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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Die Entwicklung der Lebenserwartung in Deutschland

 
       
   

Die Debatte um den Anstieg der Lebenserwartung, die Gesundheit Älterer, die Unterschiede der Sterblichkeit und ihre Bedeutung für die Sozialsysteme (Teil 5)

 
       
   

Die Chronologie der Debatte

 
       
   
     
 

Vorbemerkung

Die Entwicklung der Lebenserwartung gilt Demografen und Ökonomen neben der Entwicklung der Geburten in Deutschland als das gesellschaftliche Hauptproblem des demografischen Wandels. Insbesondere die Rentenversicherung und die Krankenversicherung sowie die Pflegeversicherung (Stichworte: Pflegebedarf bzw. Pflegenotstand) erscheint in einer Gesellschaft der Langlebigen als bedroht. Spätestens seit Ende der 1970er Jahre wird das Rentensystem aufgrund der steigenden Altenlast immer wieder vor dem Kollaps gesehen. Leistungseinschnitte oder Privatisierungen gelten Neoliberalen bzw. Nationalkonservativen als einzige Möglichkeit, um die Sozialversicherungssysteme zu retten. Dabei bleiben die zentralen Fragen außen vor: Was bedeutet der Anstieg der Lebenserwartung überhaupt für unsere Gesellschaft? Nicht demografische Aspekte, sondern nicht-demografische Aspekte wie der medizinische und technologische Fortschritt, die Gesundheit jüngerer und älterer Menschen, infrastrukturelle und arbeitsmarktstrukturelle Veränderungen sind in der hier vertretenen Sicht bedeutender. Die Zukunft Deutschlands könnte also ganz anders aussehen als dies die üblichen Prognosen behaupten. Diese Bibliografie widmet sich deshalb in erster Linie jenen Fragen, die gewöhnlich eher vernachlässigt werden, weil sie nicht von mächtigen Interessensgruppen vorangetrieben werden.

Kommentierte Bibliografie (Teil 5: 2016)

2016

LESSENICH, Stephan (2016): Die Volksmaße.
SZ-Serie Was ist Deutsch?: Die Ungleichheit ist groß, und doch ging es Deutschland nie so gut wie heute. Wer die Angst vor einer nationalen Krise herbeireden will, sollte ein paar Zahlen kennen,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 25.01.

"Insbesondere für Männer lässt sich (...) ein deutlicher Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung feststellen: nur sieben von zehn Männern aus Armutshaushalten (aber neun von zehn aus den obersten Einkommensgruppen) erleben überhaupt ihren 65. Geburtstag. Ihre Lebenserwartung bei Geburt ist gegenüber jener der Bestverdienenden um durchschnittlich zehn Jahre, die sogenannte »gesunde Lebenserwartung« sogar um fast 15 Jahre reduziert. Deutschland altert also, aber äußerst »differenziell«, wie die Sozialstrukturanalyse das frühe Erkranken und Sterben in Armutsmilieus elegant umschreibt",

hält der Soziologe Stephan LESSENICH den Krankenkassen und Lebensversicherern entgegen, die über die Alterung der Gesellschaft klagen. Oder anders formuliert: Die so genannten "schlechten Risiken" nehmen in einer stark sozial ungleichen Gesellschaft der Langlebigen wie Deutschland ab statt zu.

HE, Wan/GOODKIND, Daniel/KOWAL, Paul (2016): An Aging World: 2015. International Population Reports, U.S. Census Bureau, März

DESTATIS (2016): Lebenserwartung für Jungen 78 Jahre, für Mädchen 83 Jahre,
in: Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts v. 04.04.

LAMPERT, T./HOEBEL, J./KUNTZ, B./FUCHS, J./SCHEIDT-NAVE, C, NOWOSSADECK, E (2016) Gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter, Robert Koch – Institut, Berlin, GBE kompakt Nr.1 v. 08.03.Lampert T, Kroll LE (2014) Soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung. Hrsg. Robert Koch-Institut, Berlin. GBE kompakt 5(2) www.rki.de/gbe-kompakt (Stand: 16.06.2016)

Die Autoren berichten, dass der Forschungsstand zur Lebenserwartung in Deutschland im internationalen Vergleich hinter dem in Skandinavien oder Großbritannien zurück bleibt:

"Der Forschungsstand in Deutschland ist zwar nicht gleichermaßen entwickelt wie z. B. in Großbritannien und Skandinavien, einzelne aussagekräftige Studien liegen aber zwischenzeitlich vor. Beispielsweise belegen Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für den Untersuchungszeitraum 1984-2010 deutliche Unterschiede in der Lebenserwartung älterer Menschen in Abhängigkeit vom Einkommen (Kroh et al. 2012). Den Ergebnissen entsprechend beträgt die Differenz in der ferneren Lebenserwartung ab 65 Jahren zwischen der niedrigen und hohen Einkommensgruppe 3,5 Jahre bei Frauen und etwas mehr als 5 Jahre bei Männern. Diese Unterschiede lassen sich der Studie zufolge zumindest teilweise auf eine erhöhte psychische und physische Belastung im Lebenslauf, insbesondere im Erwerbsleben, sowie auf geringere materielle, kulturelle und soziale Ressourcen in der unteren Einkommensgruppe zurückführen. Soziale Unterschiede in der ferneren Lebenserwartung zuungunsten älterer Menschen mit geringem Einkommen bestanden bereits in der westdeutschen Bevölkerung der 1980er und 1990er Jahre, wie eine Auswertung von Daten des Lebenserwartungssurveys des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung verdeutlicht (Luy et al. 2015). Spätere Daten der Deutschen Rentenversicherung belegen, dass die fernere Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren von Männern in West- und Ostdeutschland mit der Anzahl der in der gesetzlichen Rentenversicherung erworbenen Entgeltpunkte (als Indikator für das Lebenseinkommen) ansteigt (von Gaudecker, Scholz 2007, Shkolnikov et al. 2008, Kibele et al. 2013). Dabei zeigte sich auch, dass sich die Unterschiede im Zeitverlauf vergrößert haben, da Männer mit hohem Lebenseinkommen stärker von einer steigenden Lebenserwartung profitierten als Männer mit sehr niedrigem Einkommen (Kibele et al. 2013). (...).
Deutschlandweite Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland aus den Jahren 2008 bis 2011 (DEGS1) machen deutlich, dass Gebrechlichkeit im Alter ebenfalls mit der sozialen Lage zusammenhängt. So weisen 65- bis 79-Jährige mit niedrigem Sozialstatus deutlich häufiger Anzeichen von Gebrechlichkeit auf als Gleichaltrige mit mittlerem und hohem Status (Buttery et al. 2015)."

Die Autoren diskutieren drei Hypothesen zur Entwicklung der Gesundheit im Alter und der ferneren Lebenserwartung im höheren Lebensalter. Während einige Forscher von einem "unveränderten Fortbestehen (»Kontinuität«)" der Ungleichheit ausgehen, deuten andere Befunde auf eine "Ausweitung (»Divergenz«)" bzw. "Verringerung oder sogar Angleichung (»Konvergenz«)" hin. Da die Gesundheit im Alter ein komplexes Geschehen ist, können alle drei Hypothesen richtig sein, je nachdem welcher Aspekt im Vordergrund steht.

Fazit: Im Gegensatz zur Entwicklung der Lebenserwartung ist die Forschung zur Entwicklung der Gesundheit in Deutschland eher unterentwickelt.

BORSTEL, Stefan von (2016): Wo leben die Deutschen am längsten?
Am Starnberger See werden die Menschen am ältesten. Am niedrigsten ist die Lebenserwartung im strukturschwachen Pirmasens,
in:
Welt v. 31.03.

Stefan von BORSTEL berichtet über eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine ZIMMERMANN (Linkspartei) zur Lebenserwartung in Deutschland. Nach den Daten des BBSR unterscheidet sich die Lebenserwartung deutlich zwischen strukturschwachen Regionen, in denen viele Menschen mit geringem Einkommen leben und Gegenden, in denen viele reiche Menschen leben. Jedoch gibt es auch große geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Lebenserwartung. Eine Grafik zeigt uns die Unterschiede in der Lebenserwartung für einige ausgewählte kreisfreie Städte und Landkreise, wobei nicht kenntlich gemacht wurde, ob die kreisfreie Stadt oder der Landkreis gleichen Namens gemeint ist.

Tabelle: höchste und niedrigste geschlechtsspezifische
Lebenserwartung in Deutschland
Stadt oder Landkreis Männer Frauen
Breisgau-Hochschwarzwald (79,5) 85,0
Starnberg 81,3 (83,6)
Pirmasens 73,0 77,1
Quelle: Grafik in der Welt v. 31.03.2016

RÖTZER, Florian (2016): Selber schuld: Arm, kränker und früher Tod.
Sozioökonomische Bedingungen stehen hinter Unterschieden in der Lebenserwartung von bis zu 10 Jahren, die Bundesregierung sieht Chancengleichheit lediglich durch Prävention,
in:
Telepolis v. 07.04.

MOHR, Reinhard (2016): Richtig schön alt werden.
Für den Mann, der sich den besten Jahren nähert, ist der Starnberger See das Paradies: Hier hat er die höchste Lebenserwartung (aber meiden Sie bloß Pirmasens),
in:
Welt am Sonntag kompakt v. 10.04.

Reinhard MOHR, alternder Ex-Spiegel-Mitarbeiter und Autor des Buches Generation Z, in dem er das privilegierte Altern seiner Generationseinheit beschreibt, berichtet anlässlich einer Studie des Robert Koch Instituts (Welt 31.03.) zu Gesundheit und Lebenserwartung in Deutschland. Nicht die sozioökonomischen Unterschiede in der Lebenserwartung interessiert MOHR, sondern lediglich der Starnberger See als Wohnort von Prominenten, die sich die Gegend noch leisten können. Ein Artikel also, der auf die Zielgruppe der People Magazine abzielt. In der Welt am Sonntag findet sich der Artikel unter der Schlagzeile Ommm am Wohlstrand.

SEIBEL, Karsten & Holger ZSCHÄPITZ (2016): Gut gemeint.
Das Vertrauen in die Riester-Rente ist verloren: hohe Kosten, magere Renditen. Drei Strategien, die Altersvorsorge umzubauen,
in:
Welt am Sonntag kompakt v. 24.04.

SEIBEL & ZSCHÄPITZ versprechen den überlebenden Riester-Sparern goldene Riester-Zeiten angesichts der von den Versicherungen zu hoch angesetzten Lebenserwartung:

"In den nächsten Jahrzehnten müssten Riester-Sparer allein schon davon profitieren, dass Versicherte früher sterben als angenommen. Für die Berechnung der jährlichen Rentenzahlung nehmen die Anbieter eine bestimmte Lebenserwartung an. Stirbt der Versicherte früher, gehen 90 Prozent der nun nicht mehr notwendigen Zahlungen laut Gesetz an alle Kunden. Da der Großteil der Riester-Sparer nach maximal 25 Beitragsjahren vom Rentenalter noch ein Stück entfernt ist, kann diese Gewinnquelle noch nicht sprudeln."

ENDT, Christian (2016): Die Lücke.
Fast überall auf der Welt leben Frauen mehrere Jahre länger als Männer. Aber warum variiert der Unterschied von Land zu Land? Die Zahlen verraten einiges über die Situation der Geschlechter in verschiedenen Gesellschaften,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 27.04.

"Eine Frau, die 2014 geboren wurde, wird im weltweiten Durchschnitt 73,6 Jahre zu leben haben. Ein Mann dagegen nur 69,4 Jahre - fast vier Jahre weniger",

erklärt uns Christian ENDT. Berechnet hat dies die Weltbank. Glücklicherweise wird das nie jemand nachprüfen. Das haben Prognosen so an sich, dass sie mehr als selten überhaupt nachgeprüft werden. Oder macht sie heutzutage jemand die Mühe Prognosen von Mitte des 20. Jahrhunderts danach zu untersuchen, ob sie mit der Realität übereinstimmen?

Die Prognose der Weltbank könnte erst in fast 74 Jahren überprüft werden, abgesehen davon, dass die Statistiken in den unterschiedlichen Ländern kaum auf dem gleichen Niveau sind. Angesichts vieler Kriege weltweit, kann davon ausgegangen werden, dass viele Statistiken fehlerhaft sind. Die Exaktheit der genannten Zahlen soll offenbar darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier höchstens um ganz grobe Unterschiede gehen kann.

"Am geringsten unterscheidet sich die Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen in den armen Ländern Afrikas",

fasst ENDT das Ergebnis für einen ganzen Kontinent zusammen. Erstaunlicherweise kommt Krieg als Erklärung nicht vor. Die Länder Südamerikas werden im Gegensatz zu Afrika als Schwellenländer im Gegensatz zu Entwicklungsländern bezeichnet. Uns wird also eine modernitätstheoretische Sichtweise als Erklärung für Unterschiede in der Lebenserwartung angeboten.

Mit Blick auf die Nachfolgestaaten der Sowjetunion kommt dann die geschlechterpolitische Dimension des Artikels in den Blick:

"Für Hausfrauen hat sich mit dem Systemwechsel weniger verändert als für berufstätige Männern, deren Arbeitswelt plötzlich vollkommen anders aussah."

