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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Die Entwicklung der Geburtenzahlen in Deutschland

 
       
   

Eine Bibliografie der Debatte um die Geburtenentwicklung (Teil 9)

 
       
     
       
   
     
 

Vorbemerkung

Die mediale Berichterstattung zur Geburtenentwicklung richtet sich nicht nach der Faktenlage, sondern nach politischen Interessen. Um diese deutlich zu machen werden in dieser Bibliografie ab heute (02.07.2012) nach und nach ausgewählte Medienberichte und Literatur zum Thema chronologisch dokumentiert. Die Kommentare entsprechen jeweils dem Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, falls nichts anderes vermerkt ist.

Kommentierte Bibliografie (Teil 9: 2012)

2012

STORZ, Franziska (2012): "Was heißt schon früher?"
Michaela Kreyenfeld, Juniorprofessorin für Demografie an der Universität Rostock, kennt gute Gründe für stetig sinkende Geburtenraten,
in: Neon,
Januar

Michaela KREYENFELD betrachtet das Kinderkriegen aus der Perspektive der Karrieremutter, der es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht. Die Kinderlosigkeit in Deutschland ist dann vor allem durch neue Kitas und flexiblere Arbeitszeiten zu verringern. Die Grenzen einer solchen Bevölkerungspolitik, die das Phänomen Kinderlosigkeit auf die Vereinbarkeitsfrage reduziert, zeigt dagegen Diana AUTH auf.

DESTATIS (2012): Vier bis fünf Jahre beträgt aktuell der Abstand zwischen Geschwistern,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden v. 06.01.

"307.000 der insgesamt 680.000 Neugeborenen waren im Jahr 2010 bereits das zweite oder dritte Kind ihrer Mutter. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, betrug ihr Anteil an allen 2010 geborenen Kindern 45 %. Nur 5 % waren das vierte oder weitere Kind. Gegenüber 2009 stieg die Zahl zweiter und dritter Geburten um 8.000. Die 2010 geborenen zweiten Kinder waren im Durchschnitt vier Jahre jünger als ihre erstgeborenen Geschwister. Die dritten Kinder kamen durchschnittlich fünf Jahre nach dem Geburtstag des zweiten Kindes zur Welt.

Bei 45 % der zweiten Geburten (98.000) und 36 % der dritten Geburten (26.000) betrug der Abstand zum vorangegangenen Kind weniger als drei Jahre. Im früheren Bundesgebiet entscheiden sich die Eltern im Durchschnitt schneller für ein weiteres Kind als in den neuen Ländern: 48 % der zweiten und 37 % der dritten westdeutschen Kinder folgten im Jahr 2010 bereits nach weniger als drei Jahren ihrem älteren Geschwisterkind. In den neuen Ländern wurden dagegen lediglich 29 % der zweiten und 31 % der dritten Kinder mit diesem Abstand geboren.

Diese Angaben, die sich unabhängig vom Familienstand auf alle von einer Frau geborenen Kinder beziehen, liegen seit 2009 vor", heißt es in der Pressemitteilung.

DESTATIS (2012): Für 2011 wird mit einer leichten Bevölkerungszunahme gerechnet,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden v. 13.01.

"Für das Jahr 2011 wird mit 660.000 bis 680.000 lebend geborenen Kindern und mit 835.000 bis 850.000 Sterbefällen gerechnet. Daraus wird sich voraussichtlich ein Geburtendefizit von etwa 170.000 bis 185.000 ergeben. 2010 betrug es 181.000; den 859.000 Sterbefällen standen 678.000 Geburten gegenüber", meldet das Statistische Bundesamt.

SMB/UC (2012): Putzfrauen haben in Deutschland die meisten Kinder.
Die Schere geht weiter auf: Je weniger qualifiziert Frauen sind, desto eher und häufiger bekommen sie Kinder. Am Ende der Gebärenden-Statistik stehen Künstlerinnen,
in:
Welt Online v. 01.03.

"Die Debatte um die in Deutschland nach Einkommensklassen und sozialer Schicht höchst unterschiedliche Geburtenhäufigkeit bekommt neue Nahrung durch Zahlen des statistischen Bundesamtes. Demnach bekommen hierzulande von allen Berufsgruppen die Putzfrauen am häufigsten Kinder. Umgekehrt ist der Anteil kinderloser Frauen unter Reinigungs- und Entsorgungskräften mit nur sieben Prozent der Niedrigste von allen. Das geht aus einer neuen Erhebung des Statistischen Bundesamtes hervor, aus der die "Bild"-Zeitung zitiert. Im Mittelfeld der Statistik liegen Frauen in Büroberufen (kaufm. Angestellte 27 Prozent) und Ärztinnen sowie Apothekerinnen (33 Prozent)",

behauptet Welt Online. Dabei wird nicht einmal korrekt auf die Broschüre Geburten in Deutschland, Ausgabe 2012 verlinkt, aus denen die Daten zitiert werden. Es handelt sich auch nicht um eine neue Erhebung des Statistischen Bundesamtes, sondern um eine alte Erhebung des Jahres 2008, für die nun neue Auswertungen veröffentlicht wurden:

"Die hier dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf die Altersgruppe der 35- bis 49-jährigen Frauen (im diesem Alter waren im Jahr 2008 die Jahrgänge 1959 bis 1973). Theoretisch können diese Frauen zwar ihr erstes Kind noch bekommen, die meisten von ihnen haben sich jedoch bereits für oder gegen eine Familie mit Kind entschieden. 77 % der 35- bis 49-jährigen Frauen waren 2008 erwerbstätig." (2012, S.36)

Die Daten sind bereits dadurch verfälscht, dass hochgebildete Frauen meistens Spätgebärende sind, während gering gebildete Frauen ihre Kinder frühzeitig bekommen. Was es heißt, die Kinder zu unterschlagen, die nach dem 35. Lebensjahr geboren werden, kann man aus der Geburtenstatistik erfahren. Im Jahr 2008 wurden immerhin 24 % der Kinder in Deutschland von Frauen geboren, die 35 Jahre und älter waren. Aus der folgenden Tabelle sind die Anteile der Spätgebärenden zu ersehen.

Tabelle: Anteil der Geburten von Spätgebärenden in Deutschland im Jahr 2008
Altersgruppe

Geburten

35 - 39 Jahre 129.980
40 - 44 Jahre 32.892
45 Jahre und älter 1.541
Spätgebärende insgesamt 164.413
Insgesamt 682.514
Quelle: Statistisches Jahrbuch 2010, S.56 und eigene Berechnungen

Wenn man dann noch davon ausgeht, dass dies überproportional Kinder von Akademikerinnen sind, dann zeigt sich wie wenig aussagekräftig die Daten sind. Hätte man nur die Kinderlosen der 40-44jährigen Frauen genommen, dann wäre das Ergebnis kaum verfälscht.

Das Statistische Bundesamt behauptet weiterhin, dass die Geburt 1. Kinder bei Spätgebärenden nicht ins Gewicht fällt. Betrachtet man das Jahr 2010 für das Zahlen vorliegen, dann ergibt sich, dass der Frauenjahrgang 1973 in diesem Jahr 24.677 Kinder zur Welt brachte. Davon waren immerhin 7.865 erste Kinder, also fast 32 %. Der Anteil der ersten Kinder lag 2010 bei den Spätgebärenden in allen Frauenjahrgängen über 25 % teilweise sogar über 30 %.

Dieses Jahr steht eine neue Erhebung an. Müssen wir dann auch wieder 5 Jahre warten, bis diese Daten zur Verfügung stehen?

