen abgenommen haben. Die Tendenzen bei der Lebenserwartung sind eher unüberschaubar, da die Bevölkerungsfortschreibung gravierende Fehler aufweist, die erst mit dem Zensus 2011 bereinigt werden können.  

SAUM-ALDEHOFF, Thomas (2013): Die Hundertjährigen kommen.
Schon heute gibt es mehr als 13.000 Hundertjährige in Deutschland, und in gut 50 Jahren soll sich ihre Zahl verhundertfacht haben. Wie lebt es sich jenseits der "Schallmauer"? Nicht ohne Beschwerden, wie die neue Heidelberger Hundertjährigen-Studie zeigt. Doch viele der Hochbetagten sind geistig noch ziemlich auf Draht, und die meisten haben Freude an ihrem Leben,
in: Psychologie Heute,
Dezember

"Ziel der Untersuchung (...) war nicht etwa, herauszufinden, wie man es schafft, 100 Jahre alt zu werden. Vielmehr wollten die Untersucher mehr darüber erfahren, wie es ist, hundert zu sein (...). Schon einmal sind die Forscher der Universität Heidelberg diesen Fragen nachgegangen, während ihrer ersten Hundertjährigen-Studie vor elf Jahren. Nun wollten sie wissen, was sich an der Lebenssituation der heutigen Hundertjährigen gegenüber damals verändert hat. Sie kontaktierten also dieselben Einwohnermeldeämter im Großraum Heidelberg wie seinerzeit und sammelten Informationen über sämtliche dort lebenden Personen der Geburtsjahrgänge 1911 und 1912. Interviewerinnen schwärmten aus und führten mit 100 dieser Frauen und 12 der Männer ein ausführliches Gespräch. Auch jeweils ein »Proxy«, eine dem Betreffenden nahestehende Person, wurde befragt (...).
Um die Situation der Hundertjährigen mit der anderer Altersgruppen vergleichen zu können, wurden Daten von je rund 150 Personen im Alter von 65 bis 79 Jahren sowie von 80 bis 95 Jahren aus Heidelberg herangezogen. Ferner wurden die Antworten der Heidelberger Hundertjährigen mit denen von Altersgenossen in New York und im portugiesischen Porto verglichen",

beschreibt SAUM-ALDEHOFF das Design und die Zielsetzung der Studie. Warum aber das Interesse an den Hundertjährigen?

"Binnen zehn Jahren, von 2000 bis 2010 stieg die Zahl der Hundertjährigen in Deutschland von rund 6000 auf 13000. In den Geburtsjahrgängen der heutigen Hundertjährigen erreichen 0,3 Prozent der Männer und immerhin 0,8 Prozent der Frauen dieses hohe Alter. Bei den 50 Jahre später, also Anfang der 1960er Jahre Geborenen werden nach Hochrechnungen bereits knapp drei Prozent der Männer und fünfeinhalb Prozent der Frauen ihren hundertsten Geburtstag feiern - eine beachtliche Minderheit."

Die Schätzungen dürften - zumindest was die Männer betrifft - deutlich überzogen sein. Das zeigen auch die Rekrutierungsprobleme:

"•Die 172 angeschriebenen Städte und Gemeinden meldeten uns insgesamt 475 Personen, die 1901 und früher geboren wurden.
•Davon erfüllten 281 das Einschlusskriterium, d.h. sie waren 100 Jahre alt.
•Von dieser Brutto-Stichprobe waren 125 Personen (44,5 %) bereits verstorben, unbekannt verzogen, gänzlich unbekannt oder sie waren keine 100 Jahre alt.
"

Apokalyptiker wie Bernd RAFFELSHÜSCHEN gehen von einer wachsenden Zahl Hochbetagter bei gleichbleibend schlechter Gesundheit aus und entwerfen deshalb Horrorszenarien hinsichtlich der zukünftigen Pflegebedürftigkeit. Gerd BOSBACH & Jens Jürgen KORFF haben diese Sicht in ihrem Sammelbandbeitrag Altersarmut in einem reichen Land aus dem Jahr 2012 folgendermaßen kritisiert:

"Die Anzahl der Pflegebedürftigen entspricht zurzeit etwa der Hälfte der Anzahl der Über-84-Jährigen. Da sich nach den Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes der Anteil der Über-84-Jährigen - auch Hochbetagte genannt - bis 2050 etwa vervierfacht, wird vielfach für diesen Zeitpunkt mit einer Vervierfachung der Pflegekosten gerechnet. (...). Bei der Lebenserwartung ist Raffelhüschens Denkweise dynamisch: Er vollzieht eine Veränderung bis 2050 nach. Die Altersgrenze jedoch, bei der er die Gruppe der Hochbetagten beginnen lässt, bleibt konstant bei 85 stehen. An dieser Stelle rechnet Raffelhüschen plötzlich statisch! Wenn das stimmen würde, hieße dies, dass die Älteren im Jahr 2050 alle sieben Jahren, die sie an Lebenszeit hinzugewonnen haben, in Krankheit und Pflegebedürftigkeit verbringen. Das widerspricht nicht nur allen historischen Erfahrungen, es ist auch schlicht unlogisch: Denn warum sollten wir sieben Jahre älter werden, wenn unsere Gesundheit keine Fortschritte macht?
(2012, S.184)

Geht man von einer Zunahme der gesunden Jahre aus, dann ergibt sich ein anderes Szenario für die zukünftige Entwicklung der Pflegebedürftigkeit:

"Werden alle sieben zusätzlichen Jahre in Pflege verbracht, ist die Angst vor der Vervierfachung der Kosten berechtigt. Verbringen wir wenigstens die Hälfte davon in leidlicher Gesundheit, würde sich der Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung etwa verdoppeln. Das mag zunächst immer noch dramatisch klingen, aber Produktivitätssteigerungen werden im Verlauf von 45 Jahren viele andere Arbeiten überflüssig machen. Da bietet die Altenhilfe sogar ein gutes Mittel gegen die in anderen Szenarien geschürte Angst, dass uns die Arbeit ausgehen könnte. Und sind die sieben ausnahmslos gesunde Jahre, bliebe der Anteil der Pflegebedürftigen sogar konstant.
Die letzte Annahme ist gar nicht so unwahrscheinlich, weil der medizinisch-technische Fortschritt Krankheiten auch zurückdrängen kann. Gesundheitswissenschaftler diskutieren sogar die These, dass die Anzahl der Krankheitsjahre im Leben eines Menschen tendenziell sinken wird (Kompressionsthese), und begründen sie oft mit Daten aus sozial höheren Schichten, die den zu erwartenden Fortschritt für die breite Mehrheit gewissermaßen vorwegnehmen könnten. Oder umgekehrt als Bedingung formuliert: Wenn es uns 2050 sozial und gesundheitlich nicht besser geht, werden wir wohl kaum sieben Jahre länger leben."
(2012, S.185f.)

Die Hundertjährigenstudie zeigt, dass sich die Gesundheit der Hochbetagten verbessert hat:

"Die Hundertjährigen heute sind in einigen Aspekten weniger eingeschränkt als ihre Altersgenossen vor elf Jahren. Das trifft erfreulicherweise auch und besonders auf die geistige Fitness zu. 52 Prozent haben keine oder nur geringe kognitive Einbußen. 26 Prozent sind mäßig und nur 22 Prozent stark in ihrem Intellekt eingeschränkt. Demenz ist nicht das vorherrschende Bild des hohen Alters!"

Aufgrund der besseren medizinischen Versorgung durch mobile Dienste können zudem Hundertjährige länger in ihren eigenen vier Wänden leben:

"Die Zahl der Hundertjährigen, die in ihren eigenen vier Wänden leben, hat sich im Vergleich zur ersten Studie verdoppelt."

Nichtsdestotrotz beschwört SAUM-ALDEHOFF das Bild vom "demografischen Erdrutsch", weil sich die Pflegesituation der Hochbetagten zukünftig ändern könnte:

"Das Gros der pflegerischen Hilfe leisten allerdings die Angehörigen, vor allem die Töchter, die meistens in der Nähe, wenn nicht sogar im selben Gebäude wohnen. Diese pflegenden »Kinder« sind meist selbst längst im Rentenalter (...).  Kinderarmut doppelte Berufstätigkeit von Frau und Mann, Mobilität: Die gesellschaftlichen Trends in Deutschland laufen diesem Modell entgegen."