Zum Schluss wird am Beispiel von Europa, das ja so unterschiedliche Staaten wie die ehemaligen Ostblockstaaten, die südländischen Krisenstaaten und die wohlhabenden Nordeuropäer umfasst, eine simplifizierende modernisierungstheoretische Perspektive untergejubelt:

"Während der Abstand in der Lebenserwartung beim Schritt vom Entwicklungs- zum Schwellenland wächst, geht es beim Aufstieg vom Schwellen- zum Industrieland in die andere Richtung. Die Lücke schließt sich wieder."

Sollte ein Land nicht in dieses Konzept passen, dann wird es als statistischer Ausreißer klassifiziert. So einfach macht es sich die Modernitätstheorie. Der Begriff taucht in dem Artikel nirgends auf. Stattdessen wird uns erklärt, dass mit den Forschungen biologische von gesellschaftlichen Ursachen getrennt werden sollen.

Vielleicht wäre es sinnvoller genauer hinzuschauen, statt uns eine solche undifferenzierte, westliche Modernitätsideologie vorzusetzen.

LAMBECK, Fabian (2016): Rente mit 70: Jeder Fünfte stirbt vorher.
Besonders Geringerverdiener mit schlechten Aussichten,
in:
Neues Deutschland v. 28.04.

Fabian LAMBECK berichtet im Zusammenhang mit einer von SCHÄUBLE angestoßenen Debatte eines höheren Renteneintrittsalters über eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine ZIMMERMANN von der Linkspartei:

"zwischen 2005 und 2014 (sind) fast 16 Prozent aller Verstorbenen höchstens 65 Jahre alt (...)(gewesen). Rund 22 Prozent waren 70 Jahre oder Jünger."

Nicht nur die Lebenserwartung von Armen ist niedriger, sondern auch die gesunden Jahre sind kürzer, wird Rolf ROSENBROCK vom Paritätischen Wohlfahrtsverband zitiert.

Hinzu kommt, dass Arbeitsplätze, die für Ältere geeignet sind, rar sind. Der Artikel endet deshalb mit einer Parole:

"Die, die uns bis 70 arbeiten lassen wollen, und die, die keinen über 50 mehr einstellen, das sind dieselben, oder?"

BUDRAS, Corinna & Sharon EXELER (2016): Pirmasens, abgehängt.
Arme Menschen haben wenig Geld und sterben früher. Pirmasens hält den traurigen Rekord. Ein Besuch,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.05.

"Das Leben in Pirmasens ist gefährlich. Das zeigt ein Blick in die Statistik. Nirgendwo in Deutschland sterben die Menschen so früh wie hier in der Westpfalz, auf den sieben Hügeln zwischen Kaiserslautern und der französischen Grenze, direkt an der Bundesstraße 10. Nach durchschnittlich 73 Jahren sind die Männer tot, mit 77 Jahren die Frauen. Am Starnberger See hätten sie dagegen noch acht Jahre länger zu leben, womöglich sogar die schönsten Jahre",

erzählen uns BUDRAS & EXELER. Bringt uns dies schon in Verwirrung, wird es noch verwirrender, wenn man den Text mit der Grafik vergleicht. Dort wird für Pirmasens und Starnberg jeweils nur für die Männer eine Lebenserwartung von 73 bzw. 81 Jahren angegeben. Gilt die Lebenserwartung nun für die Westpfalz oder für Pirmasens und warum leben Frauen nicht länger als Männer, wenn für Pirmasens oder Westpfalz bereits ein Unterschied von 4 Jahren besteht? Gemäß Wikipedia wird die kreisfreie Stadt Pirmasens vom Landkreis Südwestpfalz umschlossen.

Die Verwirrung hat offenbar eine dpa-Meldung Ende März ausgelöst. Seitdem sind Zahlen zur regional unterschiedlichen Lebenserwartung im Umlauf, die mit einer Anfrage von Sabine ZIMMERMANN (Linkspartei) in Verbindung stehen. In einem Welt-Beitrag von Stefan von BORSTEL wird die geschlechtsspezifische Lebenserwartung in den beiden Regionen noch am differenziertesten dargestellt.

BUDRAS & EXELER beschreiben die derzeitige Situation mit einer Arbeitslosigkeit von 13 Prozent (ohne Jahresangabe) vor dem Hintergrund einer golden Epoche:

"Pirmasens war einmal eine stolze Stadt, mit einer boomenden Schuhindustrie, die in der ganzen Welt ihresgleichen suchte. Die Stadt mit der höchsten Millionärsdichte und nahezu Vollbeschäftigung: 350 Schuhfabriken, die zu ihren Glanzzeiten 25.000 Menschen beschäftigten, und das über Generationen hinweg und mindestens bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts."

Das Bleiben eines traditionsreichen Schuhherstellers wird dann zum Wendepunkt stilisiert. Pirmasens wird jungen Familien und Rentnern als guter Standort gepriesen:

"Pirmasens mag zwar eine sterbende Stadt sein, aber eine, in der es sich leben lässt. Vor allem billig. Das ist ein Standortvorteil in einem Land mit explodierenden Immobilienpreisen. Rentner und Familien lieben Pirmasens, sagt sie. Da pendelt man schon mal ins nahe gelegene Daimler-Werk oder sogar nach Stuttgart, wie ihr eigener Ehemann",

zitieren BUDRAS & EXELER eine Immobilienmaklerin, die PR in eigener Sache betreibt und den Niedergang von Pirmasens auf Ende der 1990er Jahre datiert.

"Seitdem bleiben sie vornehmlich zu Hause, kassieren Hartz IV und bekommen Kinder, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu Hause bleiben und Hartz IV kassieren. Jedes dritte Kind unter 15 Jahren lebt hier in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft",

wird uns erzählt und die niedrige Lebenserwartung in Pirmasens damit nicht nur erklärt, sondern auch gleichzeitig die Verschärfung dieses Problems suggeriert.

Das Hauptproblem solcher Daten ist jedoch, dass nicht Lebensläufe, sondern die Korrelation von Gebiet und Bevölkerung, Grundlage sind, d.h. eine niedrige Lebenserwartung einer Region sagt erst einmal nichts über die Lebenserwartung konkreter Menschen aus, denn dann dürfte es innerhalb eines Menschenlebens keinerlei Mobilität in diesem Gebiet gegeben haben. Wie also soll eigentlich aus solchen Korrelationsdaten überhaupt sinnvoll die Lebenserwartung von Menschen ermittelt werden? Sagen die Zahlen nicht viel mehr über das Wanderungsgeschehen als über die Lebenserwartung aus? Deshalb bemühen die Autorinnen zur Erklärung Studien des Robert-Koch-Instituts, wobei deren Erkenntnisse sich offenbar nicht auf die Stadt Pirmasens beziehen, sondern lediglich allgemeine Zusammenhänge beschreiben:

"Nicht zuletzt dank des Robert-Koch-Instituts ist das alles hinreichend erforscht. Und doch verblüffen, gar empören die Befunde immer wieder aufs Neue. Dass arme Menschen schlechter leben als reiche, ist bekannt und wohl auch akzeptiert. Aber dass die Höhe des Einkommens und der Stand der Bildung über die Länge des Lebens entscheiden, ist nichts, woran sich eine Gesellschaft gewöhnt – oder gewöhnen sollte. Denn die Konsequenzen sind riesig: Armut, vor allem gepaart mit einem niedrigen Bildungsniveau, kostet rund zehn Jahre des Lebens. Rauchen, Alkohol, Übergewicht sind bei Hartz-IV-Empfängern weiter verbreitet als bei Menschen mit höherem Einkommen. Arme kümmern sich weniger um gesundes Essen und treiben weniger Sport, all das befördert Herz-Kreislauf-Krankheiten und Atemwegsbeschwerden. Hinzu kommen Stress und Frust über die eigene Situation. Auch das verkürzt das Leben."

Diese Situation wird uns als Grund für einen "Pakt für Pirmasens" präsentiert, der vor 7 Jahren geschlossen wurde und nun für Abhilfe sorgen soll. BUDRAS & EXELER präsentieren am Ende sogar noch Erfolge, die von dem Leser dem Projekt zugeschrieben werden sollen:

"Langsam geht es vorwärts, im vergangenen Jahr ist die Einwohnerzahl erstmals seit zwanzig Jahren wieder gestiegen, die Arbeitslosenzahl gesunken. Wenn in zwanzig Jahren 25 Prozent der betreuten Kinder eine Ausbildung schaffen, wäre das ein Erfolg, sagt Oberbürgermeister Matheis in einem Anflug von Pirmasenser Realismus."

SOMMERFELDT, Nando & Holger ZSCHÄPITZ (2016): Den Deutschen droht die Rente mit 73.
IW-Prognose: Bleibt der Beitragssatz konstant, müssen die Jungen deutlich länger arbeiten,
in:
Welt v. 27.05.

SOMMERFELDT & ZSCHÄPITZ wollen uns schocken mit einer IW-Berechnung über deren Annahmen die Autoren nichts verlautbaren lassen. Kaffeesatzlesen ist eine beliebte Tätigkeit. Seit Jahrzehnten werden uns "Schock-Prognosen" um "Schock-Prognosen" vorgesetzt - eingetroffen ist nichts davon. Der demografische Wandel muss dafür herhalten, um uns Sachzwänge einzureden, die es nicht gibt, sondern lediglich die Interessen von Lobbyisten darstellen. Rente mit 73? Da gab es schon vor zehn Jahren Wissenschaftler, die uns die Rente mit 90 als Sachzwang einreden wollten. Das IW macht Prognosen nach Gutsherrenart. Wir brauchen eine Rente mit 73? Kein Problem. Wir brauchen einen Fachkräftemangel? Kein Problem! Wer uns irgendwelche Berechnungen vorlegt, der sollte auch die dazugehörigen Daten liefern, mit der die Berechnungen nachvollzogen werden können. Alles andere ist unredlicher Journalismus!

Die Berechnungen des IW werden noch absurder angesichts der Tatsache, dass erst vor wenigen Tagen eine neue Bevölkerungsprognose des IW Köln bis zum Jahr 2035 erschienen ist, die gravierend von der vorangegangenen Bevölkerungsprognose des IW und auch von der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes abweicht. Wie kann es also sein, dass uns nun Berechnungen bis zum Jahr 2041 vorgelegt werden, für die es gar keine aktuelle Bevölkerungsprognose des IW gibt?

BROEG, H. u.a. (2016): Zehn Jahre länger leben. Die neue Wissenschaft des Alterns.
Genanalyse, Blutverjüngung und der vermeintliche Wunderwirkstoff Rapamycin: Während unsere Gesellschaft immer älter wird, vermessen die Forscher die Möglichkeiten, dem Menschen mehr Lebensjahre zu schenken,
in: Focus Nr.24 v. 11.06.

KRISCHER, Markus (2016): Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn wir alle 100 werden?
Die Lebenserwartung steigt. Geburtenraten sinken. Schon bald stellen die Alten die Mehrheit - die Folgen sind dramatisch,
in: Focus Nr.24 v. 11.06.

In welchem Jahrtausend werden wir alle 100 müsste man angesichts dieser dummen Schlagzeile fragen. Bislang werden gerade einmal 50 % der Menschen in Deutschland um die 80 Jahre alt. KRISCHER nervt mit Horrorszenarien Marke SCHIRRMACHER, die vor allem eines sind: Kaffeesatzleserei!

FOCUS (2016): 31 Regeln für ein längeres Leben,
in: Focus Nr.24 v. 11.06.

Eine Sammlung von Banalitäten

GESTERKAMP, Thomas (2016): Jungs, hier kommt der Masterplan.
Essay: Warum eine neue Männerpolitik nötig ist, die im Dialog mit Frauen die Dinge verändern will,
in:
Freitag Nr.25 v. 23.06.

Aufgrund der Maskulistenbewegung, die in den vergangenen Jahren immer mehr Zulauf erhalten hat, soll dem eine Alternative entgegengesetzt werden. So wie die CDU in der Vergangenheit rot-grüne Themen erfolgreich besetzt hat, will nun Thomas GESTERKAMP und seine Verbündeten vom Männerforum rechte Männerthemen besetzen. Es geht dabei auch um Themen wie die geringere Lebenserwartung von Männern im Gegensatz zu Frauen.

CREUTZBURG, Dietrich (2016): Rätselraten über die Rente mit 73.
Die Lebenserwartung steigt, die Rentenbezugsdauer hat sich verdoppelt. Modellrechnung leuchtet Folgen aus,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.07.

Die FAZ und die Welt garnieren heute die gestrige Meldung der Deutschen Rentenversicherung zur Rentenbezugsdauer im Jahr 2015 mit einer IW Köln-Berechnung von Susanna KOCHSKÄMPER vom 27. Mai dieses Jahres.

Die Berechnungen beziehen sich auf Prognosen, die jedoch längst veraltet sind und nicht mehr dem aktuellen Stand der Bevölkerungsentwicklung entsprechen. Ein Renteneintrittsalter von 73 Jahren wäre erst im Jahr 2041 notwendig und auch nur, wenn alle Parameter unverändert bleiben würden. Das aber ist über einen solche langen Zeitraum lediglich Kaffeesatzleserei. Es geht hier einzig und allein um die Meinungshoheit in der Öffentlichkeit im Vorfeld der Veröffentlichung des diesjährigen Rentenversicherungsberichts und der Flankierung der geplanten Rentenreformen, die insbesondere die Profite der Versicherungswirtschaft zu Lasten der Beitragszahler und Rentenempfänger steigern sollen.