PÖTZSCH, Olga (2012): Geburtenfolge und Geburtenabstand - neue Daten und Befunde,
in:
Wirtschaft und Statistik, Heft 2

Veröffentlichungen zur Geburtenentwicklung sind in Deutschland in der Regel so angelegt, dass die wichtigen Ergebnisse NICHT für jedermann deutlich werden, sondern aus dem Subtext herausgelesen werden müssen:

"Immer mehr Frauen bekommen ihr erstes Kind erst nach ihrem 30. Geburtstag. Allein in den letzten 20 Jahren stieg in Deutschland das durchschnittliche Gebäralter beim ersten Kind um mindestens drei Jahre an, von etwa 26 Jahren im Jahr 19895 auf 29 Jahre im Jahr 2010. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung mit einem entsprechenden Aufschub der zweiten und weiteren Geburten auf ein immer höheres Alter einhergeht. In diesem Fall könnte künftig der bisher relativ konstante Anteil der Mütter mit drei oder mehr Kindern sinken",
(Wirtschaft und Statistik, Heft 2, 2012)

schreibt PÖTZSCH. Hier geht es also darum, ob der Aufschub von Geburten in ein höheres Alter zu einem Rückgang kinderreicher Familien beiträgt. In Deutschland geht es jedoch in erster Linie um den Umfang der endgültigen Kinderlosigkeit der westdeutschen Akademikerinnen, der bis vor kurzem noch auf über 40 % geschätzt wurde, aber tatsächlich je nachdem welche Abschlüsse dazugezählt werden, zwischen 25 und 31 % liegt. Dies auch wiederum nur, wenn man nicht berücksichtigt, dass hoch qualifizierte oftmals noch mit über 40 Jahren Kinder bekommen. Unter diesem Aspekt ist die folgende Textpassage zu betrachten:

"Im früheren Bundesgebiet blieben die Intervalle bis zur zweiten und dritten Geburt bei den unter 40-jährigen Müttern praktisch konstant. Bei den 40- bis 44-jährigen Müttern verkürzten sie sich um sechs Monate bei der zweiten Geburt und um zwölf Monate bei der dritten Geburt. Der Anteil der Mütter, die in diesem Alter Kinder bekommen, nimmt ständig zu und hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Trotzdem bilden sie nach wie vor eine kleine Gruppe von 5 % unter den Müttern der zweiten Kinder und von 9 % unter den Müttern der dritten Kinder (Angaben für 2010)."
(Wirtschaft und Statistik, Heft 2, 2012)

Diese Interpretation muss dahin gehend korrigiert werden, dass es sich bei diesem Geburten vor allem um Geburten von Akademikerinnen handelt. Wenn dieser Anteil als gering eingeschätzt wird, dann nur im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung, nicht jedoch im Hinblick auf die kleine Gruppe der Akademikerinnen.

"Die früher in empirischen Untersuchungen gängige Altersgrenze von 39 Jahren ist durch neuere Forschungsergebnisse kritisiert und erweitert worden, denn gerade bei hochqualifizierten Frauen setzen Familiengründungsprozesse später, zu großen Teilen auch nach dem Alter von 39 Jahren, ein."
(2012, S.29)

heißt es hierzu in dem kürzlich erschienen Buch Kinderlosigkeit in Deutschland von Rabea KRÄTSCHMER-HAHN. In dem Buch heißt es weiter:

"Die überdurchschnittlich hohe Kinderlosigkeit bei hoch qualifizierten Frauen ist (...) kein neuartiges Phänomen, sondern lässt sich auch schon in den 1970er Jahren beobachten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass damals nur 2 % der Frauen zwischen 35 und 39 Jahren einen Hochschulabschluss hatten (...), doch heute im Zuge der Bildungsexpansion etliche Frauen besser ausgebildet sind und die Anzahl der Akademikerinnen steigt. Dennoch stellen die Akademikerinnen auch im Jahr 2004 mit 10 % eine eher kleine Gruppe dar."
(2012, S.49)

Betrachtet man die Fakten, die PÖTZSCH zu den 40-44jährigen Müttern präsentiert, unter diesem Gesichtspunkt, dann könnte das darauf hindeuten, dass die Kinderzahl von Akademikerinnen nicht mehr so niedrig ist, wie das die bisherige Debatte vermuten ließ.

Man wird in Sachen Geburten von Akademikerinnen einfach nicht das Gefühl los, dass Fakten der Öffentlichkeit vorenthalten werden, bzw. ihre Lancierung politischen Erwägungen der Familienlobbyisten folgen. Darauf deutet z.B. eine Meldung auf Welt Online hin. Auch die Stoßrichtung des Szenarios von Uwe EBBINGHAUS 2030 - Odyssee in eine gealterte Gesellschaft lässt nichts Gutes erwarten:

"Wenige der naheliegenden Gegenmaßnahmen wie das erhöhte Renteneinstiegsalter wurden bisher politisch umgesetzt. Wie sehr Birgs nachvollziehbares Plädoyer, konsequent die Familien und damit den Nachwuchs zu fördern, verhallte, konnte man kürzlich wieder sehen, als Bundeskanzlerin Merkel Forderungen aus der eigenen Partei nach einer unglücklich formulierten Kinderlosen- oder Demographie-Abgabe als »nicht zielführend« bezeichnete. Dabei zahlen Kinderlose schon jetzt in der Pflegeversicherung einen höheren Beitrag als Eltern, ohne dass es bisher zur gesellschaftlichen Spaltung kam."
(FAZ 10.03.2012)

SCHMOLLACK, Simone (2012): Guten Tag, heute schon gefickt?
Haben die jungen Unionsfreunde Langeweile? Einige Hinterbänkler der CDU fordern eine Zwangsabgabe für Kinderlose über 25 Jahren. Kommt jetzt die Reproduktions-Stasi?,
in: TAZ Online v. 15.02.

Die Debatte um eine Abgabe von Kinderlosen kommt alle paar Jahre wieder auf die politische Agenda. Ob sie nun als Rente nach Kinderzahl (zur Ideologie mehr hier) oder Demographie-Rücklage vermarktet wird.

In der Pflegeversicherung zahlen Kinderlose bereits heute höhere Beiträge. Begründet wurde sie 2001 mit überhöhten Kinderlosenzahlen. Angeblich sollten ein Drittel der 1965 geborenen Frauen kinderlos bleiben. Seit 2008 ist es amtlich: Der Kinderlosenanteil liegt weit unter einem Drittel. Bis heute liegen jedoch keine wirklich aufschlussreichen wissenschaftlichen Analysen der Daten vor. Wer bleibt lebenslang kinderlos? Warum?

Die Broschüre Geburten in Deutschland des Statistischen Bundesamtes vom Januar 2012 kann man nur als Frechheit bezeichnen. Sie ist aber symptomatisch für die Datenaufbereitung zu Kinderlosen in Deutschland. Zur Kinderlosigkeit (Kapitel 2.3) bekommt man keinen Faktenüberblick in Tabellenform  geliefert, sondern lediglich Interpretationen der Kinderlosigkeit in vereinzelten Frauenjahrgängen. Hält man die Leser für dumm? Könnten die Leser zu anderen Schlüssen kommen als die Sachwalter? 

Gab es jemals eine Veröffentlichung über den Anteil der Kinderlosen in der Pflegeversicherung? Wer zahlt da überhaupt? Würden sich diese Zahlen für einen Familienwahlkampf eignen, sie wären längst auf dem Tisch. Es herrscht aber Stillschweigen!

Kinderlose haben keine Lobby. Die scheinbar allseitige mediale Empörung über die Debatte, die eine CDU/CSU-Bundestagsfraktionsgruppe angestoßen hat, täuscht darüber hinweg. Die Debatte wird lediglich als Anlass genommen, der eigenen bekannten familienpolitischen Position Aufmerksamkeit zu verschaffen. Um Kinderlose geht es dabei nicht.

Die so genannte junge Gruppe der Initiatoren der Debatte ist sogar zu feige ihre Vorstellungen zur geforderten Abgabe auf ihrer Webseite zu veröffentlichen. Dazu müssten Fakten offen gelegt werden, z. B. über die Einnahmenstruktur aus der Pflegeversicherung. Wer zahlt die höheren Beiträge? Wer sind diese Kinderlosen? Hier herrscht jedoch Stillschweigen. Die Fakten sind offenbar nicht kampagnenfähig. Kann man diese Debatte überhaupt ernst nehmen?

Die Beiträge zur Debatte um eine Sonderabgabe von Kinderlosen werden hier nicht dokumentiert, weil zu solchen Sonderabgaben bereits alles gesagt ist (hier, hier, hier und hier). Erst wenn belastbare Fakten zur Lage der Kinderlosen in Deutschland auf den Tisch kommen, könnte endlich eine Debatte beginnen, in der nicht lediglich Vorurteile und Ressentiments vorherrschen.

BMFSFJ (2012): Familienpolitik und Fertilität: demografische Entwicklungen und politische Gestaltungsmöglichkeiten.
Monitor Familienforschung, Ausgabe 27,
in:
bmfsfj.de, März

Die aktuelle familienpolitische Selbstdarstellung des Bundesfamilienministeriums (hier als PDF-Datei downloadbar) bezieht sich bei der Geburtenentwicklung in Deutschland nicht mehr auf die bislang dominierende nationalkonservative Position, sondern macht sich die fortschrittliche Position des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung zu eigen, die von einer höheren Geburtenrate in der jüngeren Generation ausgeht:

"Die Studien zeigen, dass die um den Tempo-Effekt korrigierte Geburtenrate bei etwa 1,6 Kindern pro Frau liegt (vgl. European Commission 2010: 32, Goldstein/Kreyenfeld 2011). Das bedeutet, dass Frauen in Deutschland aktuell im Durchschnitt etwa 1,6 Kinder bekommen (gleichermaßen in West- wie Ostdeutsch-land). Es gibt sogar erste Hinweise darauf, dass Frauen, die in den 1970er-Jahren geboren wurden, im Durchschnitt wieder mehr Kinder bekommen als die in den 1960er-Jahren geborenen Frauen."