Ob die gesellschaftlichen Trends sich tatsächlich so entwickeln, kann durchaus bezweifelt werden. Angesichts der Tatsache, dass sich Deutschland zu einer neuen Klassengesellschaft entwickelt, könnten die von SAUM-ALDEHOFF beschriebenen Trends eher eine kleiner werdende Mittelschicht der Globalisierungsgewinner betreffen, während die deutschen Globalisierungsverlierer mit Migrantinnen im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen konkurrieren müssen. Der derzeit viel diskutierte Mindestlohn wird den Niedriglohnsektor nicht verschwinden lassen, sondern lediglich weiter zementieren. Die Heterogenität im Alter könnte also steigen und die Lebenserwartung könnte je nach Klassenzugehörigkeit auseinandertriften.

Die üblichen Szenarien schreiben die Vergangenheit einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft weiter und vermengen sie mit Vorstellungen über eine Wissensgesellschaft. Die Bedingungen einer neuen Klassengesellschaft erscheinen dagegen nicht auf dem Radar unserer Visionäre.

BOLLMANN, Ralph (2013): Verschwörung gegen die Jungen.
Wer lange lebt, muss länger arbeiten. Das hatte Deutschland endlich begriffen. Schwarz-Rot will davon heute nichts mehr wissen. Und die Jungen müssen dafür zahlen,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 01.12.

Ralph BOLLMANN berichtet über die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU, wobei er insbesondere die Rente ab 63 beklagt, die wesentlich teuere Mütterrente jedoch nur nebenbei erwähnt. Als Experte wird uns wieder der neoliberale Ökonom Axel BÖRSCH-SUPAN präsentiert, dem folgende Rechnung zugeschrieben wird:

"Rund 17 Prozent der Beschäftigten können die neue Regel in Anspruch nehmen, rechnet der Ökonom Börsch-Supan vor – und sie werden es auch tun. Denn bleiben sie bis zur offiziellen Grenze von 65 oder künftig 67 Jahren im Job, steigt dadurch die Monatsrente um keinen Cent."

BÖRSCH-SUPANs Vorstellungen zielen auf eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung ab. Sein Mantra:

"Er plädiert schon lange dafür, in der alternden Gesellschaft die geschenkten Jahre im Verhältnis 2:1 aufzuteilen: Steigt die Lebenserwartung um zwei Jahre, könnten die Menschen demnach ein Jahr länger arbeiten und würden dann immer noch ein Jahr länger Rente beziehen. Das würde ausreichen, um die Rentenversicherung langfristig finanzierbar zu halten."

Unsere Neoliberale halten uns für ganz blöd, denn die Lebenserwartung wird nicht im Verhältnis von 2:1, sondern 1:1 aufgeteilt. Was natürlich wesentlich unschöner klingt. Hinzu kommt, dass keiner von uns weiß, ob er den zweiten Teil dieser statistischen Lebenserwartung überhaupt erlebt. Warum also nicht den Renteneintritt ans Einkommen koppeln? Wer mehr verdient muss länger arbeiten, denn schließlich lebt er statistisch auch länger. Alles andere ist schlichtweg lediglich eine Umverteilung von unten nach oben - also Politik für die obere Mittelschicht.

Nach dem Motto wer bietet das höchste Renteneintrittsalter an, preist uns BOLLMANN James VAUPEL mit einer Rente mit 72 an. Warum nicht bis 75 arbeiten? hieß es dagegen noch 2003.

BOLLMANN zitiert zudem selektiv aus dem aktuellen OECD-Bericht Renten auf einen Blick. Frankreich, das uns gerne als Geburtenmusterland vorgehalten wird, soll uns gerade in Sachen Rente nicht als Vorbild dienen. Ärgerlich ist für BOLLMANN, dass nicht Akademiker, sondern nur Facharbeiter zu den Begünstigten gehören. Weil das aber natürlich politisch unkorrekt wäre, werden die Armen vorgeschoben. Sonst drängt sich die FAS nämlich nicht gerade vor, wenn die Befürwortung höherer Leistungen für Arme geht.