BRACHAT-SCHWARZ, Werner (2016): Warum leben Frauen im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald am längsten?
Zu möglichen Ursachen für die regional unterschiedliche Lebenserwartung in Baden-Württemberg,
in:
Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Heft 8

Werner BRACHAT-SCHWARZ erklärt uns die Probleme bei der Berechnung der durchschnittlichen Lebenserwartung einer Bevölkerung. Er unterscheidet zwischen Kohortensterbetafeln und Periodensterbetafeln. Üblicherweise werden letztere verwendet, obwohl sie einen gravierenden Nachteil haben: Ihre Werte stimmen nur bei gleichbleibender Lebenserartung. Ein Sinken/Anstiegen der Lebenserwartung führt zur Falscheinschätzung. Ein Anstieg führt zur Unterschätzung, ein Sinken zur Überschätzung der Lebenswartung. BRACHAT-SCHWARZ weist jedoch nur einseitig auf die Probleme beim Anstieg hin weil dies scheinbar das gegenwärtige Problem ist, von dem Demografen ausgehen.

"Frauen ernähren sich im Schnitt gesünder, sie setzen sich im Alltag weniger Gefahren aus, verüben deutlich seltener Suizid und nehmen häufiger Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen in Anspruch",

erklärt uns BRACHAT-SCHWARZ die Gründe für die höhere Lebenserwartung von Frauen. Doch können Sterbetafeln angesichts der Zunahme von Wanderungen bzw. ihrer Eigenheiten zu Fehleinschätzungen hinsichtlich der Lebenserwartung führen:

- Der 3-jährige Zeitraum kann bei niedrigen Fallzahlen zu kurz sein:

"Bis zum Alter von unter 65 Jahren sterben nämlich relativ wenige Menschen, sodass hier mögliche Zufallseinflüsse besonders groß sein könnten."

- Das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Pflegeeinrichtungen führt dazu, dass einer falschen Region die Ursachen zugeschrieben werden:

"Dort, wo es überdurchschnittlich viele vollstationär untergebrachte Pflegebedürftige gibt, ist die Lebenserwartung tendenziell geringer."

- Veränderungen der Bildungs- und Einkommensverhältnisse haben Einfluss auf die Lebenserwartung eines Gebiets.

Die aktuelle Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Landesamtes geht für Baden-Württemberg bis 2060 von einer Abschwächung des Anstiegs der Lebenserwartung aus. Außerdem wird von größeren Unterschieden im Land ausgegangen:

"Zielgebiete inter- oder intraregionaler Wanderung (haben) nach Untersuchungen von Luy und Caselli in der Regel eine geringere Sterblichkeit als Abwanderungsgebiete. Damit spricht einiges dafür, dass die regionalen Unterschiede in der Lebenserwartung wieder größer werden könnten."

SCHERFF, Dyrk (2016): Rente mit 73.
Die Deutschen leben immer länger. Und immer gesünder. Was spricht dagegen, auch immer länger zu arbeiten?
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 21.08.

Dyrk SCHERFF verteidigt den Bundesbank-Vorschlag einer Rente mit 69 gegen Sigmar GABRIEL. Dazu reiht er den Vorschlag in die Phalanx jener Neoliberaler ein, die im Interesse von Finanzdienstleister und Arbeitgeber bereits ähnliche Vorschläge unterbreitet haben.

"Länger arbeiten ist der Königsweg, um die Renten zu stabilisieren",

lautet das Credo von SCHERFF, der sich bislang nur als Befürworter der Kapitaldeckung hervorgetan hat. Unsicherheiten der Prognosen wischt SCHERFF einfach beiseite. Seine Expertenschar, die uns präsentiert wird, kennen wir bereits als Hausexperten der FAZ/FAS: Axel BÖRSCH-SUPAN, Andreas KRUSE, Jürgen PIMPERTZ und Jim VAUPEL. Man könnte meinen dass dies die einzigen Experten wären, die zu den Fragen arbeiten. Zumindest vertreten sie aber die richtigen Interessen. Aufklärung ist nicht die Sache von SCHERFF, sondern Kanalisierung. Wir sollen nicht nach links oder rechts schauen, sondern den Tunnelblick der Finanzdienstleister und Arbeitgeber, die nur ihren Profit im Blick haben, übernehmen. Soziale Ungleichheit? Sozialer Ausgleich? Das sind Fremdwörter - höchstens sie kommen den Profitinteressen gelegen - also als Rhetorik und nicht als Umsetzung in die Praxis.

"Schon jetzt übertrumpfen sich die Parteien mit Vorschlägen, das Rentenniveau bei 45 oder sogar 50 Prozent einfach festzuschreiben. Das würde 16 beziehungsweise 41 Milliarden Euro kosten, hat der renommierteste deutsche Ökonom für Altersfragen, Axel Börsch-Supan errechnet.
(...) Höhere Beiträge von bis zu 27 Prozent wären die Folge.",

erzählt uns SCHERFF. In der morgigen FR liest sich das bei Karl DOEMENS dagegen folgendermaßen:

"Das Prognos-Institut hatte bereits in der vergangenen Woche errechnet, dass ein Verzicht auf die beschlossenen Einschnitte bereits im Jahr 2030 mit jährlich 26,7 Milliarden Euro zu Buche schlagen würde. Wirtschaftswissenschaftler Börsch-Supan beziffert nun in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« die Mehrausgaben im Falle einer Anhebung des Rentenniveaus auf 50 Prozent gar auf 41 Milliarden Euro. Bis zum Jahr 2060 würde nach seinen Berechnungen der Beitragssatz von heute 18,7 auf 27,5 Prozent steigen."

Schon Mitte Mai diesen Jahres wurden uns von Jochen PIMPERTZ vom IW Köln nicht nur 41 Milliarden, sondern sogar 51 Milliarden Euro Kosten für eine Stabilisierung des Niveaus der gesetzlichen Rente auf 50 Prozent vorgerechnet. Diese Zahlen wurden dann wieder Anfang Juli zu polemischen Zwecken gegen ein Positionspapier der SPD-Linken in Stellung gebracht.

Die Zahlen zur notwendigen Beitragssatzsteigerung, die uns DOEMENS präsentiert, finden sich nicht im Text, sondern nur in der Grafik Rente und Lebenserwartung der FAS. Als Quellen werden IW und MEA genannt. Inwiefern die Berechnung auf BÖRSCH-SUPAN zurückgehen, kann der Leser gar nicht nachvollziehen. Man müsste dazu wissen, dass BÖRSCH-SUPAN Direktor des Munich Center for the Economics of Aging (MEA) ist. Berechnungen bis 2060 sind reine Kaffeesatzleserei. Das Statistische Bundesamt hat kürzlich die Treffsicherheit von Bevölkerungsvorausberechnungen untersucht und dabei nur einen Zeitraum von maximal 17 Jahren überprüft (vgl. Olga PÖTZSCH "(Un-)sicherheiten der Bevölkerungsvorausberechnungen", Wirtschaft und Statistik, Heft 4/2016) . Schon in diesem Zeitraum gab es eklatante Fehleinschätzungen bei den Annahmen zur Entwicklung der Zuwanderung und der Geburtenrate. Das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen im Jahr 2060 hängt aber entscheidend von diesen beiden Faktoren ab. Die Differenz zwischen dem erwarteten Beitragssatz (ohne Reformen) und einer Stabilisierung bei 50 % beträgt für das Jahr 2060 gerade einmal 4 % (27,5 % statt 23,5 %). In Anbetracht der gravierenden Unsicherheiten solcher Berechnungen sind diese Differenzen geradezu lächerlich gering. Nur so viel also zum Umgang mit Zahlen bei den vermeintlichen Qualitätszeitungen.

Der Gerontologe Andreas KRUSE, Verfechter eines Altersbildes, das den fitten Alten der oberen Mittelschicht zum Ausgangspunkt seines Gesellschaftsideals nimmt, wird uns als Gegenspieler von Sigmar GABRIEL in Sachen Arbeitsfähigkeit im Alter von Verkäuferin, Krankenschwester und Altenpfleger vorgestellt. Diese Frauenberufe werden uns als Beispiele für Berufsgruppen genannt, die nicht so lange durchhalten wie Bundesbanker. Wobei der Dachdecker, der bei der Rente mit 67 die tragende Rolle im Kampf gegen deren Einführung spielte, außen vor bleibt:

"»15 bis 20 Prozent der Erwerbstätigen haben Berufe, die körperlich im Alter schwer auszuüben sind«, sagt der Altersforscher Andreas Kruse von der Universität Heidelberg. Das heißt, für 80 Prozent der Beschäftigten gibt es zunächst einmal keinen Grund, nicht länger zu arbeiten."

Uns wird nicht verraten, welche Berufe das sind und auf welcher Stichprobe dieser Befund basiert. Möglicherweise sind die meisten Menschen bereits vorher an einer Berufskrankheit gestorben. Uns werden also wichtige Informationen zur Beurteilung der Sachlage vorenthalten. Nicht einmal eine Studie wird uns als Beleg genannt. Einzig die Expertenautorität muss uns genügen. Als Wissenschaftler lassen wir uns dagegen mit solcher Polemik nicht abspeisen. Zu jedem Experten existieren Gegenexperten. Aufklärung verlangt solche Gegenexperten vorzustellen - alles andere ist unseriös!

Zuletzt werden wir Deutschen im Vergleich zum Ausland als rückständig diffamiert. Denn uns werden selbst im Vergleich zur Vielzahl von Industriestaaten nur ein paar Ausnahmen von der Regel präsentiert, die jedoch mit dem Prädikat "fortschrittlich" geadelt werden:

"Schweden, Polen, Lettland, Italien haben ein System, in dem die Beschäftigten ihr Rentenalter frei wählen können und dann mehr oder weniger Rente bekommen, abhängig von ihren Einzahlungen."

Nach Rente mit 73 sieht das nicht aus. Und Polen als Vorbild? Sonst wird uns die nationalkonservative Regierung in Polen als eine Art Teufel präsentiert! Italien. Bankenkrise? Schweden? Sonst eine Ausgeburt des Sozialdemokratismus!

"Die Niederlande heben das Rentenalter gleitend auf mehr als 70 Jahre an. Dänemark und Norwegen planen die Einführung von Regelaltersgrenzen, die mit der Lebenserwartung steigen, Frankreich hat so etwas schon."

Bloße Absichtsbekundungen zu Reformen werden uns als Vorbilder verkauft? Offenbar sind die berechtigten Widerstände gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters - oder gar einen Automatismus der Kopplung an die Lebenserwartung - so groß, dass SCHERFF kaum fündig wird. Fortschrittliche Positionen sehen anders aus! Danach werden uns die Kopplungsvorstellungen von BÖRSCH-SUPAN schmackhaft gemacht:

"Steigt die Lebenserwartung um drei Jahre, würde die Rente ein Jahr später beginnen. Zwei Jahre bekäme der Rentner »geschenkt«. Nach diesem System würde die Rente 2060 mit 69,5 Jahren beginnen."

Rente mit 73? Fehlanzeige. Im Übrigen wurden uns in den vergangenen Monaten schon diverse Vorschläge - selbst in dieser Zeitung - präsentiert, die auf größere Einschnitte hinausliefen. Offenbar hat die Debatte bewirkt, dass einige Verfechter einer Erhöhung des Renteneintrittsalters ihre Strategie geändert haben: Salamitaktik, statt Dampfhammermethode. Erst mal die Rente mit 100 fordern, dann klingt die Rente mit 69 richtiggehend human! Dieses Spielchen unserer Neoliberalen werden wir wohl vor der Wahl noch öfters vorgesetzt bekommen.

SCHÖNBERGER, Birgit (2016): Große Freiheit oder großes Loch?
Der Gedanke an die Rente weckt Hoffnung auf ein freies Leben ohne Leistungsdiktat. Doch wenn es dann so weit ist, kommt für viele ein böses Erwachen,
in:
Psychologie Heute, September

Das Bild vom "jungen Alten" ist die Vision einer oberen Mittelschicht, die Medien, Politik und Wissenschaft dominiert. SCHÖNBERGER definiert diese Gruppe als 60-75-Jährige und bleibt damit weit unterhalb jenen Neoliberalen, die diese Gruppe eigentlich bis zum Tode ausdehnen möchte. Dass sie keinen Widerspruch zwischen dieser Definition und der Tatsache sieht, dass sie die Lebenserwartung von 65-Jährigen nennt, liegt wohl daran, dass die Lebenserwartung von 60-Jährigen nicht publiziert wird. Erst recht nicht die Lebenserwartung von 50-Jährigen. Die Frage ist nämlich, inwieweit die so genannte Restlebenserwartung durch positive Selektion verzerrt ist. Solche Fragen passen jedoch nicht zur Fiktion des Durchschnittsalten.

Der Renteneintritt soll ein kritisches Lebensereignis sein. Dazu wird uns eine allgemeine Taxonomie von 40 "belastenden Lebensereignissen" genannt, deren genaue Zusammensetzung uns vorenthalten wird, sodass sie für den Leser nicht nachvollziehbar ist. Uns soll genügen, dass der Renteneintritt Platz 10 belegt, um uns zu ängstigen. Danach werden uns zwei Studien von Ursula STAUDINGER genannt, die auf den Slogan:

"Frühe Rente schadet der Gesundheit und reduziert die Lebensfreude"

verkürzt wird. Dies dürfte jedoch in erster Linie den Typus "Menschen, die beruflich sehr eingespannt waren" betreffen.