EBBINGHAUS, Uwe (2012): 2030 - Odyssee in eine gealterte Gesellschaft.
Mit der Gestaltung von Europas Zukunft hat die Politik gerade alle Hände voll zu tun. Dabei vergisst sie die alternde Gesellschaft. Anhand seriöser Voraussagen wollen wir in einer erfundenen Familiengeschichte ein Demenz- und Gesellschaftsszenario für das Jahr 2030 entwerfen. Wie können wir altern?
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.03.

"An Voraussagen der pflegewirtschaftlichen Misere 2030 hat es nicht gemangelt. Im Jahr 2005 hatte Herwig Birg im Feuilleton dieser Zeitung in einem »Grundkurs Demographie« darauf hingewiesen, dass die absehbare Schrumpfung unserer Gesellschaft deren Volkswirtschaft und die durch Umlageverfahren finanzierten Sozialversicherungen vor kaum lösbaren Probleme stellen werde. Wenig musste er von seinen Voraussagen bis heute zurücknehmen",

behauptet EBBINGHAUS vage. Überprüfen wir doch einmal BIRGs Thesen zur Geburtenentwicklung in Deutschland aus dem Jahr 2005 an der Realität:

"Die Geburtenrate fiel in den neuen Ländern auf ein Minimum von 0,8 im Jahr 1994, seitdem nähert sie sich von unten dem Niveau im Westen."
(Herwig BIRG in der FAZ 26.02.2005)

"2008 stieg die zusammengefasste Geburtenziffer in den neuen Ländern erstmals seit der Deutschen Vereinigung auf ein höheres Niveau als in den alten Ländern. 2010 brachten die ostdeutschen Frauen mit 1,46 Kindern je Frau das dritte Mal in Folge durchschnittlich mehr Kinder zur Welt als die westdeutschen (1,39)."
(DESTATIS "Geburten in Deutschland", 2012, S.15)

Die These von der Angleichung der neuen an die alten Bundesländer, die Herwig BIRG vertreten hat, ist von der Wirklichkeit längst überholt.

"Und wir sind heute angekommen bei ungefähr 1,3 Kindern pro Frau und man kann nicht hoffen oder man sollte nicht hoffen, dass damit auch schon der Tiefpunkt erreicht ist. Denn (...) es ist eher damit zu rechnen, dass die Kinderzahlen noch weiter zurückgehen, als sie jetzt schon sind"
(Herwig BIRG im DeutschlandRadio 16.03.2005)

"Der Rückgang im früheren Bundesgebiet dauerte fast zwanzig Jahre und erreichte Mitte der 1980er Jahre ein vorläufiges Tief mit 1,28 Kindern je Frau. Danach schwankte die zusammengefasste Geburtenziffer geringfügig zwischen 1,35 und 1,45 Kinder je Frau und lag im Jahr 2010 bei 1,39."
(DESTATIS "Geburten in Deutschland", 2012, S.15)

Der Abwärtstrend der Geburtenrate unter 1,3 ist bislang ausgeblieben und es gibt relevante Stimmen, die von einem Anstieg der Geburtenrate in den jüngeren Frauenjahrgängen ausgehen.

"Die Geburtenrate beträgt bei der deutschen Bevölkerung zwar wie in Spanien und Italien etwa 1,2 Geburten pro Frau, bei der zugewanderten rund 1,9 und im Durchschnitt, ähnlich wie in anderen Ländern, 1,3 bis 1,4 Geburten, aber der Grund für das niedrige Niveau ist ein besonderer: Der weltweit einmalig hohe Anteil der Frauen und Männer an einem Jahrgang, die zeitlebens kinderlos bleiben, lieg hierzulande bei etwa einem Drittel."
(Herwig BIRG in der FAZ 22.02.2005)

"Die zusammengefasste Geburtenziffer der deutschen Frauen verharrt schon seit zwanzig Jahren auf dem niedrigen Niveau von 1,3 Kindern je Frau. Das Geburtenniveau der Ausländerinnen geht kontinuierlich zurück.
Anfang der 1990er Jahre lag die zusammengefasste Geburtenziffer ausländischer Frauen bei 2,0 Kinder je Frau. Bis 2010 sank sie auf ca. 1,6. Dadurch näherten sich die zusammengefassten Geburtenziffern deutscher und ausländischer Frauen an."
(DESTATIS "Geburten in Deutschland", 2012, S.22)

"Frauen der Jahrgänge 1939 bis 1963 vergrößerte sich dieser Abstand allmählich. In den alten Ländern nahm die endgültige Kinderlosigkeit von 12 % auf 19 % zu, während sie in den neuen Ländern zunächst auf dem sehr niedrigen Niveau von etwa 7 % verharrte
Bei den zwischen 1964 und 1968 geborenen Frauen nahm in den neuen Ländern der Anteil der Kinderlosen erstmals auf 11 % zu. Damit war er nur halb so hoch wie im früheren Bundesgebiet: Hier war jede fünfte Frau in dieser Jahrgangsgruppe (zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 40 und 44 Jahren) kinderlos (22 %)..

(DESTATIS "Geburten in Deutschland", 2012, S.28)

BIRG überschätzte zum einen das Geburtenniveau der Ausländerinnen und zum anderen den Anteil der Kinderlosen in den 1960er Jahren geborenen westdeutschen Frauenjahrgängen. Statt zu einem Drittel sind sie lediglich zu 22 % kinderlos geblieben. Damit liegt der Anteil der Kinderlosen in Westdeutschland um ein Drittel niedriger als von Herwig BIRG geschätzt. Nimmt man Ostdeutschland hinzu, dann liegt der Kinderlosenanteil sogar noch niedriger.

FAZIT: Herwig BIRG hat die Geburtenentwicklung in Deutschland gravierend falsch vorhergesagt. Das Bundesverfassungsgericht hat sein Pflege-Urteil 2001 aber aufgrund der überhöhten Kinderlosenzahlen von BIRG gefällt.

Wenn schon nach nur 7 Jahren die Geburtenentwicklung derart gravierend von der Vorhersage abweicht. Wie sieht es dann erst im Jahr 2030 aus, wenn BIRGs folgende These endlich einmal zutreffend wäre?

"Die Änderung der Geburtenrate um einen bestimmten Prozentsatz wirkt sich um ein vielfaches stärker auf das Bevölkerungswachstum aus als eine gleich große Änderung der Lebenserwartung."

Schickt den Demagogen BIRG also endlich aufs Altenteil und EBBINGHAUS sollte sich die aktuellen Daten zur Kinderlosigkeit in Deutschland anschauen, bevor er den Kinderlosenanteil "in Deutschland seit 1965" auf "dreißig Prozent eines Jahrgangs" beziffert. Nach der Erhebung von 2008 lag er bereits damals bei unter 20 % bei den 1964 -1968 Geborenen in Gesamtdeutschland und noch niedriger bei den 1959-1963 Geborenen.

BREUER, Ingeborg (2012): Vom Kinderwunsch zum Kind.
Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Demografie: Die Geburtenrate in Deutschland bleibt hinter dem Kinderwunsch insbesondere deutscher Frauen zurück. Doch je nach Berechnungsmethode der Geburtenrate ist nicht zwangsläufig ein demografisches Problem zu erwarten,
in:
DeutschlandRadio v. 22.03.

HIL (2012): Neugeborenen-Rate bei privat Versicherten steigt,
in: aerzteblatt.de
v. 26.04.

DESTATIS (2012): Mütter mit mehreren Kindern haben mit Familiengründung früher begonnen,
in:
Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden v. 24.05.

"Mütter, die mehr als zwei Kinder geboren haben, haben mit der Familiengründung früher begonnen: Sie waren nach Mitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) bei ihrer ersten Geburt durchschnittlich 26 Jahre alt und damit drei Jahre jünger als Mütter von Einzelkindern (29 Jahre). Dieser Befund bezieht sich auf Mütter der Jahrgänge 1959 bis 1968, die zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 40 und 49 Jahre alt waren. Die Zahl ihrer leiblichen Kinder kann als nahezu endgültig betrachtet werden", heißt es in der Pressemitteilung.

Es handelt sich dabei nicht um aktuelle Daten, sondern um Daten des Mikrozensus 2008. 

DESTATIS (2012): 2011 - Weniger Geburten, Sterbefälle und Eheschließungen,
in:
Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden v. 02.07.

Das Statistische Bundesamt meldet in einer sehr knappen Pressemitteilung die vorläufigen Geburtenzahlen für 2011. Demnach wurden ca. 663.000 Geburten gezählt (662.712 in der Tabelle der Geburtenzahlen 1950-2011).