BOLLMANN hebt besonders hervor, dass in vielen Ländern der Trend zur Grundrente gehe, denn schließlich geht es der FAS immer um die Schwächung der gesetzlichen Rente und die Profitinteressen der Finanzdienstleister und der Arbeitgeber.

2014

HAUSCHILD, Jana (2014): Dement werden wir später!
Mit der steigenden Lebenserwartung, so fürchten viele, werde Demenz für immer mehr Menschen zum unabwendbaren Schicksal. Neue Studien relativieren den Pessimismus,
in:
Psychologie Heute, Januar

Jana HAUSCHILD berichtet über Studien, die darauf hindeuten, dass jüngere Generationen seltener an Demenz leiden als ältere Generationen. Dies bedeute, dass solche Erkrankungen weniger biologische bzw. genetischen Ursachen hätten, sondern die Konsequenz unseres Lebensstils seien.

MÜLLER-JUNG, Joachim (2014): Die "alten Alten" lassen sich nicht mehr wegschieben.
Jedes zweite Baby kann heute schon mit einem Lebensalter von mehr als 100 Jahren rechnen. Die ganz Alten schreien nach Respekt. In einer neuen Studie werden Gesellschaft und Politik aufgefordert, endlich etwas zu tun,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.03.

FAZ-Redakteur Joachim MÜLLER-JUNG, Jahrgang 1964 und Autor des Buchs Das Ende der Krankheit, berichtet über die Heidelberger Hundertjährigenstudie. Die Versicherungsbranche als Sponsor und die Gerontologie als "Lobbyorganisation privilegierter Alter" haben ein gemeinsames Interesse an der Überzeichnung eines Trends: Die Versicherungsbranche muss die Lebenserwartung möglichst hoch ansetzen, um bei einer steigenden Lebenserwartung, ihre Profite maximieren zu können. Die Gerontologie wiederum negiert die Heterogenität des Alters und nimmt die privilegierten Alten zum Maßstab. Silke van DYK fordert deshalb:

"Ein homogenisierender Blick auf das Alter wird der Facettenvielfalt des Alters, die nicht nur durch eine Pluralisierung der Lebensstile, sondern eben auch durch soziale Ungleichheit bedingt ist, nicht gerecht. (...). Eine kritische wissenschaftliche Rezeption der politischen Entdeckung des erfolgreichen und produktiven Alters sollte (...) an diesen Ungleichheiten ansetzen und zur Debatte stellen, inwiefern das propagierte Bild des produktiven Alter(n)s am Alltag einer kleinen, privilegierten Minderheit orientiert ist, deren (neue) Freiheiten zu (disziplinierenden) Normierungen für andere werden."
(PROKLA, 146, Nr.1, März 2007, S.109)

DESTATIS (2014): Zensus 2011: Knapp ein Viertel der Ausländer stammt aus der Türkei,
in: Pressemeldung Statistisches Bundesamt v. 10.04.

Nicht was das Statistische Bundesamt meldet, sondern was es nicht meldet, macht die Brisanz aus. Während die Pressemeldung suggeriert, dass es kaum Abweichungen durch den Zensus 2011 gebe, so ist das nur die halbe Wahrheit, denn vor dem Zensus fand bereits die Bereinigung der Melderegister statt, die nach und nach in die amtliche Statistik eingeflossen ist. Würde man also die Bereinigung der Melderegister zusammen mit dem Zensus 2011 betrachten, dann ergäben sich ganz andere Abweichungen.

Im Gegensatz zur Pressemeldung sind die veröffentlichten Grunddaten zu Alter und Geschlecht viel aufschlussreicher. So zeigt sich z.B. dass es bei den Hundertjährigen und älteren Personen über 7 mal mehr Frauen als Männer gibt. Bei den 85 jährigen Personen sind es immerhin noch doppelt so viele Frauen als Männer. Was bedeutet dies aber für die Entwicklung der Pflegebedürftigen und den Pflegebedarf?

Wenn die Lebenserwartung für Männer und Frauen derart weit auseinanderklafft, warum spielt das bei der Debatte um die Zukunft der Sozialsysteme keinerlei Rolle?

In letzter Zeit wird gerne über die Heidelberger Hundertjährigenstudie berichtet. Es stellt sich deshalb die Frage, wie aussagekräftig Studien sind, bei denen von vielen Frauen und wenigen Männern, die zwei Weltkriege überlebt haben, auf die zukünftige Entwicklung des Lebens von Hochbetagten geschlossen wird.