KUNTZ, Michael (2016): Wer früher geht, lebt kürzer.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass das Sterberisiko wächst, wenn Berufstätige vorzeitig in den Ruhestand wechseln: Viele fallen in ein Loch, weil sie nicht mehr gefragt sind, der Frust wächst. Familie, Freunde und Hobbys können helfen, den neuen Lebensabschnitt zu genießen,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 13.09.

Neoliberale flankieren ihre Forderung nach einem höheren Renteneintrittsalter mit Forschungsergebnissen, die angeblich beweisen sollen, dass ein Frührentnerdasein die Lebenserwartung verkürzt. Michael KUNTZ präsentiert uns nur Fallbeispiele aus der oberen Mittelschicht, speziell der Managerriege, denn der so genannte Ruhestandstod ist eher Problem jener, die ihren Machtverlust nicht verkraften. Mehr als die üblichen Studien, die das Phänomen auch bei anderen Rentnergruppen belegen sollen, liefert uns KUNTZ nicht (vgl. Die Zeit v. 30.07.2015).

"Mit jedem Jahr vorgezogenem Ruhestand steige die Wahrscheinlichkeit, vor dem 68. Geburtstag zu sterben, um 13,4 Prozent",

zitiert KUNTZ ein Studie von Andreas KUHN, Jean-Phnilippe WUELLRICH und Josef ZWEIMÜLLER, die im August 2010 als Diskussionspapier Fatal Attraction? Access to Early Retirement and Mortality erschienen ist. Dort heißt es:

"For males, instrumental-variable estimates show a significant 2.4 percentage points (about 13%) increase in the probability of dying before age 67."

Die Aussage gilt lediglich für österreichische, männliche Arbeiter der Geburtsjahrgänge 1929 - 1941) und ist mit äußerster Vorsicht zu genießen, da es sich hier nur um ein Diskussionspapier handelt und nicht um Erkenntnisse, die einer Überprüfung durch weitere Forschungen standgehalten haben. Die Aussagen haben also einen sehr eingeschränkten Aussagebereich, und sind nicht - wie KUNTZ suggeriert - verallgemeinerbar.

"Von den in den 1960er Jahren geborenen Babyboomern hat ein Drittel keine Kinder",

lügt uns KUNTZ an, denn diese Fehleinschätzung von Herwig BIRG Anfang des Jahrtausends ist längst durch Erhebungen widerlegt. Ledig rund 20 % dieser Babyboomer bleiben kinderlos. Dass dies ein Problem sei, ist allenfalls Spekulation und kein empirischer Beleg.

DFAEH (2016): Lebenserwartung: Trends bei Hochgebildeten weisen den Weg.
Unterschiede zwischen gut und wenig Gebildeten nehmen zu,
in:
Demografische Forschung aus erster Hand, Nr.3 v. 26.09.

Bei der Rentenpolitik gilt seit längerem die Kopplung des Renteneintrittsalters an die durchschnittliche Lebenserwartung. Nicht nur die Untersuchung von JASILIONIS & SHKOLNIKOV zeigen, dass sich die Lebenserwartung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen stark unterscheiden. Eine Rentenpolitik, die das nicht berücksichtigt, privilegiert die obere Mittelschicht und diskriminiert das Nicht-Akademikermilieu.

Die Forschungen zeigen aber auch, dass die Unterschiede möglicherweise noch wesentlich krasser sind als die amtliche Statistik behauptet. Allein schon die Feststellung von Bildungsunterschieden ist ein Problem:

"Werden etwa Zensusdaten und Sterbedaten verwendet, tritt oft das Problem auf, dass der höchste Bildungsabschluss zum Todeszeitpunkt ein anderer sein kann als in der Zensusbefragung. Zudem gibt es international unterschiedliche Bildungsklassifikationen, die einen Vergleich erschweren. Und schließlich ändern sich die Anteile der unterschiedlichen Bildungsklassen an der Gesamtbevölkerung",

werden uns die Probleme geschildert. Tatsächlich ist das nur die halbe Wahrheit, denn Bildung ist meist nur ein Indikator für Einkommensunterschiede. Dabei wird naiverweise davon ausgegangen, dass hohe Bildung sich in hohe Einkommen umsetzt. Dies ist längst nicht mehr der Fall seit sich die Selektivität vom Bildungssystem in das Arbeitssystem verlagert hat. Nicht Bildung, sondern soziale Herkunft ist die ausschlaggebendere Variable. Die Forschungen zur Lebenserwartung berücksichtigen dies nicht.

Bei der hier vorgestellten Untersuchung wird die Situation in Deutschland gar nicht erst erwähnt, denn bei uns ist hier die Datenlage ähnlich katastrophal wie Anfang des Jahrtausends in Sache Kinderlosigkeit. Die Politik verhindert jegliche Forschung, die ihre Pläne durchkreuzen könnte. So wurde die Erhebung der Kinderlosigkeit erst nach Durchsetzung des Elterngelds verbessert. Zuvor wurde diese Durchsetzung jedoch mit weit überhöhten Kinderlosenzahlen erst als alternativlos dargestellt. Inzwischen stellt sich heraus, dass die niedrige Geburtenrate in Deutschland zu zwei Dritteln auf dem Rückgang der Kinderreichen beruht. Bei der Rentenpolitik droht nun das gleiche Spielchen. Mit überhöhten durchschnittlichen Werten zur Lebenserwartung wird die Kopplung des Renteneintrittsalters an diese falsch berechnete Lebenserwartung betrieben.

EUROSTAT (2016): Beinahe 27 Millionen Menschen in der Europäischen Union sind 80 Jahre oder älter.
Lebenserwartung von fast 10 Jahren für 80-Jährige,
in:
Pressemitteilung des statistischen Amt der Europäischen Union v. 29.09.

Aus der Pressemitteilung ergeben sich folgende Zahlen für die 80-Jährigen und älteren (31.12.2014) und die Lebenserwartung der 80-Jährigen im Jahr 2014

Land

Anzahl der
80-Jährigen

Prozentanteil der
80-Jährigen an der
Gesamtbevölkerung
(Rangfolge)
Prozentanteil
der Frauen an der
Bevölkerung
ab 80 Jahren
Lebenserwartung der 80-Jährigen (in Jahren)
Insgesamt Frauen Männer
Belgien 611.388 5,3 % (7) 64,4 % 9,7 8,5 10,4
Bulgarien 331.193 4,6 % (17) 64,2 % 7,0 6,4 7,3
Tschechien 418.698 4,0 % (22) 67,2 % 8,3 7,4 8,9
Dänemark 239.409 4,2 % (19) 62,5 % 9,1 8,2 9,8
Deutschland 4.544.298 5,6 % (6) 65,1 % 9,3 8,4 9,8
Estland 65.292 5,0 % (11) 75,2 % 8,9 7,3 9,5
Irland 141.566 3,1 % (27) 61,5 % 9,1 8,2 9,8
Griechenland 680.969 6,3 % (2) 59,2 % 9,4 9,1 9,6
Spanien 2.732.405 5,9 % (3) 63,3 % 10,4 9,2 11,2
Frankreich 3.850.802 5,8 % (4) 65,0 % 11,0 9,5 12,0
Kroatien 197.164 4,7 % (16) 68,4 % 7,7 6,9 8,1
Italien 3.977.449 6,5 % (1) 64,4 % 10,0 8,8 10.9
Zypern 27.506 3,2 % (26) 58,9 % 8,8 8,4 9,2
Lettland 96.615 4,9 % (13) 75,9 % 8,2 7,0 8,6
Litauen 149.111 5,1 % (8) 73,4 % 8,3 7,1 8,8
Luxemburg 22.294 4,0 % (22) 64,2 % 10,1 8,5 11,2
Ungarn 418.295 4,2 % (19) 70,5 % 7,9 6,9 8,4
Malta 17.129 4,0 % (22) 64,0 % 9,4 8,6 10,0
Niederlande 734.976 4,3 % (18) 63,8 % 9,3 8,3 10,0
Österreich 429.851 5,0 % (11) 65,6 % 9,5 8,6 10,1
Polen 1.525.896 4,0 % (22) 69,4 % 9,0 7,9 9,7
Portugal 595.570 5,7 % (5) 64,6 % 9,2 8,0 10,0
Rumänien 815.899 4,1 % (21) 64,5 % 7,6 7,0 7,9
Slowenien 99.523 4,8 % (14) 69,5 % 9,3 8,1 10,0
Slowakei 168.459 3,1 % (27) 69,7 % 7,9 7,0 8,4
Finnland 277.477 5,1 % (8) 66,2 % 9,4 8,4 10,1
Schweden 499.408 5,1 % (8) 61,9 % 9,3 8,4 10,0
Großbritannien 3.093.013 4,8 % (14) 61,4 % 9,5 8,7 10,0

BÖRSCH-SUPAN, Axel/BUCHER-KOENEN, Tabea/RAUSCH, Johannes (2016): Szenarien für eine nachhaltige Finanzierung der Gesetzlichen Rentenversicherung,
in:
ifo Schnelldienst Nr.18 v. 29.09.

Abdruck des gleichnamigen MEA-Diskussionspapier vom 19. August 2016. BÖRSCH-SUPAN/BUCHER-KOENEN/RAUSCH verfolgen mit dem Artikel drei Ziele:
1) Eine Vorausschätzung der Entwicklung bis 2060
2) Auswirkungen einer Stabilisierung des Rentenniveaus bei 45, 46 und 50 Prozent aufzeigen
3) Plädoyer für eine kostensenkende Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung und eine Neudefinition der Standardrente

Die Vorausschätzung bis 2060 basiert auf einer ganzen Reihe von Annahmen zur
1) Bevölkerungsentwicklung: Orientierung an der Variante 2 der 13ten koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamtes. Die angenommene Konstanz der Geburtenziffer von 1,4 Kinder pro Frau war bereits zum Zeitpunkt der Erstellung der Bevölkerungsvorausberechnung überholt.
2) Arbeitsmarktentwicklung: Orientierung an den kurzfristigen Annahmen der mittleren Variante des Rentenversicherungsberichts 2015, wobei mangels fehlender Information lediglich die Erwerbsquote in Abhängigkeit zur Anhebung des gesetzlichen Regelrentenalters fortgeschrieben wird. Außerdem wird eine teilweise Angleichung der Erwerbsquoten bei Frauen und Ostdeutschen angenommen
3) Einkommensentwicklung: Orientierung an der mittleren Annahme des Rentenversicherungsberichts 2015, wobei keine weitere Angleichung der Einkommen zwischen Ost und West angenommen wird

Die Autoren erklären uns, dass bei heute gültig bleibenden Regeln die Beitragsatzziele bis 2032 eingehalten werden können und zwischen 2037 und 2053 nur minimal darüber bei 22,7 Prozent verharren würden. Danach sollen sie weiter steigen, was reine Spekulation ist, weil bereits heute die Konstanz der Geburtenziffer überholt ist. Das Mindestrentenniveau von 43 Prozent würde danach im Jahr 2036 unterschritten und würde dann oberhalb von 42 Prozent verharren.

Der - im Vergleich mit anderen Berechnungen - niedrige Beitragssatz beruht gemäß den Autoren auf ihren Annahmen zur Entwicklung der Hinterbliebenenrenten:

"So unterstellen wir einen Rückgang der Hinterbliebenenrenten und ihrer Rentenhöhe, da wegen der Anrechnungsregeln zunehmend andere Einkommensarten diese vermindern. So schreiben wir die Ausgaben für die Hinterbliebenenrente mit lediglich 1 % (durchschnittlicher Anstieg der Rentenausgaben wegen Todes der vergangenen zwei Jahrzehnte) fort." (2016, S.35)

Offenbar bestimmen also die Annahmen entscheidend über die Ergebnisse von Berechnungen. Je länger der Zeitraum um so größer werden deshalb die Abweichungen bei den einzelnen Parametern.

BÖRSCH-SUPAN u.a. gehen bei der Stabilisierung des Rentenniveaus einzig von Auswirkungen auf die Entwicklung des Beitragssatzes aus. Diese Sicht vernachlässigt alternative Möglichkeiten zur Stabilisierung des Beitragssatzes auch bei höherem Rentenniveau: Erhöhung des Bundeszuschusses, Entlastung der Beitragszahler von versicherungsfremden Leistungen, die Einbeziehung von Selbständigen in die Rentenversicherung, Beendung der sozialabgabenfreien Entgeltumwandlung auf Kosten der Rentenversicherung, Beendung der Subventionierung der Kapitaldeckung. Dies sind nur wenige Beispiele für Möglichkeiten, die bei den Autoren gar nicht erst in Betracht gezogen werden, weil sie eine Rentenniveaustabilisierung schlechtreden wollen.