Dies ist ein neuer Tiefststand in Deutschland, aber die Medienberichterstattung hält sich nicht an Fakten, sondern an politische Interessen, wie die Vergangenheit gezeigt hat. So gab es im März 2006 einen publizistischen Höhenpunkt in der Erregung über den Geburtenrückgang, nur um dem Buch Minimum von Frank SCHIRRMACHER Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die tatsächlichen Geburtenzahlen für das Jahr 2005 (685.795) lagen dann auch weit über den falschen Zahlen, die von der Springer-Presse lanciert wurden (676.000).

Der Tiefststand im Jahr 2006 (672.724) wurde dann aufgrund der Einführung des Elterngeldes in seiner Bedeutung heruntergespielt. Im Mai 2007 schrieb die Springer-Presse einen Babyboom herbei. Dem trat das Statistische Bundesamt dann durch eine frühzeitige Veröffentlichung der Geburtenzahlen des 1. Quartals 2007, also jenem Jahr mit einem Geburtenhoch (684.862) entgegen.

Seitdem werden Geburtenzahlen in erster Linie unter dem Gesichtspunkt von Erfolg und Misserfolg des Elterngeldes betrachtet. Den Tiefststand 2006 und das darauf folgende Geburtenhoch 2007 kann man unter diesem Gesichtspunkt als Mitnahmeeffekt durch den kurzzeitigen Aufschub von Geburten beschreiben.

Andererseits können die Schwankungen der Geburtenzahlen aber auch durch die Schwankungen in der Anzahl der potenziellen Mütter mitverursacht sein (Echoeffekt). Mittlerweile sind die geburtenschwachen 1980er Frauenjahrgänge (Geburtentiefststand 1984: 812.292) für einen Großteil des Geburtenaufkommens verantwortlich. Lediglich die letzten Akademikerinnen der Generation Golf (1965-1975 Geborene) bekommen noch ein paar wenige Kinder. Bereits die wesentlich geburtenschwächeren letzten Jahrgänge der 1970er Jahre (Generation Praktikum, Netzgeneration) leisten in den nächsten Jahren als Spätgebärende ihren Beitrag zum Geburtenaufkommen. Der Beitrag der Spätgebärenden hat sich zwar im letzten Jahrzehnt prozentual stark erhöht, aber im Gegensatz zu den geburtenstärkeren Frauenjahrgänge der 1960er Jahre fallen die Spätgebärenden der 1970er Jahre absolut gesehen nicht mehr so stark ins Gewicht.

Über die Bedeutung der jetzt veröffentlichten Geburtenzahlen gibt erst die Geburtenrate Auskunft. Ob sich hinter den Geburtenzahlen auch ein Rückgang der Geburtenrate verbirgt, das ist abhängig von der Entwicklung der potenziellen Mütter und von Tempoeffekten (geht des Alter der Mütter bei der ersten Geburt zurück oder ist es weiter gestiegen?).

Die Deutungskämpfe werden also weitergehen. Man darf gespannt sein, wie sich nun angesichts der neuen Zahlen die Gegner und Befürworter des Elterngeldes (der Kita, des Betreuungsgeldes usw.) aufstellen werden. Und wird die Suche nach Sündenböcken für die Entwicklung wieder bei den Kinderlosen enden? Oder werden endlich auch die strukturellen Gegebenheiten in den Blick kommen? Schließlich gibt es genügend Indizien, dass nicht erst die Vereinbarung von Beruf und Familie, sondern bereits die Vereinbarkeit von Beruf und (gleichberechtigter) Partnerschaft ein Problem ist. Ist es unter diesen Umständen wirklich sinnvoll "Singles" immer stärker zu diskriminieren?

Erst in den letzten Jahren kommt dem Thema Partnerlosigkeit, Partnerschaft und Kinderlosigkeit vermehrt Beachtung zuteil (mehr hier).

EHRENSTEIN, Claudia & Miriam HOLLSTEIN (2012): Müssen Frauen bald doppelt so viele Kinder bekommen?
Bevölkerungsrückgang: Schon seit 40 Jahren sterben in Deutschland mehr Menschen als geboren werden. Das neue Rekordtief bei den Geburtenzahlen erklären Statistiker mit "normalen Schwankungen",
in: Welt Online
v. 02.07.

"Es sind vor allem die Frauen im Alter von 26 bis 35 Jahren, die Kinder gebären. Doch diese Altergruppe ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich kleiner geworden, allein zwischen 1990 und 2010 um 1,5 Millionen Frauen. Der Anteil an der Gesamtbevölkerung sank von 33 auf 26 Prozent. Bevölkerungsexperten sagen voraus, dass die Zahl bis 2020 zunächst noch relativ stabil bleibt, dann aber weiter schrumpfen wird. Die Frauen müssten in Zukunft doppelt so viele Kinder wie heute bekommen, damit die Geburtenzahlen insgesamt stabil bleiben – was unwahrscheinlich ist"

berichten EHRENSTEIN & HOLLSTEIN zum Trend der zukünftigen Geburtenentwicklung.

Ganz so einfach stellt sich die Sachlage jedoch nicht dar. Veränderungen des Erstgeburtsalters und des Geburtenabstandes haben bei gleicher Anzahl von Geburten neben der Anzahl der potenziellen Mütter ebenfalls Auswirkungen auf die zukünftige Geburtenentwicklung. Der außergewöhnliche "Babyboom" der 1960er Jahre war z. B. nicht allein die Konsequenz vermehrter Geburten, sondern auch der Veränderungen im Timing der Geburten. Deshalb wird auch versucht den Trend zur späten Geburt zu stoppen.

THURNER-FROMM, Barbara (2012): Weniger Babys,
in: Stuttgarter Zeitung Online
v. 02.07.

QUADBECK, Eva (2012): Geburten trotz Zahlungen auf Tiefstand.
CDU-Abgeordneter stellt Elterngeld infrage,
in:
Rheinische Post v. 03.07.

DERNBACH, Andrea (2012): Freut Euch auf das Fremde.
Geburtenstatistik und Zuwanderung: So wenige Kinder wie nie zuvor wurden hierzulande 2011 geboren. Die Deutsch-Deutschen werden weniger, aber ihr Land leert sich nicht. Weniger Neugeborene heißt mehr Verantwortung – für den Nachwuchs von Einwanderern,
in: Tagesspiegel
v. 03.07.

SCHMITT, Peter-Philipp (2012): Ein Land stirbt aus.
Geburtenrückgang: Die Zahl der Geburten in Deutschland erreicht im Jahr 2011 einen neuen Tiefststand. Seit 1971 sterben jedes Jahr mehr Menschen als neue geboren werden,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 03.07.

BIGALKE, Silke (2012): Geburtentief trifft Zuwanderungshoch.
Bevölkerungsstatistik: Weniger Kinder als je zuvor sind im vergangenen Jahr in Deutschland geboren worden. Zwar ist nach Einschätzung von Statistikern der Rückgang langfristig nicht aufzuhalten. Doch erstmals seit zehn Jahren ist die Bevölkerung 2011 gewachsen, der Zuwanderung sei Dank,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 03.07.

SOBOTKA, Tomáš (2012): Kein Kindersegen für Europa.
Neue Berechnungsmethode zeigt, dass der jüngste Anstieg der Geburtenzahlen gar keiner war,
in:
Demografisches Forschung aus erster Hand, Ausgabe 2

BORCHARDT, Alexandra (2012): Kinder sind unbezahlbar.
Geburtenrate in Deutschland sinkt,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 04.07.

"In Deutschland ist die Geburtenrate niedriger als im Rest Europas, dabei werden nirgendwo sonst Familien so großzügig subventioniert. Am fehlenden Kinderwunsch liegt das oft nicht. Um Mut zu machen, diesen auch zu verwirklichen, muss sich vor allem die Arbeitswelt ändern"

meint Alexandra BORCHARDT, die die aktuelle Coverstory von Anne-Marie Slaughter im US-amerikanischen Magazin The Atlantic gelesen hat.

Wie wenig aussagekräftig die Geburtenraten in Europa bezüglich der tatsächlichen Geburtenverhältnisse in den einzelnen Ländern sind, das kann man bei Tomáš SOBOTKA nachlesen.

Tatsächlich ist es mit der internationalen Vergleichbarkeit der Geburtenentwicklung nicht weit her. Zu oft wird die Geburtenentwicklung auf Werte, Einstellungen oder Verhaltensänderungen zurückgeführt, wo lediglich Bevölkerungsaufbau und -zusammensetzung die Unterschiede verursachen.

Zu denken sollte auch geben, dass die Ursachen, die heute debattiert werden, bereits seit 100 Jahren diskutiert werden. Der immerwährende Untergang ist nämlich bereits so alt.

AMT FÜR STATISTIK BERLIN-BRANDENBURG (2012): Berliner Bevölkerungszahl über 3,5 Millionen-Marke,
in: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg v. 05.07.