Wann also beginnt eine Debatte ohne Scheuklappen jenseits eines von diversen Lobbygruppen inszenierten demografischen Wandels, der nichts anderes als eine Demografisierung gesellschaftlicher Probleme ist? Welche Auswirkungen hat der gesellschaftliche Wandel auf das zukünftige Leben? Und was bedeutet die politisch betriebene Zunahme sozialer Ungleichheit (Klasse, Geschlecht, Region usw.) für das Leben im Alter? Keine dieser Fragen wird heutzutage ernsthaft diskutiert.

RÉTHY, Laura & Regina KÖHLER (2014): Pflege in Not – Berlins größte Herausforderung.
Im Jahr 2030 müssen 170.000 Berliner gepflegt werden – ein Anstieg um mehr als 50 Prozent. Es ist eine der größten Herausforderungen der Zukunft. Ist Berlin ihr gewachsen? Ein Report,
in:
Berliner Morgenpost v. 24.08.

"In Berlin werden heute 110.000 Menschen gepflegt. 2030 werden es 170.000 sein, ein Anstieg um mehr als die Hälfte. Die Zahl der über 80-Jährigen wird bis dahin um mehr als 80 Prozent zunehmen. Wie all diese Menschen adäquat versorgt werden sollen, ist nicht klar. Die Bertelsmann Stiftung hat errechnet, dass 2030 allein in Berlin 20.000 Pflegekräfte fehlen werden. Experten gehen davon aus, dass bald schon jeder dritte Schulabsolvent in Deutschland einen Beruf in der Pflege ergreifen müsste, um den Bedarf zu decken",

rechnen Laura RÉTHY & Regina KÖHLER vor. Die Datenbasis des Pflegereport 2030 der Bertelsmann Stiftung stammt aus dem Jahr 2009 und ist aufgrund des Zensus 2011 und des - gegen jegliche Prognose - stattfindende Bevölkerungswachstums vor allem in den Großstädten völlig veraltet.

Fragwürdig ist die Annahme zur Pflegebedürftigkeit, dass sich zwar die Lebenserwartung erhöht, aber dies keinerlei Auswirkungen auf den Gesundheitszustand hat. Der Statistiker Gerd BOSBACH hat solche Annahmen zu Recht kritisiert. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Anteil der Einpersonenhaushalte bei älteren Menschen zurückgeht, weil sich der geschlechtsspezifische Altersunterschied von Paaren sowie die geschlechtsspezifische Lebenserwartung annähert. Inwiefern die zunehmende räumliche Mobilität bzw. politische Entscheidungen hinsichtlich der Pflegeversicherung einen Einfluss haben, das wäre anhand unterschiedlicher Szenarien zu klären.

Aufgrund der Realitätsferne der Annahmen sind Vorausberechnungen lediglich über 5 Jahre zu fordern. Dann kann nämlich überprüft werden, inwiefern die Annahmen überhaupt realistisch wareb. Außerdem ist zu fordern, dass die Annahmen der jeweils letzten Vorausberechnung und das Eintreffen bei jeder neuen Vorausberechnung mitzuliefern sind. Weil dies die Glaubwürdigkeit solcher Vorausberechnungen in Frage stellen würde, wird dies unterlassen. Stattdessen werden uns ständig neue Langfristvorausberechnungen vorgelegt, deren Überprüfbarkeit durch die langen Zeiträume verhindert werden.

Fazit: Statt Kaffeesatzleserei ist Transparenz gefordert!

MPIDR (2014): Späte Rente, längeres Leben.
Männer, die bereits mit 60 Jahren aufhören zu arbeiten, haben eine deutlich verringerte Lebenserwartung,
in: Demografische Forschung Aus Erster Hand,
Nr.3 v. 07.10.