Die Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung bedeutet eine Rentenkürzung, weshalb Kostenersparnisse hier allein zu Lasten der Rentenempfänger gehen. Während BÖRSCH-SUPAN diese Regelung in den Mainstreamzeitungen schönfärberisch darstellt, wird hier schonungslos sichtbar, was das wirklich bedeutet:

"Konkret bedeutet dies, dass zwei Drittel der zusätzlichen Lebensjahre in Arbeit verbracht werden sollen, während ein Drittel einer längeren Rentenbezugszeit zugute kommt." (2016, S.34)

Dadurch ergibt sich bei einem moderaten Anstieg der Lebenserwartung (Variante 2) folgende Entwicklung:

"Das Regelrentenalter nimmt (...) nach 2030 jährlich um etwas mehr als einen Monat zu und läge 2060 bei etwa 69 Jahren und sieben Monaten. Damit ist es unter diesen Annahmen zur Entwicklung der Lebenserwartung leicht über dem von der Deutschen Bundesbank (2016) vorgeschlagenen fixen Renteneintrittsalter von 69 Jahren im Jahr 2060".

Ziel dieser Methode ist nicht etwa die Beitragssatzstabilität, sondern sogar die Senkung des Beitragssatzes, denn die Ausgaben für die Rentenversicherung sollen zwischen 2030 und 2054 um 8,8 Mrd. Euro pro Jahr gesenkt werden. Dieser Vorschlag ist in dieser Form auch im Gutachten Nachhaltigkeit in der sozialen Sicherung über 2030 hinaus zu finden (vgl. Kapitel 5.1.2 Automatische Anpassung der Regelaltersgrenze, 2016, S.15). Angaben zur Kostenersparnis werden jedoch dort nicht gemacht.

Mit der Neudefinition der Standardrente, die von den Autoren nur als Alternative nicht jedoch in Kombination mit der Kopplung berechnet wird, könnte zudem elegant die Rentenkürzung als Rentenniveausteigerung vermarktet werden. Inwiefern zukünftig 47 Beitragsjahre und nicht nur 45 Beitragsjahre wie bisher überhaupt erreichbar sind - diese Frage wird ausgeklammert.

MEISSNER, Juliane (2016): Uralt und immer noch fit.
Warum leben Menschen in bestimmten Gegenden besonders lang? Forscher rätseln,
in: Frankfurter Rundschau
v. 06.10.

DÖRHÖFER, Pamela (2016): Viel zu Fuß über Stock und Stein.
Ulla Rahn-Huber beschäftigt sich mit glücklich Gealterten auf Sardinien, die zum Teil auch heute noch ähnlich leben wie ihre Vorfahren in der Bronzezeit,
in: Frankfurter Rundschau
v. 06.10.

CEH (2016): Lebenserwartung steigt um zehn Jahre in der Welt,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.10.

Bericht über eine Studie der Global Burden of Disease (GBD) unter Leitung von Christopher MURRAY.

"Insgesamt steigerte sich die Lebenserwartung in den Jahren 1980 bis 2015 weltweit (...) von durchschnittlich 62 auf fast 72 Jahre",

schätzt die Studie.

DESTATIS (2016): Regionale Unterschiede in der Lebenserwartung haben in den letzten 20 Jahren abgenommen,
in: Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts v. 20.10.

Pressemeldungen lenken gerne von politisch unkorrekten Sachverhalten ab und stellen gerne politisch korrekte Sachverhalte in den Mittelpunkt. So auch diesmal. Der entscheidende Satz befindet sich ganz am Ende der Pressemitteilung:

"Im Vergleich zur vorangegangenen Sterbetafel 2012/2014 ist die Höhe der Lebenserwartung bei Geburt im aktuellen Berechnungszeitraum 2013/2015 nahezu unverändert."

In der Rentenversicherung wird die Erhöhung des Renteneintrittsalters als Königsweg zur Kosteneinsparung betrachtet und vom Medienchor mit Berichten über sagenhafte Steigerungsmöglichkeiten begleitet. Politisch korrekt wird uns die Methusalemgesellschaft als Leitbild verkündet. Dass diese - wenn überhaupt - lediglich die Verhältnisse in der oberen Mittelschicht und der Oberschicht - wiederspiegelt, das wird uns verschwiegen.

Was aber, wenn längst eine Gegenbewegung eingesetzt hat, die nur noch nicht in den Massendaten deutlich erkennbar ist? Die Stagnation könnte bedeuten, dass die gestiegene soziale Ungleichheit und die Einkommensungleichheit bald auch bei der Entwicklung der Lebenserwartung sichtbar wird.

Warum aber betont das Statistische Bundesamt besonders die regionale Angleichung? Seit einiger Zeit haben die Medien ihre Rhetorik in Sachen regionale Unterschiede geändert.  Aufgrund der Wahlerfolge der AfD und wohl auch aufgrund des Brexit - gelten nun regionale Unterschiede als brisant, die bislang ignoriert oder gar begrüßt wurden. Meldungen, die scheinbare Angleichungen verkünden, sind deshalb hochwillkommen. 

HANDELSBLATT-Serie: Zukunft der Rente (Teil 5)

THELEN, Peter (2016): Länger leben und arbeiten.
Diese Gleichung geht vor allem für Geringverdiener nicht auf,
in:
Handelsblatt v. 21.10.

Peter THELEN verweist auf eine Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2014, in der die Entwicklung der Lebenserwartung gar nicht mehr so rosig aussieht:

"Frauen und Männer, deren Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze liegt, haben ein um das 2,4- bis 2,7-Fache erhöhtes früheres Sterberisiko als die mit dem höchsten Einkommen. 84 Prozent der Frauen und 69 Prozent der Männer werden nicht mal 65".

Peter THELEN zitiert jedoch die Studie falsch, denn dort heißt es:

"Die Ergebnisse zeigen, dass Frauen und Männer, deren Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze liegen, ein im Verhältnis zur höchsten Einkommensgruppe um das 2,4- bzw. 2,7-Fache erhöhtes Mortalitätsrisiko haben. Infolgedessen erreicht in der niedrigen Einkommensgruppe ein deutlich geringerer Anteil der Frauen und Männer das 65. Lebensjahr (...). Von den Frauen, die einem relativen Armutsrisiko unterliegen, trifft dies auf 84 % zu, während es von den relativ wohlhabenden Frauen 93 % sind. Bei Männern betragen die Vergleichswerte 69 % in der niedrigen und 87 % in der hohen Einkommensgruppe."
(2014, S.2)

Nicht 84 Prozent der Frauen, sondern 16 % sterben vor dem 65. Lebensjahr. Bei den Männern sterben nicht 69 Prozent vor dem 65. Lebensjahr, sondern 31 Prozent. Das aber ist auch kein zu vernachlässigbarer Anteil.

Mit der Armutsrisikogrenze ist nicht etwa - wie man angesichts der Rentendebatte glauben könnte - das Existenzminimum (oder der Transferbezug Hartz IV/Grundsicherung im Alter) gemeint, sondern 60 Prozent des Medianseinkommens, was gerne unter dem verharmlosenden Begriff der "Armutsgefährdung" läuft. Selbst kirchliche Organisationen wie die Caritas arbeiten an der Wegdefinition dieser Armutsschwelle mit. Die Studie des Robert-Koch-Instituts zeigt jedoch, dass diese Armutsschwelle durchaus gerechtfertigt ist.  

Gemäß THELEN ginge eine Politik der Lebensarbeitszeitverlängerung zulasten der Geringverdiener, die auch durch die Senkung des Rentenniveaus schon stärker belastet wird.

BETHKE, Hannah (2016): Lebenserwartung steigt geringfügig.
Baden-Württemberg bleibt Spitzenreiter bei geringeren regionalen Unterschieden,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21.10.

Die FAZ, die vehement auf eine Erhöhung des Renteneintrittsalters pocht, interpretiert "nahezu unverändert" als "geringfügige Steigung". Hannah BETHKE zitiert sogar das Statistische Bundesamt, das nicht gerade für fortschrittliche Deutungen bekannt ist:

"Die geringe Veränderung sollte man nicht überinterpretieren und die Ergebnisse der folgenden Sterbetafeln abwarten, bevor Aussagen über eine etwaige Stagnation getroffen werden können."

Aber bereits die letztjährige Bevölkerungsvorausberechnung ging in ihrer mittleren Variante von einem geringeren Anstieg bei der Lebenserwartung aus, was zeigt, dass man durchaus von einer Stagnation sprechen könnte.

KAUFMANN, Stephan (2016): Geld und Leben.
Die Menschen in den wohlhabenderen Bundesländern erreichen ein höheres Alter,
in:
Frankfurter Rundschau v. 21.10.

Die FR verschweigt die mögliche Stagnation der Lebenserwartung gleich ganz, denn unter dem neoliberalen Einpeitscher Karl DOEMENS wird das Länger arbeiten zur Pflichtveranstaltung, da kann man keine schlechte Nachrichten in Sachen Lebenserwartung verbreiten!

SEI (2016): In Baden-Württemberg leben Menschen am längsten.
Lebenserwartung insgesamt steigt aber nicht an,
in: Welt
v. 21.10.

Die Welt begrüßt die mögliche Stagnation der Lebenserwartung als Entlastung der Rentenversicherung:

"Die gesetzliche Rentenversicherung und alle privaten Versicherer dürfte eine andere Aussage besonders interessieren. Aktuell steigt die Lebenserwartung in Deutschland nicht weiter an. Noch sieht das Statistische Bundesamt darin nur eine Momentaufnahme. Sollte sich diese Entwicklung allerdings in den kommenden Jahren bestätigen, würde dies die Vorsorgesysteme der Zukunft zumindest ein wenig entlasten."

PFEIFFER, Hermannus (2016): Der Trick mit dem späten Tod.
Vorsorge: Die Deutschen werden immer älter. Doch amtliche Zahlen und Kalkulationen der Versicherungswirtschaft klaffen um viele Jahre auseinander - zulasten der Kunden,
in: TAZ
v. 21.10.

PFEIFFER, Hermannus (2016): Statistik trügt.
Über Versicherer und amtliche Lebenserwartung,
in: TAZ
v. 21.10.

DOEMENS, Karl (2016): Länger arbeiten soll sich lohnen.
Flexi-Rente im Bundestag,
in:
Frankfurter Rundschau v. 21.10.

Der neoliberale Karl DOEMENS erklärt uns in erster Linie die Arbeitgebersicht zur Flexirente, die im krassen Gegensatz zur Gewerkschaftsposition steht. Während die Arbeitgeber das Arbeiten über die Regelaltersgrenze hinaus vorantreiben wollen, setzen die Gewerkschaften eher auf eine Flexibilisierung des Ausstiegs ab 60 Jahren. Als einziger Kritiker wird der Grüne Markus KURTH namentlich erwähnt. Die Forderungen von Gewerkschaften und Arbeitgeber (wobei nur die Position des Wirtschaftsflügel der CDU erwähnt wird)  werden angeblich beide nicht berücksichtigt. Welche Forderungen tatsächlich in den Gesetzesentwurf eingegangen sind,  das ist dem sehr selektiven Bericht nicht zu entnehmen.

HERTLE, Matthias (2016): Langlebigkeit ist nicht umsonst.
In Berlin streiten die Parteien über die Zukunft der Rente. Ein Münchner Ökonom hat eine bestechende Ideen,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 30.10.

Bei der FAS hat Axel BÖRSCH-SUPAN das Interpretationsmonopol in Sachen Rente. Matthias HERTLE trägt uns die schönfärberische FAS-Version des ifo-schnelldienst-Beitrags von Ende September vor:

"Bei einem dynamischen an die durchschnittliche Lebenserwartung angepassten Renteneintrittsalter wird das Sicherungsniveau laut Börsch-Supan dauerhaft oberhalb von 43 Prozent liegen. Der Beitragssatz würde die 22 Prozent-Marke nicht überschreiten",

erklärt uns HERTLE die angebliche Wunderwaffe, mittels derer das Rentensystem gerettet werden soll.

Den Haken an der Sache verschweigt uns HERTLE. Keineswegs würde allein die Kopplung an die Lebenserwartung ausreiche, damit der Beitragssatz von 22 Prozent nicht überschritten wird (vgl. 2016, S.38). Auch das Sicherungsniveau würde nur bei den optimistischen Annahmen von BÖRSCH-SUPAN u.a. nicht unter 43 Prozent sinken.

Weil also die Kopplung an die Lebenserwartung die versprochene Leistung nicht erfüllen kann, helfen die Autoren mit einem statistischen Trick nach: Sie definieren sozusagen die Standardrente neu. Was die Bundesbank im August vorschlug, nämlich die Heraufsetzung der Standardrente von 45 auf 47 Beitragsjahre, das wenden die Autoren nur subtiler an. Das Ergebnis bleibt das Selbe: Sowohl bei der Bundesbank als auch bei BÖRSCH-SUPAN u.a. würde bei einem Renteneintrittsalter von 69 Jahren die Standardrente nicht mehr mit 45, sondern mit 47 Beitragsjahren berechnet werden. Durch diesen statistischen Trick wird einerseits die Rente für diejenigen gekürzt, die nicht mithalten können, und andererseits das Rentenniveau auf 43 Prozent gehalten. Der entscheidende Unterschied: 43 Prozent nicht nach 45 Beitragsjahren, sondern erst nach 47 Beitragsjahren!

Fazit: Die Wunderwaffe privilegiert die Spitzenverdiener, die sowieso länger leben doppelt, während Geringverdiener, deren Lebenserwartung wesentlich geringer ist, doppelt bestraft werden. Die Kopplung an die Lebenserwartung mit Anpassung der Standardrente verschärft die soziale Ungleichheit im Alter zusätzlich und ist damit eine dreiste Umverteilung von unten nach oben.