"Zur positiven Bevölkerungsbilanz im Jahr 2011 hat auch ein Geburtenüberschuss von 1 700 Personen beigetragen (2010: 1 200 Personen). Im Verlauf des vergangenen Jahres kamen 33 100 Kinder lebend zur Welt, ca. 300 weniger als im Jahr zuvor. Indes sind im gleichen Zeitraum 31 400 Personen (2010: 32 200 Personen) verstorben", meldet das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg.

KAPERN, Peter (2012): Betreuungsgeld "ist rausgeschmissenes Geld".
Gespräch mit Irene Gerlach: Zusammenhang von familienpolitischen Leistungen und der Geburtenrate,
in:
DeutschlandRadio v. 05.07.

BÖS, Nadine (2012): "Die Geburtenzahl sagt nichts über den Erfolg des Elterngeldes".
In Deutschland kommen immer weniger Kinder zur Welt. Der CDU-Fraktionschef Volker Kauder hat es deshalb in Frage gestellt. Ist das Elterngeld wirklich wirkungslos? FAZ.NET hat mit dem Demographie-Spezialisten Axel Börsch-Supan darüber gesprochen,
in:
faz.net v. 09.07.

EUROSTAT (2012): EU28 Bevölkerung von 507,4 Millionen am 1. Januar 2014.
Erste Bevölkerungsschätzungen: Nahezu gleiche Anzahl von Geburten und Sterbefällen in der EU28 im Jahr 2013,
in: Pressemitteilung Europäisches Statistikamt v. 10.07.

TRIEBLER, Svenna (2012): Dann lieber aussterben.
Deutsche Politiker sorgen sich um die geringe Zahl der Geburten, aber nicht um die geringe Höhe der Löhne,
in:
Jungle World Nr.28 v. 12.07.

INHOFFEN, Lisa (2012): Nicht allein,
in:
Bonner General-Anzeiger v. 12.07.

Lisa INHOFFEN macht auf den wichtigen Tatbestand aufmerksam, dass Alleinlebender nicht gleich Alleinlebender ist und Städte sich auch hinsichtlich der Typen von Alleinlebenden durchaus unterscheiden können:

"Hinter den sogenannten Singles verbergen sich viele Menschen, die gar keine Singles im klassischen Sinne sind. Die einen Partner an der Seite und oftmals auch Kinder haben oder hatten. Die - wie es offensichtlich bei vielen Mitarbeitern der Großunternehmen Post und Telekom der Fall ist - aus beruflichen Gründen erst einmal allein nach Bonn gezogen sind und damit aus Sicht der Statistiker den Anteil der Single-Haushalte mit in die Höhe treiben. Oder die Witwen und Witwer, die sich bestimmt nicht als Single sehen, weil sie einst selbst lange in einem Familienhaushalt gelebt haben. Nicht zu vergessen, die Studenten, die in aller Regel ebenfalls noch keine eigene Familie haben. Auch deren Zahl wächst in der Bundesstadt. Wer in Bonn allein lebt, ist also noch lange nicht allein."

Für Städte-Rankings ergibt sich daraus der Schluss, dass Rankings, in denen lediglich der Anteil der Einpersonenhaushalte an der Gesamthaushaltzahl als Indikator benutzt wird, schlichtweg unseriös sind. 

RADA, Uwe (2012): Folgen eines rasanten Wachstums.
Wachstum: Die Bevölkerung in der Hauptstadt wächst schneller als prognostiziert. 2011 wurde nach Angaben des Amtes für Statistik die Marke von 3,5 Millionen Einwohnern gerissen - mit Auswirkungen auf zahlreiche Felder der Politik: vom Wohnen bis zum Busverkehr,
in:
TAZ Berlin v. 13.07.

"Bislang wurden die Wanderungsgewinne in Berlin allerdings durch eine negative "natürliche Bevölkerungsentwicklung" relativiert. 2011 aber gab es statt eines Sterbeüberschusses einen Geburtenüberschuss. 33.100 Babys wurden geboren, 31.400 Menschen starben. Dass Berlin nun entgegen allen Erwartungen die symbolische 3,5-Millionen-Marke erreicht hat, bedeutet nicht nur, dass noch nie so viele Menschen in der Stadt gelebt haben wie seit dem Ende des Krieges",

schreibt Uwe RADA anlässlich einer Pressemeldung des Amtes für Statistik Berlin Brandenburg vom 5. Juli 2012. Einen Geburtenüberschuss gab es in Berlin erstmals in den letzten Jahrzehnten im Jahr 2007:

"Eine kleine Sensation hat es aus Sicht der Bevölkerungsstatistiker des Amtes für Statistik im Jahr 2007 gegeben. Die Zahl der Geburten war mit 31 174 Kindern größer als die der Gestorbenen (30 980 Personen), der Überschuss an Geburten betrug somit 194 Personen. Einen Geburtenüberschuss hat es in den statistischen Aufzeichnungen nach dem Krieg nur Mitte der 60er und in den 80er Jahren im ehemaligen Ostteil der Stadt gegeben." (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Pressemitteilung vom 23.06.2008)

Auch im Jahr 2010 gab es einen Geburtenüberschuss von 1200 Personen. Großstädte zeichnen sich inzwischen im öfter durch zwei scheinbar widersprechende Trends aus: Zunahme der Geburten und Zunahme der Einpersonenhaushalte. Lediglich beim Bonner General-Anzeiger hat man sich darüber Gedanken gemacht.

DESTATIS (2012): Einwohnerzahl Deutschlands im Jahr 2011 erstmals seit 2002 wieder gestiegen,
in:
Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden v. 25.07.

SCHULZ, Stefan (2012): Deutschlands Bevölkerung wächst.
Immer mehr Zuwanderer bleiben: "Die Zahl der Geburten hat in Deutschland im Jahr 2011 einen Tiefststand erreicht. Trotzdem ist die Bevölkerung zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder gewachsen. Die Zuwanderung steigt - und auch das Bildungsniveau der Zuwanderer,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.07.

SEIBEL, Andrea (2012): Diese 0,1 Prozent!
in:
Welt v. 26.07.

VOIGT, Claudia (2012): Frauen können alles haben.
Sie sollten nur viel früher Kinder bekommen,
in: Spiegel Nr.34 v. 20.08.

Claudia VOIGT, Angehörige der Generation Golf/Ally, will die in den 1990er Jahren geborenen Frauen zum frühen Gebären während des Studiums überreden. Anlass bietet ihr u. a. ein Artikel von Anne Marie SLAUTHGER:

"Ihr Fazit: Frauen können nicht alles haben.
Doch ist Rückzug die Lösung? Im Fall von Anne-Marie Slaughter mag es eine richtige Entscheidung gewesen sein. Wie sie wie viele Frauen ihrer Generation früh in ihrem Leben eine falsche Entscheidung getroffen hat: Sie hat ihre Kinder zu spät bekommen."

Zum anderen werden die Ostfrauen als Vorbild präsentiert:

"Aber wie wäre es, nur mal angenommen, man würde seinen 40. Geburtstag feiern und die Kinder würden demnächst zu Hause ausziehen? Da wäre plötzlich eine Menge überschüssiger Kraft, und es blieben noch über zwanzige Jahre Berufstätigkeit um sie einzusetzen. Zeit, um Führungspositionen zu übernehmen (...). Viele Frauen, die in der DDR groß geworden sind, haben solche Biografien. Bei ihnen gibt es ein freundlich kaschiertes Unverständnis den ehemaligen West-Frauen gegenüber und ihren endlosen Diskussionen über Karriere und Kinder."

Und nicht zuletzt müssen die Frauen, die in den 1960er und 1970er Jahren geboren wurden, abgewertet werden:

"Heute sitzen manche dieser Frauen von Mitte vierzig auf Spielplätzen herum und gucken ihrem einzigen Sohn, ihrer einzigen Tochter beim Schaukeln zu. Für ein Geschwisterkind sind sie mittlerweile zu alt. Andere Frauen der Generation sind kinderlos geblieben, die Traurigkeit darüber gehört zu ihrem Leben."

Den Plot dazu lieferte der Ökonom Detlef GÜRTLER bereits im August 2003. Und wer sich gegen solche Zuschreibungen wehrt, wie z.B. Bettina WÜNDRICH ("Einsame Spitze"), dem kann  vorgehalten werden:

"Niemand, der heute vierzig, fünfzig ist, gibt gern zu, dass er sein Leben rückblickend besser anders gelebt hätte. Da ist es leichter allein den Umständen die Schuld zu geben".

Die Angriffe auf Spätgebärende werden weiter zunehmen, das ist angesichts der gegenwärtigen bevölkerungspolitischen Stossrichtung sicher.

STATISTISCHES LANDESAMT BADEN-WÜRTTEMBERG (2012): Geburtenrate in Baden-Württemberg stagniert auf niedrigem Niveau – Zahl der Neugeborenen sinkt auf Tiefststand.
Durchschnittliche Kinderzahl je Frau war 2011 in den Landkreisen Biberach und Rottweil am höchsten, im Stadtkreis Heidelberg am niedrigsten,
in: Pressemitteilung Statistisches Landesamt Baden-Württemberg v. 24.08.