Frührentner sterben früher als länger Arbeitende, weil Arbeit gesund erhält, behaupten neoliberale Verfechter einer Rente mit 70 (90)... Das Gegenteil trifft jedoch zu: der Zusammenhang zwischen schlechtem Gesundheitszustand und frühem Renteneintritt ist bei Männern bislang stärker als es die neoliberale Ideologie behauptet. Dies gilt nach einer neuen Untersuchung zumindest für die Anfang der 1930er Jahre geborenen Männer. KÜHNTOPF & TIVIG kommen deshalb zu dem Schluss, dass "die Lasten für das deutsche Rentensystem insgesamt geringer sein könnten als allgemeinhin angenommen."

HAARHOFF, Heike (2014): Magie des Alters.
Oldies: 100-Jährige heute sind agiler als 100-Jährige vor 100 Jahren. Und sie werden immer mehr. Aber warum? Die Erforschung eines schillernden Fisches könnte das Rätsel lösen,
in:
TAZ v. 11.10.

Heike HAARHOFF, Jahrgang 1969 und Herausgeberin des Buchs Organversagen, berichtet über die Zunahme der Hundertjährigen und Älteren in Deutschland:

"»Die Kinder, die heute auf den Geburtsstationen liegen, sind bereits die Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft der Hundertjährigen«, prognostiziert James Vaupel, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Laut dem Datenreport des Statistischen Bundesamtes zu Bevölkerung und Demografie 2013, hat ein 2010 in Deutschland geborenes Baby eine Chance von 50 Prozent, hundert Jahre alt zu werden.
Schon jetzt ist die Geschwindigkeit, mit der die Zahl der Hundertjährigen in Deutschland wächst, frappierend: Zwischen 2000 und 2010 stieg sie nach Angaben der Human Mortality Database von 5.937 auf 13.198, das entspricht einer Zunahme von 122 Prozent.
Und ähnlich rasant geht es weiter: Pro Dekade erhöht sich ihre Zahl um mehr als das Doppelte. Für Deutschland heißt das: Die Zahl der Hundertjährigen wird zwischen 2010 und 2040 von damals 13.000 auf rund 140.000 gestiegen sein.
Interessant ist dabei vor allem, wie der Zugewinn an Lebensjahren heute zustande kommt: Bis 1920 nahm die Lebenserwartung vor allem zu, weil die Sterblichkeit von Kindern und Jugendlichen beträchtlich sank. Inzwischen geht die Verlängerung des Lebens dagegen zu fast 80 Prozent auf das Konto einer sinkenden Sterblichkeit in der Klasse der über 65-Jährigen, erklärt der Rostocker Demograf Rembrandt Scholz."

Als einzige wissenschaftliche Studie zur Situation der Hundertjährigen und Älteren in Deutschland existiert jedoch bislang nur eine Heidelberger Studie. Hundertjährige und Ältere sollen  sich vor allem auf Sardinien, in Kalifornien oder auf der japanischen Insel Okinawa finden. Auch innerhalb von Deutschland sind Hundertjährige ungleich verteilt.

Da die Anzahl der Hundertjährigen und Älteren vergleichsweise klein ist und auch im Jahr 2040 gerade einmal 0,2 Prozent der Bevölkerung in Deutschland so alt sein wird (bei einer Bevölkerungszahl von ca. 70 Mill. Menschen), ist der Beitrag von HAARHOFF in erster Linie der Magie der Zahl 100 geschuldet. Stimmen die Prognosen von James VAUPEL, dann wird erst im 22. Jahrhundert den Hundertjährigen für die heute geborenen Kinder eine Bedeutung zukommen wie sie heutzutage etwa die 80-Jährigen und Älteren haben - vorausgesetzt die Lebensbedingungen und der Gesundheitszustand der Hochaltrigen ändern sich in diesem langen Zeitraum nicht entscheidend.

PETERSDORFF, Winand von (2014): Von der Schönheit des Alterns.
Deutschland vergreist. Was für ein Fortschritt. Denn die Alten von heute sind gesund, mobil und lernfähig. Sie können Bäume ausreißen, wenn man sie nur ließe. Es wird Zeit, einmal ganz entspannt über die Rente mit 83 nachzudenken,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 23.11.

Wenn es um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit geht, dann sind plötzlich alle Hochbetagten kerngesund, geht es um geplante Einschnitte ins Sozialsystem, dann sind Hochbetagte plötzlich alle pflegebedürftig. So verspielt man Glaubwürdigkeit!

 
     
 
       
     
       
   

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Update: 10. Februar 2019