Als Alternative zu dieser dreisten Umverteilung von unten nach oben wäre stattdessen sinnvoller die Beitragsbemessungsgrenze abzuschaffen und gleichzeitig die Rentenhöhe zu deckeln - wie das in der Schweiz bereits praktiziert wird. Diese Maßnahme wäre angesichts der Tatsache, dass die Lebenserwartung mit dem Einkommen steigt, die gerechtere Lösung. Denn warum sollten die Geringverdiener die längere Rentenbezugsdauer von Spitzenverdienern mitfinanzieren?

KANNING, Tim (2016): Das Zinstief lässt die private Altersvorsorge bröckeln.
Wegen der niedrigen Anleihezinsen funktionieren viele Vorsorgemodelle nicht mehr. Die DWS schließt mehrere Fonds und schraubt auch an den Riesterverträgen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 02.11.

"Nun müssen sich gut eine Million Kunden, die insgesamt mehr als 2 Milliarden Euro in ein Fondsprodukt der Deutschen Bank gesteckt haben, nach einer Alternative umschauen. Denn die Fondstochter DWS schließt mehrer ihrer Garantieprodukte vorzeitig, mit denen Sparer für ihr Alter vorsorgen wollten. (...). Vor allem über fondsgebunde Lebensversicherungen sind viele Anleger in den Fonds investiert. (...). Sie sind also in der Regel nicht direkt Kunden der DWS, sondern haben entsprechende Versicherungen bei großen Anbietern wie Allianz, Zurich oder Nürnberger abgeschlossen",

erklärt uns Tim KANNING zum Scheitern des Altersvorsorgeprodukts Flexpension. Anfang September hat Philipp KROHN den gepriesenen MAP-Report 2016 vorgestellt. Darin wurden Anbieter wie Allianz und Zurich gelobt, die auch Flexpension-Produkte in ihrem Angebot haben. Da uns die FAZ/FAS vor allem ans Herz legt - nicht nur - bei fondsgebundenen Lebensversicherungen auf die Gebühren zu achten, erscheint das Flexpension-Produkt als hervorragend, denn die Fondsgesellschaft DWS hat die Verwaltungsgebühren für dieses Produkt von "ursprünglich 1,1 Prozent auf zuletzt 0,1 Prozent" abgesenkt. Das könnte man also auch als vorletzten Schritt vor dem endgültigen Scheiterns eines Produkts interpretieren.

Bei Rentenversicherungen der DWS wird dagegen die Mindestlaufzeit der Verträge um 5 Jahre erhöht:

"So muss die DWS Basisrente Premium von Mitte November an mindestens 15 Jahre laufen, die DWS Toprente 20 Jahre und die DWS Riesterrente Premium sogar 25 Jahre lang."

Dies ist lediglich eine Wette auf die Zukunft. Sollte diese nicht aufgehen, weil sich die Niedrigzinsphase so nicht aussitzen lässt, dann drohen auch bei diesen Produkten Verluste. Im übrigen befinden sich die Finanzdienstleister mit ihrer Wette auf die Zukunft in guter Gesellschaft, denn auch die Bundesregierung geht in ihren schönfärberischen Annahmen des Alterssicherungsberichts 2016 nur von einem kurzfristigen Renditetief der kapitalgedeckten Altersvorsorge. Verschwörungstheoretiker könnten dahinter ein System sehen, aber eher stecken dahinter die jeweiligen Eigeninteressen, die zu Lasten der Versicherten gehen. 

POELCHAU, Simon (2016): Unsere Kinder sollen bis 71 arbeiten.
Sogenannte Wirtschaftsweise fordern Anhebung des Rentenalters. Offizielle Erwerbslosigkeit sinkt,
in:
Neues Deutschland v. 03.11.

Das Kapitel 7 des aktuellen Jahresgutachten des Sachverständigenrats befasst sich mit der Altersvorsorge:

"Geht es nach dem Willen der sogenannten Wirtschaftsweisen, dann müssen die jetzigen ABC-Schützen bis 71 arbeiten. Das (...) Ökonomengremium schlägt nämlich (...) vor, ab dem Jahr 2030 das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln."

Entweder wird das Renteneintrittsalter auf 71 Jahre erhöht oder aber es wird an die Lebenserwartung gekoppelt - beides geht jedoch nicht, wenn unsere Ökonomen keine Hellseher sind. Im Kapitel 7 heißt es dagegen:

"In den Simulationen wird ein Anstieg des gesetzlichen Renteneintrittsalters von jeweils einem Monat pro Jahr über das Jahr 2029 hinaus umgesetzt. Bis zum Jahr 2060 würde dies zu einem Renteneintrittsalter von 69 Jahren führen. Bis zum Jahr 2080 ergäbe sich ein Renteneintrittsalter von 71 Jahren bei einer bis dahin weiter steigenden Lebenserwartung bei Geburt auf 87,7 Jahre für Männer und 91,3 Jahre für Frauen (Werding, 2016). Dieses Renteneintrittsalter würde für Geburtsjahrgänge ab dem Jahr 2009 gelten." (2016, S.306)

Sind die Simulationen falsch - was eher der Fall sein dürfte, dann stimmt auch das berechnete Renteneintrittsalter von 71 Jahren nicht. Es könnte 2080 genauso bei 65 als auch bei 75 Jahren - oder ganz woanders liegen.

Viel gravierender ist dagegen ein Satz, den POELCHAU ignoriert:

"Korrespondierend sollten alle an das gesetzliche Renteneintrittsalter gebundenen Regelungen entsprechend angepasst werden." (2016, S.305)

Der Sachverständigenrat nennt lediglich die Erhöhung des Zurechnungszeitraums bei Erwerbsminderungsrentnern weil dies ein positiver Effekt wäre, dagegen läuft es für alle anderen auf eine Erhöhung der Beitragsjahre bei der Standardrente - und damit auf eine Rentenkürzung hinaus. Gerne wird dieser unschöne Aspekt in lobpreisenden Zeitungsartikeln über die Kopplung an die Lebenserwartung unter den Tisch fallen gelassen. Bei einer Erhöhung auf 71 Jahre müsste der Eckrentner dann statt auf 45 auf ganze 51 Jahre durchschnittliche Beitragszahlungen kommen!    

CREUTZBURG, Dietrich (2016): Babys dürfen auf 28 Jahre Rente hoffen.
Lebenserwartung erklimmt Höchststände. Vier von fünf Neugeborenen könnten das 22. Jahrhundert erleben,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.11.

Dietrich CREUTZBURG versucht seine Lieblingsidee - und jener von privilegierten Spitzenverdienern - mit neuen Berechnungen zu stützen: die Kopplung des Renteneintrittsalters an die durchschnittliche Lebenserwartung.

Dazu greift er auf einen noch unveröffentlichten Beitrag in einer ungenannten Publikation des Kölner Ökonomen Eckart BOMSDORF zurück, dessen Annahmen daher nicht überprüfbar sind.

"Neugeborene Mädchen des Jahrgangs 2016 werden demnach voraussichtlich im Durchschnitt 93 Jahre alt und damit zehn Jahre älter, als es die aktuelle amtliche Sterbetafel derzeit nahelegt. Sogar Jungen können nun auf eine durchschnittliche Lebensspanne von gut 90 Jahren hoffen."

CREUTZBURG behauptet, dass diese Berechnungen realistischer seien als die amtliche Sterbetafel, die kürzlich veröffentlicht wurde und die eine Stagnation bei der Lebenserwartung ergab. Man darf dies jedoch angesichts der folgenden Aussage bezweifeln:

"Geburtsjahrgang 2016 (...): Die Babys von heute könnten selbst dann auf einen noch ausgedehnten Ruhestand hoffen, wenn im Jahr 2076 eine Rente mit 70 gelten sollte. Zum einen wird selbst diese Altersgrenze dann von 93 Prozent der Mädchen erreicht. (...). Bliebe die Rente mit 67 auch nach 2030 an festgeschreiben, dann hätten die Frauen ein Rentnerdasein von fast 28 Jahren",

erklärt uns CREUTZBURG. Allein diese Angaben zeigen, dass Veränderungen der Einkommensstruktur nicht berücksichtigt werden. Da jedoch ein enger Zusammenhang von Einkommenshöhe und Sterblichkeitsrate besteht, müsste ehrlicherweise nicht mit Durchschnittswerten, sondern mit Einkommensklassen gerechnet werden. Die so genannte "Generationensterbetafel" berücksichtigt solche Aspekte nicht, weshalb ihre Aussagekraft mehr als beschränkt ist. Die Spitzenverdiener könnten also wesentlich länger leben als Menschen unterhalb der Armutsrisikoquote, worauf eine Studie hinweist. Neoliberale Generationenkrieger wie CREUTZBURG interessiert das jedoch nicht. Sollte die Ungleichheit zukünftig weiter zunehmen, dann wären die Berechnungen von BOMSDORF noch irreführender als sie selbst bei gleich bleibender Einkommensstruktur schon sind.

GEYER, Johannes & Peter HAAN (2016): Länger arbeiten.
Forum: Das kann nur mit einem wirksamem Schutz vor Altersarmut funktionieren
in:
Süddeutsche Zeitung v. 14.11.

GEYER & HAAN vom DIW greifen den mantramäßig wiederholten Vorschlag des Finanzministers nach einer Kopplung des Renteneintrittsalters auf, um ihn angeblich zu entschärfen. Wie die FAS wird auch von ihnen verschwiegen, dass eine solche Kopplung nur in Verbindung mit einer Neudefinition der Standardrente (Anpassung der Beitragsjahre an die Regelaltersgrenze) das Rentenniveau auf niedrigem Niveau (43 Prozent) "stabilisieren" würde.

Das begierige Eingehen auf den Vorschlag, das bislang von SPD und Gewerkschaften blockiert wurde, deutet darauf hin, dass unsere Deutungseliten meinen, dass sie durch die Vorabinformationen aus Alterssicherungsbericht 2016 und Rentenversicherungsbericht 2016 den Boden bereitet haben, um die Debatte um eine Stabilisierung des Renteniveaus zu den Akten legen zu können.

Der Vorstoß zielt auf die Debatte um Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente ab, die auf der Linie von Andrea NAHLES und Karl-Josef LAUMANN liegen. Mit ihren Vorschlägen zu einer Teilrente vor 63 kommen die Wissenschaftler jedoch zu spät, denn das Flexi-Renten-Gesetz wurde bereits verabschiedet. Außerdem plädieren GEYER & HAAN für eine Erhöhung der Grundsicherung im Alter und

"Freibeträge für Einkommen aus Vermögen und der gesetzlichen Rente."

Ob diese Maßnahmen geeignet sind

"Altersarmut künftig nicht ansteigen zu lassen und das Vertrauen in die soziale Sicherheit zu erhalten"

ist eher zu bezweifeln. Eher handelt es dabei um den Versuch die unsoziale Kopplung des Renteneintritts an die Lebenserwartung sozialer aussehen zu lassen.

ÖCHSNER, Thomas (2016): 47 statt 45.
Wie viele Jahre arbeitet ein Durchschnittsmensch bis zur Rente?
in:
Süddeutsche Zeitung v. 17.11.

RÜRUP, Bert (2016): Risiko Langlebigkeit.
Der Chefökonom: Die Rentenkasse ist keine Autoversicherung,
in:
Handelsblatt v. 21.11.

Der neoliberale Unternehmenslobbyist Bert RÜRUP polemisiert gegen die Umverteilung von Reich zu arm, die aufgrund der krass unterschiedlichen Lebenserwartung durchaus gerechtfertigt ist. Seine Polemik richtet sich gegen einen Vorschlag von Karl LAUTERBACH & Friedrich BREYER, der in der öffentlichen Debatte bislang gar nicht vorkommt:

"Gemeinsam mit dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach fordert Breyer (...), die Rentenansprüche sollten mit steigendem Einkommen degressiv und nicht wie derzeit proportional wachsen."

Der Vorschlag macht insofern keinen Sinn, weil die Lebenserwartung nicht analog zur Einkommenszunahme steigt, sondern eher durch Schwellenwerte definiert ist. Deshalb wäre ein Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze bei gleichzeitiger Deckelung der Rentenhöhe nach dem Vorbild der AHV in der Schweiz sinnvoller.

RÜRUP aber geht es um den Versuch das Problem zu verharmlosen, indem er darauf hinweist, dass es z.B. auch regionale Differenzen und geschlechtsspezifische Differenzen bei der Lebenserwartung gäbe. Regionale Differenzen lassen sich jedoch weitgehend auf Einkommensunterschiede zurückführen und Geschlechterdifferenzen wurden bereits durch Gerichtsurteile bei der privaten Altersvorsorge als unzulässig erklärt. RÜRUP will das Problem auf Beitragsgerechtigkeit reduzieren. Tatsächlich ist es eine Frage der Sozialstaatlichkeit.