HOLLSTEIN, Miriam (2012): Akademikerinnen bekommen mehr Kinder.
Geburten: Eine neue Studie gibt Entwarnung: Der Geburtenrückgang bei sehr gut ausgebildeten Frauen ist gestoppt. Allerdings kommt es auf den Beruf an, den die Frauen ausüben,
in: Welt Online v. 19.09.

"Es war eine alarmierende Nachricht, die vor drei Jahren durch die Republik ging: Deutschland stagniert nicht nur bei der Geburtenrate auf niedrigem Niveau. Vor allem sehr gut ausgebildete Frauen bekommen immer seltener Kinder. Jede Vierte in dieser Gruppe sei auch jenseits der 40 kinderlos, vermeldete damals das Statistische Bundesamt",

schreibt Mariam HOLLSTEIN. Warum gerade 2009? Alarmierende Nachrichten über die Kinderlosigkeit der Akademikerinnen gab es spätestens seit der Spiegel im Jahr 1999 die Baby-Lücke entdeckt hat:

"Je höher die berufliche Qualifikation einer Frau, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie kinderlos bleibt. 40 Prozent der 35- bis 39-jährigen Akademikerinnen haben keinen Nachwuchs, fast doppelt so viele wie bei den gleichaltrigen Frauen mit Hauptschulabschluss",

hieß es damals in dem Artikel Der Kinder-Crash. Warum also 2009? Warum nicht 2006 als die Welt mit gefakten Geburtenzahlen SCHIRRMACHERs Pamphlet Minimum hypte und die hohe Akademikerinnenkinderlosigkeit die Einführung des Elterngeldes rechtfertigen sollte? Warum nicht 2005 als zur Durchsetzung des Elterngeldes die Kinderlosigkeit der Akademikerinnen durch das Statistische Bundesamt im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes dramatisiert wurde?

Warum also 2009? Als nur noch 25 % - statt wie Jahre lang vorher behauptet - 40 % der Akademikerinnen kinderlos sein sollten? Weil damals erstmals das Elterngeld als wirkungslos kritisiert wurde? Und seitdem immer wieder einmal die Wirkungslosigkeit belegt wurde?

Bereits im Jahr 2005 hieß es in dem Bericht Starke Familie, dass Akademikerinnen mehr Kinder bekommen. Der Wahlkampf war vorüber und das interessierte deshalb nicht mehr.

"Kamen 2005 auf 1000 hoch qualifizierte Frauen über 35 Jahren noch 453 Kinder, so waren es 2009 schon 548. Während die Kinderzahl aller Frauen in den vergangenen zehn Jahren konstant blieb, bekamen Akademikerinnen wieder etwas mehr Kinder",

zitiert HOLLSTEIN eine Studie, über die ansonsten nichts bekannt ist und über die auch auf der Website des BIB bislang nichts zu erfahren ist. Stattdessen nur die Grafik des Monats Kinderzahl hängt von der Bildung ab - aber nur in Westdeutschland von heute.

Der Artikel von HOLLSTEIN vermischt altbekannte Sachverhalte mit Daten, deren Herkunft nicht transparent gemacht werden. Seriöse Berichterstattung sieht anders aus:

"Die Forscher des Bundesinstituts für Bevölkerungsinstitut fanden zudem heraus, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Berufen gibt. 2009 war die Kinderlosigkeit bei Landwirtinnen und nicht erwerbstätigen Frauen (meist Hausfrauen) am geringsten."

Bereits im März hatte die Welt Zahlen für 2008 veröffentlicht, die  einer Broschüre des BIB entstammen. Damals waren es Putzfrauen, nun Landwirtinnen und Hausfrauen. Wobei 2009 nicht die Kinderlosigkeit, sondern nur das Leben ohne Kinder im Haushalt vom Mikrozensus erfragt wurde.

Warten wir also lieber auf die Veröffentlichung der Studie durch das BIB!

WINKELMANN, Ulrike (2012): Schröders Traum vom Kinde.
Angeblich mehr Akademikerkinder: Eine Politikerin wollte eine schöne Meldung: Hurra, die studierten Frauen kriegen wieder mehr Kinder. Nur leider lässt sich das so einfach gar nicht sagen,
in: taz.de v. 20.09.

Nun meldet auch Ulrike WINKELMANN Bedenken an, was auf dieser Website bereits gestern anlässlich eines Artikels von Miriam HOLLSTEIN getan wurde:

"Die Zahlen sind allzu schwach. Denn für sein optimistisch-nützliches Ergebnis hat Bujard die Zahlen des Mikrozensus verwendet. (...). Der Mikrozensus erhebt aber seit je nur die Kinder pro Haushalt, nicht aber die von einer Frau insgesamt geborenen Kinder. Ausgezogene Kinder, grad bei Oma urlaubende Kinder oder sonst wie abwesende werden nicht erfasst. Auch die noch nicht geborenen. Dass sich auf solch dünner Datenbasis kaum Aussagen über Kinderhaben und Kinderlosigkeit fällen lassen, wurde vor Jahren erkannt. Doch die Mühlen der Statistiker mahlen langsam, eine Korrektur des Mikrozensus fiel mau aus. Und erst der im kommenden Jahr veröffentlichte Mikrozensus von 2012 wird die Frage nach den tatsächlich geborenen Kindern pro Frau ordentlich erheben."

Welche gravierenden Fehleinschätzungen sich aus dem Mikrozensus hinsichtlich dem Gebärverhalten ergeben können, das zeigt schön ein Schaubild, das einem Artikel von Martin BUJARD entnommen ist, der jedoch einen anderen Zweck verfolgte:

 

Quelle: Stimme der Familie, Heft 2, S.13

Im Schaubild werden beispielsweise die Kinder einer Frau des Jahrgangs 1957 zum einen als Kinder im Haushalt (Erhebungsmethode Mikrozensus) und zum anderen als Kohortengeburtenrate (CFR) dargestellt. Die endgültige Kinderzahl für Frauen des Jahrgangs 1957 wird mit 1,66 Kindern angegeben. Akademikerinnen, die im Vergleich mit Nicht-Akademikerinnen häufig noch mit über 40 Jahren Kinder bekommen, werden durch den Mikrozensus falsch erfasst, wie das Auseinanderklaffen der beiden Kennzahlen (Kinder im Haushalt/CFR) ab dem 40. Lebensjahr zeigt. Das Statistische Bundesamt meldet jedoch jährlich nur die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR). Diese liegt durch die Verschiebung des Erstgebäralters (Timing-Effekt) derzeit weit niedriger als die Kohortengeburtenrate (so z.B. für den Jahrgang 1957 im Jahr 2007: 1,37 TFR statt 1,66 CFR). Darauf spielt WINKELMANN an, wenn sie schreibt, dass man bis 2028 warten müsse, um die tatsächliche Kinderzahl der in den 1970er Jahren geborenen Akademikerinnen mit den in den 1960er Jahren geborenen Akademikerinnen vergleichen zu können. Was man aber bereits jetzt sagen kann: Die Geburtenrate der Mitte der 1960er Jahre geborenen Akademikerinnen wurde von den deutschen Bevölkerungswissenschaftlern eindeutig unterschätzt. 

Etwas wäre jedoch anzumerken, denn die Geburtenfolge wird inzwischen jährlich richtig erfasst. Diese konnte bis 2009 nur bei verheirateten Frauen korrekt erfasst werden. Bis 2009 galt sozusagen hierzulande die lebenslange Ehe als amtliche Norm. Es hat also immerhin 40 Jahre gedauert bis die Scheidungsreform auch in der amtlichen Statistik angekommen ist. Von daher ist Skepsis hinsichtlich der amtlichen Erhebungen durchaus angebracht.

Auf sueddeutsche.de findet sich folgende Richtigstellung einer Agenturmeldung:

"Die Nachrichtenagentur dapd hatte gemeldet, Studienleiter Martin Bujard habe gesagt, dass der »Turnaround« bei den Geburten geschafft sei. Dies war auch in einer früheren Fassung dieser Meldung zu lesen. Diese Aussage hat Bujard aber ausdrücklich nicht getroffen. Richtig ist vielmehr, dass abzuwarten bleibt, ob die Geburtenrate nachhaltig ansteigt, wie es nun auch korrekt in der Meldung heißt"

DESTATIS (2012): Leichter Rückgang der Geburtenziffer 2011 auf 1,36 Kinder je Frau,
in:
Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden v. 20.09.