RÜRUP geht es darum, dass unsere Gesellschaft zu einer Dienstbotengesellschaft mit großer sozialer Ungleichheit wird, die ganz im Sinne der Unternehmen, aber nicht der Arbeitnehmer wäre. Auf solch eine neoliberale Klassengesellschaft will RÜRUP die Rentenversicherung einschwören:

"Wer die Rentenversicherung wirklich (...) fit machen will für unser postindustrielles Zeitalter mit einer breiten Lohnspreizung, einem großen Niedriglohnsektor, einer schleichenden Abnahme der dauerhaften Vollzeitbeschäftigung zugunsten befristeter, oft freiberuflicher Projektarbeit (...) darf eine weitere Anhebung des Rentenalters jenseits des Jahres 2030 nicht (ausschließen)".

Eine solche Gesellschaft wird nicht zu einer Erhöhung der Lebenserwartung führen, sondern zu noch krasseren Unterschieden zwischen der Lebenserwartung von Armen und Reichen.

ALBERTI, Manfred (2016): Angst vor der Armut.
Ältere Arbeitlose sind schlecht geschützt,
in: Frankfurter
Rundschau v. 25.11.

"Eine soziale Absicherung der Lebensphase zwischen Arbeitsende und Renteneintritt muss eine Vorbedingung sein für alle Überlegungen, das Renteneintrittsdatum nach hinten zu verschieben", fordert Manfred ALBERTI.

THELEN, Peter & Martin GREIVE (2016): Die Zeit der Überschüsse ist vorbei.
Sozialversicherung: Reformen treiben die Sozialkassen 2017 immer mehr ins Defizit. Die Rentenpläne von Ministerin Nahles fallen da kaum ins Gewicht,
in:
Handelsblatt v. 28.11.

Das Handelsblatt hat sich von Jens BOYSEN-HOGEFE vom Institut  für Weltwirtschaft eine Schätzung bestellt, um ihrer Polemik gegen den Sozialstaat einen wissenschaftlichen Anstrich zu verpassen. Das wird gerne so praktiziert. Trifft die Schätzung nicht ein, dann erinnert sich sowieso niemand mehr daran!

Als Ergebnis des Gesamtkonzepts der Alterssicherung, bzw. dessen was überhaupt davon noch umgesetzt wird, sind THELEN & GREIVE hoch erfreut: denn die Reformen kosten so gut wie nichts: Die Verbesserung der Erwerbsminderungsrente wird bis 2024 gestreckt.

Der Finanzierungsstreit um die Angleichung der Ostrenten bis 2025 ist für THELEN & GREIVE eine Farce:

"Bis dahin dürfte der Rentenwert Ost sich aber sowieso ans Westniveau angeglichen haben",

zitieren sie Joachim RAGNITZ vom Ifo-Institut.

Weil das Handelsblatt Anfang Juli mit ihrer von der Arbeitgeberlobby in Umlauf gebrachten Prophezeiung, dass die Sozialabgaben nächstes Jahr über 40 Prozent steigen werden, daneben lag, müssen nun irgendwelche angeblich unseriösen Machenschaften herhalten, um zu erklären, warum dies doch nicht passiert.

Der Unternehmenslobbyist RAGNITZ sieht gar "Spielraum für eine Beitragssenkung". Das ist eine Lieblingsfloskel, denn durch Beitragssenkungen soll im Grunde nur der "Spielraum für Sozialleistungen" eingeschränkt werden. Das klingt aber natürlich allzu offensichtlich.

BEEGER, Britta (2016): Lücke in der Rentenversicherung.
Die Ausgaben steigen stärker als die Einnahmen,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 29.11.

Britta BEEGER erklärt uns, dass die Renteneinnahmen und -ausgaben in den nächsten 25 Jahren nur im gleichen Maße wie in den letzten 25 Jahren steigen. Und das obwohl die Babyboomer noch gar nicht in der Rente sind. Daraus lässt sich ermessen in welchem Maße bei der Rente gespart werden soll. BEEGER lässt den CDU-Haushaltspolitiker Eckhardt REHBERG die Haltelinie von 46 Prozent kritisieren, die Andrea NAHLES in ihrem Gesamtkonzept der Alterssicherung vorgeschlagen hat.

LOOMAN, Volker (2016): Indexfonds sind Gift für ra(s)tlose Anleger,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29.11.

In der Frankfurter Millionärszeitung widmet sich Volker LOOMAN heute den Geldsorgen eines Zahnarztes:

"Ein Zahnarzt ist 55 Jahre alt. Die Praxis war von Anfang an eine Goldgrube. Im Privatleben hat es erst im dritten Versuch geklappt. Die beiden Fehlversuche haben den Mann viel Geld gekostet. Trotzdem besteht kein Anlass zum Jammern. Auf dem Girokonto liegen 200.000 Euro. Im Depot der Hausbank befinden sich Anleihen im Wert von 150.000 Euro. Der Barwert der Versorgungsansprüche - monatlich 3.000 Euro ab dem 65. Lebensjahr - beträgt 400.000 Euro und gehört zu den Anleihen, weil die Versorgungsansprüche von Medizinern typischerweise durch festverzinsliche Wertpapiere kapitalgedeckt sind. Das Eigenheim und die Praxis-Immobilie sind 900.000 Euro wert. Das Aktiendepot der Standesbank enthält 45 Titel mit einem Kurswert von 1.350.000 Euro."

Der arme Schlucker kommt also nur auf 3 Millionen Euro, weshalb er sich fragt, ob er sich einen Vorruhestand mit 60 Jahren finanziell überhaupt leisten kann. Für LOOMAN ist der Vorruhestand jedoch eher eine Sinnfrage. Bekanntlich droht gemäß FAS/FAZ dann der frühe Ruhestandstod! So weit geht LOOMAN natürlich nicht... 

SOMMERFELDT, Nando & Holger ZSCHÄPITZ (2016): 71 lautet die Lösung.
Eine Analyse offenbart: Das Rentensystem kann nur funktionieren, wenn die Deutschen deutlich später in den Ruhestand gehen,
in: Welt
v. 29.11.

SOMMERFELDT & ZSCHÄPITZ hofieren heute den neoliberalen Ökonom Lars FELD mit einer Analyse, der Entstehungsdatum verschwiegen wird. Die geschieht meist dann, wenn die Daten hoffnungslos überaltert sind. Denn sonst gäbe es ja keinen Grund das zu verschweigen, oder? Zudem werden Grafiken präsentiert, die nicht Lars FELD als Quelle angeben, sondern Martin WERDING. Will man also mit Prominenz punkten?

"In Felds Schockprognose werden die Deutschen im Jahr 2080 erst mit 71 Jahren abschlagfrei in Rente gehen können."

Schock? Wo leben die Autoren denn? Schon seit Jahrzehnten werden uns Schockprognose um Schockprognose präsentiert. Unser Rentensystem hätte längst untergegangen sein müssen, hätten wir jeden Blödsinn geglaubt, den uns Ökonomen prophezeit haben. Die Bundesbank hat uns erst im August erklärt, dass wir 2064 erst mit 69 Jahren in Rente gehen dürfen. Und kurz vor Ende des Artikels wird aus der angeblichen Schockprognose sogar eine gemäßigte Prognose:

"Dabei ist die Vorstellung der Rente mit 71 sogar noch eine gemäßigte Prognose. So empfahl etwa das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) im Mai dieses Jahres ein Renteneintrittsalter von 73. Nur so könne das Rentensystem der demografischen Krise finanziell trotzen."

Dass diese "Schockprognose" Ende Mai auch von SOMMERFELDT & ZSCHÄPITZ verbreitet wurde, verschweigen sie uns lieber. Die Autorin dieser angeblichen Schockprognose unter der Fragestellung Wie lange arbeiten für ein stabiles Rentenniveau?, Susanne KOCHSKÄMPER, hat auf nur 3 Seiten ihre "Berechnungen" hingerotzt, die auf der Annahme beruhen, dass eine Stabilisierung des Rentenniveaus auf dem heutigen Stand, ein Renteneintrittsalter ab 2041 von 73 Jahren voraussetze. Berechnungen hat KOCHSKÄMPER aber gar nicht angestellt, sondern es handelt sich lediglich um ein "Gedankenexperiment", das zur "Kurzstudie" aufgeblasen wurde. Je mehr Schock, desto mehr Medien stürzen sich auf solche scheinwissenschaftlichen Texte. Dann spielt offenbar keine Rolle mehr, wie realistisch das ist.     

Auffällig ist nur eines: Solche Schockprognosen werden uns immer nur dann präsentiert, wenn es um die Stabilisierung des Rentenniveaus geht. Das ist auch hier der Fall:

"Feld hat in seiner Studie auch durchgerechnet, welche fiskalischen Folgen es hätte, sollte sich Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles mit ihrer Idee durchsetzen, das Rentenniveau bei 46 Prozent stabil zu halten. In diesem Fall würde der Beitragssatz auf weit über 25 Prozent steigen. Der Bundeszuschuss, der heute noch bei rund drei Prozent der Wirtschaftsleistung liegt, würde dann gen fünf Prozent streben",

zitieren die Autoren. Was aber heißt "weit über 25 Prozent" - offenbar nicht weit genug, denn sonst hätten sie uns ja die Prozentzahl bestimmt genannt, oder? Das käme dann NAHLES' Gesamtkonzept wohl sehr nahe. Wo also ist das Problem?

Wie FAZ-Liebling Axel BÖRSCH-SUPAN plädiert Lars FELD natürlich auch für eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung:

"Der Zugewinn an Lebenszeit könnte im Verhältnis von 3:2 auf die Erwerbsarbeit und Rentenzeit aufgeteilt werden. Steigt die Lebenszeit um drei Monate, würde sich der Renteneintritt automatisch um zwei Monate nach hinten verschieben."

Aus Sicht der Arbeitnehmer würde man das weniger schönfärberisch formulieren: 2:1. Für einen Monat Rente muss ich zwei Monate länger arbeiten. Oder wie es im Original von BÖRSCH-SUPAN u.a. heißt, von dem das Konzept ursprünglich stammt:

"Konkret bedeutet dies, dass zwei Drittel der zusätzlichen Lebensjahre in Arbeit verbracht werden sollen, während ein Drittel einer längeren Rentenbezugszeit zugute kommt." (2016, S.34)

Dieser Automatismus müsste als postdemokratisch bezeichnet werden, denn er hat nur einen Zweck: Die Rentendebatte demokratischen Prozessen der politischen Debatte zu entziehen.

Offenbar hat die Kritik an den Printmedien in Zeiten der Glaubwürdigkeitskrise geholfen, denn der Lobbyist von der DIA wird uns nun folgendermaßen vorgestellt:

"Sein Institut, das von privaten Finanzdienstleistern wie der Deutschen Bank, Blackrock oder der Allianz unterstützt wird".

Da weiß man nun wenigstens wer da welche Interessen vertritt. Das wäre vor 10 Jahren als es nötig gewesen wäre, so nicht kommuniziert worden.  

ÖCHSNER, Thomas (2016): Zehn Wahrheiten über die Rente.
Wie lange müssen die Deutschen künftig arbeiten? Reicht die Alterssicherung? Ist alles gar nicht so dramatisch, sagen die einen. Die Rente wird ein großes Problem, sagen die anderen. Die wichtigsten Fakten und Folgen,
in: Süddeutsche Zeitung
v. 03.12.

BUTTERWEGGE, Christoph (2016): Verelendung per Gesetz.
Die Teilprivatisierung der Rente unter SPD und Grünen hat das Problem der Altersarmut noch verschärft. Eine Lösung boten auch die jüngsten Beratungen der Bundesregierung nicht. Dabei gibt es eine Alternative: eine solidarische Bürgerversicherung für alle,
in:
junge Welt v. 05.12.

Christoph BUTTERWEGGE wendet sich nicht nur - wie bereits in der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik - gegen das Betriebsrentenstärkungsgesetz, sondern auch gegen die Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung:

"Ulrich Grillo, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), hatte bereits im Oktober 2015 verkündet, dass ein Renteneintrittsalter von 85 Jahren angemessen sei, wenn die Menschen eines Tages durchschnittlich 100 Jahre alt würden. – Nur Arbeiten bis zum Tod käme die Rentenkasse noch billiger. Abgesehen davon, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer und der Angehörigen bestimmter Berufsgruppen – man denke nur an Dachdecker, Altenpflegerinnen und Straßenarbeiter – deutlich nach unten abweicht, was unberücksichtigt bliebe, wird schon jetzt mit der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre eine genau 100 Jahre alte Errungenschaft aufgegeben, was ein sozialer und kultureller Rückschritt sondergleichen ist: 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde das unter Bismarck geltende Renteneintrittsalter von 70 Jahren nämlich auf 65 Jahre herabgesetzt. Und die um ein Vielfaches reichere Gesellschaft der Bundesrepublik soll es sich nicht leisten können, ihre Bürgerinnen und Bürger im selben Lebensalter wie das kriegführende Kaiserreich aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand zu entlassen? Natürlich werden die Rentnerinnen und Rentner heute in der Regel älter und beziehen daher auch über einen längeren Zeitraum eine Altersversorgung. Entscheidend für die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft ist jedoch die gegenwärtig und zukünftig erheblich höhere Arbeitsproduktivität und nicht der Rentenbezugszeitraum."