"Die zusammengefasste Geburtenziffer des Jahres 2011 betrug in Deutschland 1,36 Kinder je Frau. Damit lag sie nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) niedriger als im Vorjahr (1,39) und etwa auf dem Niveau von 2009. Die durchschnittliche Zahl der Geburten ging 2011 bei jüngeren Frauen zurück, während sie bei den Frauen im Alter von Mitte 30 bis Mitte 40 zunahm. In den neuen Ländern war die zusammengefasste Geburtenziffer mit 1,43 Kindern je Frau höher als im früheren Bundesgebiet (1,36)"

meldet das Statistische Bundesamt. Gestern wurden Daten zur Geburtenrate von Akademikerinnen in der Presse lanciert, die Martin BUJARD, Mitarbeiter am Institut für Bevölkerungsforschung im Auftrag des Familienministeriums erhoben hat. Man will offensichtlich einer erneuten Debatte um die Wirksamkeit des Elterngeldes den Wind aus den Segeln nehmen und der im Vergleich zum Vorjahr wieder gesunkenen allgemeinen zusammengefassten Geburtenziffer die gestiegene Geburtenziffer der Akademikerinnen entgegensetzen.

Heute hat das Familienministerium seine Interpretation zur Geburtenentwicklung in Deutschland: Aktuelle Zahlen und Erkenntnisse online gestellt. Zur Kinderlosigkeit der Akademikerinnen heißt es dort:

"Die Kinderlosigkeit von Frauen im Alter von 40 Jahren ist in Deutschland seit 2005 gestoppt. Die Entwicklung der Geburten in den letzten Jahren hat gezeigt, dass nicht der Bildungsstand entscheidend ist, ob und wie viele Kinder Frauen im Laufe ihres Lebens bekommen. Vielmehr gibt es zwischen den verschiedenen Berufsgruppen erhebliche Unterschiede. So gab es seit 1973 einen Geburtenrückgang bei Frauen in den meisten Berufen - dabei in sämtlichen nichtakademischen Berufen - zum Beispiel bei Verkäuferinnen oder Erzieherinnen. Im gleichen Zeitraum haben Frauen in mehreren akademischen Berufsfeldern wieder mehr Kinder bekommen. Dies ist beispielsweise bei Lehrerinnen und Ärztinnen der Fall."

Warum wird uns aber die Studie von Martin BUJARD weiterhin vorenthalten?

ALEXANDER, Robin (2012): Auf den Herd gekommen.
Das Betreuungsgeld ist eine unsinnige Subvention unter vielen. Aber die "Herdprämie", als die sie bekämpft wurde, hat nicht nur Mütter gedemütigt, sondern auch den demokratischen Diskurs ruiniert. Die Geschichte eines verhängnisvollen Wortes,
in:
Welt am Sonntag v. 11.11.

Robin ALEXANDER vermarktet das Betreuungsgeld als "Hausfrauengehalt". Nachdem der Bundestag den Gesetzesentwurf zum Betreuungsgeld in erster Lesung verabschiedet hat, widmet sich ALEXANDER dem politischen Kampfbegriff "Herdprämie". Den Begriff leitet er vom "Heimchen am Herd" ab:

"Das »Heimchen am Herd« klingt nach den 50er-Jahren, ist aber viel älter, kommt aus Großbritannien und stammt von keinem Geringeren als Charles Dickens. »Heimchen am Herd« ist der Titel einer deutschen Übersetzung einer Novelle des großen Romanciers und Sozialkritikers, die 1845 erschien. Das Wort »Heimchen« war da noch in seiner ursprünglichen Bedeutung gemeint: eine Grille, also ein Insekt, das sich angeblich am warmen Herd wohlfühlt. Wie bei vielen Metaphern ist diese ursprüngliche Bedeutung längst allgemein vergessen, was die damit verbundene Wertung ins Unbewusste rückt, wo sie umso mächtiger wirkt. Der Duden definiert »Heimchen am Herd« so: »eine naive, nicht emanzipierte Frau, die sich mit ihrer Rolle als Ehefrau zufriedengibt«.
1966, also als die Frauenbewegung gerade Anlauf nahm, beschreibt der
»Spiegel« unter dem Titel »Heimchen am Herd« geradezu das archetypische Feindbild der emanzipierten Frau (...).
Man muss es so deutlich feststellen: Wer
»Herdprämie« sagt, meint »Heimchen am Herd«. Er artikuliert nicht seine Ablehnung einer schlecht konstruierten familienpolitischen Leistung. Er artikuliert seine Ablehnung von Frauen – von Frauen, die sich um ihre Familie kümmern und dafür auf Erwerbsarbeit verzichten."

ALEXANDER reduziert also die Kritik am Betreuungsgeld auf das Feindbild "Hausfrau". Sicherlich hat die Hausfrauenexistenz inzwischen ihre Vorherrschaft als Leitbild verloren. Dafür kann man sie nun zur Rebellin stilisieren, wie es die Sabine RÜCKERT in der ZEIT vorexerziert hat. Die Entstehungsgeschichte des Begriffs "Herdprämie" datiert ALEXANDER auf das Jahr 2002:

"In den meinungsbildenden Zeitungen und Zeitschriften wird sie zum ersten Mal im Jahr 2002 erwähnt – in der »taz«, der kleinen, grün-alternativen »tageszeitung«. Der Kanzlerkandidat der Union, Edmund Stoiber (CSU), hat damals im Bundestagswahlkampf ein im Lichte der heutigen Diskussionen geradezu üppig erscheinendes »Familiengeld« vorgeschlagen: 600 Euro pro Kind bis zum dritten Lebensjahr, völlig unabhängig von der Betreuungsart übrigens. Angesichts solcher Großzügigkeit grummelt die »taz« nur leise, die Union »... köderte mit dem gern als 'Herdprämie' bezeichneten Familiengeld ganze 1,5 Prozent der Frauen mehr als bei ihrer Verliererwahl 1998.«
Damals steht die »Herdprämie« also auch bei ihren Gegnern noch in Anführungszeichen. Sogar der »Spiegel«, heute vor allem mit seinem Onlinedienst ein Sturmgeschütz gegen die »Herdprämie«, verhält sich in diesen Jahren noch wie ein neutraler Beobachter. Im Hamburger Nachrichtenmagazin taucht das Wort »Herdprämie« zum ersten Mal im November 2005 auf."

ALEXANDER sieht den Kampfbegriff außerdem im Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel der CDU in der Familienpolitik:

"Die Verwendung des Begriffs »Herdprämie« steigt genau in den Jahren rasant an, in denen es einen Paradigmenwechsel in der deutschen Familienpolitik gibt. Die Union gibt ihre Schutzfunktion der klassischen Familie auf und setzt nun wie die SPD auf den massiven Ausbau staatlicher Kinderbetreuung. Die früher in konservativen Kreisen verpönte »Karrierefrau« wird zum gesellschaftlichen Ideal, wie auch der familiär engagierte Mann. Neue Rollenbilder setzen sich durch, allerdings steigt dabei auch die Unsicherheit über die eigene gesellschaftliche Rolle, was aber meist nicht eingestanden wird. Die Stereotypenforschung kennt solche Situationen: Ist die eigene Identität nicht mehr selbstverständlich, wird versucht, sie durch Abgrenzung zu stabilisieren – in diesem Fall gegenüber Menschen, die angeblich noch in den alten Rollenbildern leben.
Deshalb ist jetzt plötzlich überall von der
»Herdprämie« die Rede. Distanzierende Anführungszeichen sind verschwunden, das wertende Wort wird als Tatsachenbeschreibung genommen und schafft es in Nachrichtentexte und in Schlagzeilen wie »Streit um Herdprämie«. Denen, die über die »Herdprämie« schreiben, geht es dabei oft gar nicht um das konkret geplante Betreuungsgeld, sondern um eine prinzipielle Entscheidung: Kinderbetreuung zu Hause oder in öffentlichen Einrichtungen. Dies wird zu einer Glaubensfrage erhoben, in der sich jeder – und vor allem jede – entscheiden müsse."

ALEXANDER stellt dem ideologischen Kampf um die Normalfamilie der Neuen Mitte die Realität gegenüber, in der nicht die "Karrierefrau" und Mutter, sondern die Teilzeitarbeitende Mutter dominiert. Danach skizziert er die Verrohung der Debatte, die in der Wahl des Begriffs "Herdprämie" zum Unwort des Jahres 2007 gipfelte:

"Noch kein Begriff hat es überlebt, »Unwort des Jahres« zu werden. Und tatsächlich tritt mit der Jury-Entscheidung im Jahr 2008 auch ein kurzer Moment der Besinnung ein. (...) Die »Herdprämie« scheint jetzt dahin verbannt, wo sie hingehört: zu den Radikalen am Rand des Diskurses.
Da hätte es bleiben können, auch wenn es nach vielen Kritikern des Betreuungsgeldes gegangen wäre, die sich mit der Polemik gegen die
»Herdprämie« schon lange nicht mehr wohlfühlen.
(...).
Die Bedenkenträgerinnen – es handelte sich fast ausschließlich um Frauen – können sich allerdings nicht durchsetzen. Denn die führenden SPD-Männer wollen unbedingt die
»Lufthoheit über den Kinderbetten« zurück (...). Diese »Lufthoheit« hat jetzt Ursula von der Leyen, die mit Kita-Ausbau und Elterngeld umsetzt, was die SPD jahrelang vergeblich gefordert hat. Den Sozialdemokraten bleibt wenig mehr als die Polemik gegen die »Herdprämie«."