BUTTERWEGGE plädiert für eine weitgehende Rückgängigmachung der rot-grünen bzw. rot-schwarzen Reformen:

"Gegenstrategien müssen vor allem an den beiden Kardinalfehlern (Destabilisierung der Rentenversicherung und Deregulierung des Arbeitsmarktes) ansetzen. Die in Zukunft eher wachsende Altersarmut muss mit einer Rückbesinnung auf das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes beantwortet werden. Dazu gehören die Durchsetzung des früheren bestehenden sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisses (nicht nur für Männer) sowie eine Rückabwicklung der mit den Namen von Walter Riester (SPD) und Bert Rürup verbundenen Rentenreformen. Zu rehabilitieren ist die Lohnersatzfunktion der gesetzlichen Rente, also das Lebensstandardsicherungsprinzip. Außerdem muss das gesetzliche Renteneintrittsalter bei 65 Jahren bleiben und die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet werden, für Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher wieder (ausreichend hohe) Beiträge in die Rentenkasse einzuzahlen."

DAS PARLAMENT-Themenausgabe: Rentenpolitik im Visier.
Streit um Niveau der Altersversorgung

WAIS, Rudi (2016): Einzige Stellschraube.
Gastkommentare: Das Renteneintrittsalter anheben? Pro,
in:
Das Parlament Nr.49-50 v. 05.12.

"Aus der Rente mit 67 (...) wird spätestens im übernächsten Jahrzehnt die Rente mit 69 oder 70 werden müssen",

predigt uns Raudi WAIS von der Augsburger Allgemeinen Zeitung.

THELEN, Peter (2016): Seelenlose Rechnerei.
Gastkommentare: Das Renteneintrittsalter anheben? Contra,
in:
Das Parlament Nr.49-50 v. 05.12.

Peter THELEN weist auf die soziale Ungleichheit bei der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich hin, wendet sich jedoch nicht explizit gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters, sondern nur gegen hohe Abschläge bei einem früheren Renteneintritt:

"Es wäre zynisch diese Menschen auch noch mit höheren Rentenabschlägen dafür zu bestrafen, dass sie mit ihrer kürzeren Lebenszeit die Rentenkasse weniger belasten als langlebige Gutverdiener."  

ZSCHÄPITZ, Holger (2016): Armut kostet Lebenszeit.
Egal ob wir künftig mit 71 oder 73 in Rente gehen: Viele Menschen mit niedrigem Einkommen werden den Ruhestand nicht erleben,
in:
Welt v. 05.12.

"Die Daten des Versicherers dürften die aktuelle Diskussion um die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters (...) anheizen (...)(:) Denn die Studie der Zurich birgt sozialen Sprengstoff. Sie ruft in Erinnerung, dass arme Leute so kurz leben, dass eine pauschale Ausweitung des Renteneintrittsalters kaum möglich ist. Armutsgefährdete Männer in Deutschland haben eine Lebenserwartung von gerade mal 70,1 Jahren. Bei Frauen liegt diese bei knapp 77 Jahren. Dagegen können reiche Männer auf 81 Jahre Lebenszeit hoffen, Frauen auf 85. Als armutsgefährdet gelten hierzulande Bürger, die weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung haben. Reich ist laut Statistik derjenige, der über mehr als 150 Prozent des durchschnittlichen Einkommens gebietet.",

berichtet Holger ZSCHÄPITZ über die nicht öffentlich verfügbare Studie Ist Langlebigkeit in Deutschland ein versicherbares Risiko? der Zurich Lebensversicherung. Die Studie bezieht sich auf Berechnungen des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2014. Die Konsequenzen für die Armen beschreibt ZSCHÄPITZ folgendermaßen:

"Bei einer Ausweitung des Renteneintrittsalters auf 71 oder gar 73 Jahre hätten ärmere Bundesbürger keine Zeit mehr, den Ruhestand in Würde zu verbringen. Reichere Deutsche könnten hingegen zehn oder mehr Jahre ihre Rente verprassen. Damit würde die Rentenbezugsdauer ärmerer Menschen auf den niedrigsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik fallen. Sogar in den 60er-Jahren, als der Sozialstaat längst noch nicht so weit ausgebaut war, erhielten Männer im Schnitt 9,9 Jahre staatliche Altersbezüge und Frauen immerhin fast elf Jahre. Aktuell liegt der Wert für Männer im Durchschnitt bei 19,3 Jahren, für Frauen bei 21,4 Jahren."

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Wirtschaftsthema: Später in den Ruhestand.
Die bisherige Formel geht nicht mehr auf, denn die Lebenserwartung wird immer höher

ÖCHSNER, Thomas (2016): Aufhören - aber wann?
Männer und Frauen leben länger - und beziehen länger als früher Altersgeld. Müssen sie deshalb auch länger arbeiten? Das Für und Wider einer Rente mit 69, 71 oder gar 73,
in: Süddeutsche Zeitung
v. 06.12.

Nachdem uns Thomas ÖCHSNER bereits am 17.11. die Neudefinition der Standardrente präsentiert hat, kommt nun die Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung als Lieblingsprojekt unserer postdemokratischen Neoliberalen an die Reihe. Mit Verweisen auf Wolfgang SCHÄUBLE, Bundesbank, Wirtschaftsweise, den wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und den Beitrag von Franz RULAND ("Vorsicht bei Wahlgeschenken", SZ 25.10.2016) nennt uns ÖCHSNER die Befürworter im Schlepptau von Axel BÖRSCH-SUPAN. Selbst Horst SEEHOFER zählt ÖCHSNER nun zu den Freunden dieser neoliberalen Lösung:

"Politiker in der CDU und CSU-Chef Horst Seehofer können sich mit so einem Modell offenbar zunehmend anfreunden".

Damit ginge es nur noch darum die SPD auf diese Seite zu ziehen. Um dies durchzusetzen, präsentiert uns ÖCHSNER deshalb  die Vorstellungen von Johannes GEYER & Peter HAAN, die diese bereits in der SZ v. 14.11. darstellen durften. Die DIW-Forscher wollen die unpopuläre Lösung durch eine "sozialverträgliche Gestaltung" popularisieren.

Eine neue Studie eines Lebensversicherers zeigt nun erneut auf, dass solche Lösungen zu Lasten der Armen gehen, die vielfach nicht einmal den Ruhestand erreichen - und wenn, dann sind sie bereits ernsthaft krank. Während uns ÖCHSNER mit der durchschnittlichen Lebenserwartung und Rentenbezugszeit abspeist, zeigt sich, dass die Kluft zwischen Arm und Reich im Alter - aufgrund der neoliberalen Politik - weiter drastisch steigen wird. Es wird Zeit dieser Politik für die Reichen endlich Grenzen zu setzen.

Fazit: Die Kopplung des Renteneintrittsalters an die durchschnittliche Lebenserwartung lässt die krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich im Alter außer Acht. Sozialverträgliche Lösungen wollen dieses Problem lediglich verharmlosen.

LAMBECK, Fabian (2016): Arme haben kaum was von der Rente.
Studie eines Versicherungskonzerns belegt die gewaltigen Unterschiede bei der Lebenserwartung in Deutschland,
in: Neues Deutschland
v. 07.12.

Fabian LAMBECK berichtet über den Welt-Artikel von Holger ZSCHÄPITZ, in dem dieser eine unveröffentlichte Studie eines Versicherungsunternehmen zur differentiellen Lebenserwartung in Abhängigkeit vom Einkommen vorstellte. LAMBECK weist darauf hin, dass dies bereits seit längerem bekannt sei, weil das Robert-Koch-Institut dazu regelmäßig berichtet:

"Tatsächlich veröffentlicht das Institut entsprechende Zahlen schon seit Jahren, nur stören diese in der neoliberal geprägten Debatte um das Renteneintrittsalter."

LAMBECK weist darauf hin, dass Rolf ROSENBROCK vom Paritätischen Wohlfahrtsverband bereits im Frühjahr auf Unterschiede bei der gesunden Lebenserwartung hingewiesen haben:

"Menschen aus dem unteren Fünftel seien »im Durchschnitt 3,5 Jahre früher im Leben von chronisch degenerativen Erkrankungen betroffen«. Somit betrage der Unterschied in der gesunden Lebenserwartung, also die Anzahl der Jahre, die man ohne Krankheit verbringe, »über 14 Jahre«".

LAMBECK präsentiert uns dann noch verschiedene Stellungnahme zum Renteneintrittsalter, die von Finanzminister Wolfgang SCHÄUBLE über Wolfgang STEIGER ("CDU-Wirtschaftsrat") bis zu Annelie BUNTENBACH (DGB) reichen. 

WINKLER, Peter (2016): Sinkende Lebenserwartung in den USA.
Mehr Amerikaner sterben an einer Überdosis als bei Verkehrsunfällen,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 12.12.

DROST, Frank M. (2016): Bafin greift nicht bei Fondsgebühren ein.
Vermögensverwaltung: Die Anbieter von Publikumsfonds müssen keine Regulierung ihrer Preisstruktur fürchten. Doch die Finanzaufsicht verpflichtet die Branche zu mehr Transparenz,
in:
Handelsblatt v. 22.12.

Die Lobbyisten des Fondsverbands BVI haben wieder einmal ihre Interessen gegen diejenigen der Kunden durchgesetzt. Mit der verordneten Transparenz ist es auch nicht weit her. Erst ab Mitte 2017 werden Publikumsfonds mit einem Aktienanteil von mindestens 51 Prozent (wieviel Marktanteil diese Fonds haben, wird uns nicht mitgeteilt. Aktienfonds soll es lediglich 600 geben) überhaupt Transparenzvorschriften unterworfen. Diese sind dann so gestaltet, dass die Fondsgesellschaften kaum befürchten müssen, dass Anleger mit den vorgeschriebenen Informationen (Vergleichsindex und Entwicklung in der Vergangenheit) viel anfangen können, um zukünftige Entwicklungen abschätzen zu können. Die Kriterien, die einen Indexfonds (passiv gemanagt) von einem aktiv gemanagten Fonds unterscheiden können, sind nicht genau vorgegeben sondern Ermessenssache. Was eine gerechtfertigte Preisstruktur ist, dürfte je nach Interessenlage durchaus differieren.

Die Bafin hat zudem nicht selber die Initiative ergriffen, sondern sich nur aufgrund der bereits bestehenden Verunsicherungen durch "Auffälligkeiten" in Skandinavien genötigt gesehen, dieser möglichen Verunsicherung der Kunden im Interesse der Finanzmarktakteure entgegenzutreten. Die Bafin ist keine Verbraucherschutzorganisation, sondern sie soll die Finanzmarktakteure schützen.   

ZURICH (2016): Ist Langlebigkeit (in Deutschland) ein versicherbares Risiko? v. 14.12.

SAUER, Stefan (2016): Unerreichbarer Ruhestand.
Fast die Hälfte der Erwerbstätigen geht nicht davon aus, bis 67 arbeiten zu können,
in: Frankfurter Rundschau
v. 23.12.

Stefan SAUER berichtet über das 4-seitige Papier der Befragung Arbeitsfähig bis zur Rente? des DGB, das als "Untersuchung" tituliert wird, obwohl lediglich die Frage Meinen Sie, dass Sie unter den derzeitigen Anforderungen Ihre jetzige Tätigkeit bis zum gesetzlichen Rentenalter ohne Einschränkung ausüben könnten? ausgewertet wurde, bei der es nur 3 Antwortmöglichkeiten gab.

Weil die Stichprobe von nur einer Befragung für differenziertere Auswertungen zu klein gewesen wäre, wurden die Antworten aus den jährlichen Befragungen aus den Jahren 2012 - 2016 zu einer Stichprobe zusammengefasst. Wie das geschehen ist, das wird uns verschwiegen. Besonders problematisch ist, dass hierbei Beschäftigte mit nur 10 Wochenstunden mit Vollzeitbeschäftigten zusammengefasst wurden, als ob dies keinen Einfluss auf die Antwort hätte.

SAUER gibt lediglich die Ergebnisse wieder, ohne die Auswertung zu hinterfragen. Aufklärung sieht anders aus! 

ESSLINGER, Detlef (2016): "Das moralische Bauchgefühl".
Die Linguistin Elisabeth Wehling aus Berkeley über die Macht des Unbewussten und Wörter, die in den USA und in Deutschland Politik und Wahlen prägen,
in: Süddeutsche Zeitung
v. 31.12.

Der Begriff "abschlagfreie Rente mit 63" wird von Elisabeth WEHLING als Beispiel dafür verwendet, warum die SPD von ihren Erfolgen nicht profitiert. Angeblich sei der Begriff zu kompliziert als, dass man ihn erfolgreich kommunizieren könnte.

Vielleicht liegt es jedoch nicht am Framing bzw. am falschen Begriff, sondern an der Tatsache, dass von der Rente ab 63 nur wenige profitieren, während die Mehrzahl neidisch ist, weil sie nicht in den Genuss dieser Vergünstigung kommt. Dies zumindest war der Tenor der neoliberalen Propaganda in den Medien.

"Nach der Einführung der Rente mit 63 belief sich die Zahl der Zugänge im zweiten Halbjahr 2014 auf 136.000. Im Jahr 2015 gab es insgesamt 274.000 Zugänge in diese Rente für besonders langjährige Versicherte" (2016, S.7),

heißt es in der Broschüre Blickpunkt Arbeitsmarkt: Situation von Älteren der Bundesagentur für Arbeit. Insgesamt gab es 2015 rund 942.000 Rentnerzugänge. Lediglich 29,1 % der Neurentner konnten also 2015 von der abschlagfreien Rente profitieren.

 
     
 
       
     
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 04. Juni 2017
Update: 13. Februar 2019