Ausführlich beschreibt ALEXANDER auch die Grünen-Debatte um die Herdprämie, die in einer Anzeigenkampagne gegen das Betreuungsgeld gipfelt:

"Insgesamt gibt die grüne Fraktion 64.000 Euro aus für diese Kampagne, die aus mehreren Gründen bemerkenswert ist. Nicht nur erscheinen alle Anzeigen – untypisch – an nur einem einzigen Tag, dem 6. Juni 2012. Interessant ist der Empfängerkreis. Mit der großen »Süddeutschen Zeitung«, der kleinen »tageszeitung«, dem lokal erscheinenden »Tagesspiegel«, der bundesweiten »Frankfurter Rundschau« und dem Internetportal »Spiegel Online« werden Medien bedacht, die aus der Perspektive eines Anzeigenkunden wenig gemeinsam haben. Außer einem: Sie haben alle sehr kritisch über das Betreuungsgeld berichtet und teilweise polemisiert – und werden von den Grünen jetzt mit einer ganz eigenen »Herdprämie« belohnt."

Ein weiteres "Highlight", das ALEXANDER beschreibt, ist der Eklat im Bundestag am 15. Juli 2012, d.h. dem Tag, an dem das Betreuungsgeld ursprünglich verabschiedet werden sollte. Auch nach der Verabschiedung des Betreuungsgeldes im Bundestag ist das Kapitel "Herdprämie" nicht zu Ende:

"Dennoch wird das Betreuungsgeld jetzt, sieben Jahre nachdem es vereinbart wurde, Gesetz und tritt im kommenden August in Kraft. Seine Geschichte könnte also zu Ende sein. Aber wird auch die Polemik gegen »Heimchen am Herd«, gegen »Hausfrauen und Mütter« und gegen »goldene Schürzen« enden? Wohl kaum. SPD und Grüne haben schon angekündigt, nach einem Wahlsieg »als Erstes« das Betreuungsgeld wieder abzuschaffen. Der Bundestagswahlkampf beginnt in wenigen Monaten. Er wird diesmal auch gegen die »Herdprämie« geführt werden."

Was ALEXANDER verschweigt: Die Heftigkeit der Kritik am Betreuungsgeld ist einer jahrzehntelangen Blockadehaltung von CDU/CSU gegen eine Familienpolitik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie geschuldet. Die Verabschiedung des Betreuungsgeldes könnte sich letztlich als Pyrrhussieg erweisen.

EMMERLING, Dieter (2012): Geburten, Sterbefälle, Eheschließungen 2011,
in:
Wirtschaft und Statistik, Dezember

"Im Jahr 2011 wurden 662.685 Kinder lebend geboren. Das waren 15.262 oder 2,3 % weniger Kinder als im Vorjahr. (677.947 Kinder). Damit wurde ein erneuter Tiefstand bei den Geburten erreicht; der bisher niedrigste Stand resultierte aus dem Jahr 2009 mit 665.126 lebend Geborenen. Nach dem Geschlecht aufgegliedert ergibt sich die Zahl von 339.899 lebend geborenen Jungen (2010: 347.237) und 322.786 lebend geborenen Mädchen (2010: 330.710). Die Geschlechterproportion der Neugeborenen betrug im Jahr 2011 damit 1.053 Jungengeburten je 1.000 Mädchengeburten. Das Geschlechterungleichgewicht bei Geburt ist mit den vorhandenen Daten schon seit 1872 zu beobachten. Als langfristiger Durchschnitt der Geschlechterproportion ergibt sich ein Verhältnis von 1.058 geborenen Jungen je 1.000 geborenen Mädchen" (S.1065f.), beschreibt Dieter EMMERLING die Geburtenentwicklung des Jahres 2011.

BUHR, Petra & Anne-Kristin KUHNT (2013): Die kurzfristige Stabilität des Kinderwunsches von Kinderlosen in Ost- und Westdeutschland. Eine Analyse mit den ersten beiden Wellen des deutschen Beziehungs- und Familienpanels, in: Johannes Huninink/Michaela Kreyenfeld/Heike Trappe (Hrsg.): Familie und Partnerschaft in Ost- und Westdeutschland. Sonderheft 9 der Zeitschrift für Familienforschung, S.275-297

Petra BUHR & Anne-Kristin KUHNT unterstellen nicht wie gemeinhin die Stabilität von Kinderwünschen im Lebensverlauf, sondern machen sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen:

"Die Analyse des Kinderwunsches gehört zu den primären Forschungsfeldern der Familiendemographie. Dennoch gibt es bislang nur wenige Befunde zur Stabilität bzw. Instabilität des Kinderwunsches von Männern und Frauen über den Zeitverlauf. Dies ist umso erstaunlicher als die Analyse der Veränderung von Kinderwünschen wichtige Aufschlüsse darüber liefern kann, warum Einzelpersonen oder Paare ihre Kinderwünsche umsetzen, aufschieben oder ganz aufgeben. Sollte der Kinderwunsch im Lebensverlauf vielen Schwankungen unterlegen sein, wäre dies ein Indiz dafür, dass der Kinderwunsch nicht zur Vorhersage zukünftig realisierter Geburten geeignet ist." (2013, S.276)

In ihrer empirischen Untersuchung zum Kinderwunsch von Kinderlosen gehen sie andere Wege als der Mainstream der Kinderwunschforschung, den sie kritisieren:

"Im Unterschied zu den meisten bisher vorliegenden Studien werden wir sowohl Reduzierungen als auch Erhöhungen des Kinderwunsches berücksichtigen. Außerdem werden wir Personen, die sich zum ersten Erhebungszeitpunkt keine Kinder wünschen oder sich nicht sicher sind, in unsere Analysen einbeziehen. Wir beschränken uns in diesem Beitrag auf Personen, die in der ersten Befragungswelle kinderlos und nicht schwanger waren. (...). Die Kinderlosen erscheinen besonders relevant, wenn man den Einfluss von Lebensereignissen auf den Kinderwunsch untersuchen will, da sie noch nicht über Erfahrungen mit Kindern verfügen und daher die Auswirkungen der Elternschaft noch nicht persönlich kennen. Die Familiengründung ist eine besonders entscheidende Statuspassage im Lebenslauf und mit hohen Opportunitätskosten verbunden (...). Insoweit stellt der Übergang zum ersten Kind ein besonders einschneidendes Ereignis im Lebenslauf dar. Die Folgen von Veränderungen der Lebensbedingungen sollten sich bei den Kinderlosen somit besonders stark auf den Kinderwunsch niederschlagen." (2013, S.277)"

Die empirische Untersuchung der Stabilität von Kinderwünschen, die insbesondere in der öffentliche Debatte unterstellt wird, sehen BUHR & KUHNT als Forschungsdefizit:

"Während umfangreiche Ergebnisse zu den Determinanten des Kinderwunsches auf Querschnittbasis existieren, befindet sich die Forschung zu den Determinanten, welche die Stabilität des Kinderwunsches positiv oder negativ beeinflussen, noch am Anfang. (...). Für Deutschland existiert bisher lediglich eine Studie von Heiland et al. (2008), welche sich auf westdeutsche Frauen beschränkt." (2013, S.277)

Den Forschungsstand zu den Determinanten der Stabilität des Kinderwunsches beschreiben BUHR & KUHNT folgendermaßen:

"Die vorliegenden Studien zur Stabilität des Kinderwunsches stimmen darin überein, dass individuelle Kinderwünsche im Zeitverlauf eher instabil sind. Dabei sind Veränderungen in Form von Erhöhungen oder Reduzierungen möglich. Welche Determinanten eine Variation im Kinderwunsch über die Zeit begünstigen, scheint noch nicht abschließend geklärt zu sein. Erste Befunde weisen auf einen Zusammenhang zwischen Alter bzw. Kohorte und Stabilität hin. Die Ergebnisse dazu sind allerdings gegenläufig (...).
Als weitere Einfluss nehmende Determinante wird das Bildungsniveau der Befragten diskutiert. Individuen mit einem höheren Bildungsabschluss neigen eher dazu, den Kinderwunsch im Zeitverlauf anzupassen (Heiland et al. 2008:148). (...).
Als weitere Determinante der Stabilität des Kinderwunsches werden Erfahrungen in der Herkunftsfamilie in Betracht gezogen. (...). Neben diesen Determinanten nehmen auch Lebensereignisse wie die Geburt eines ersten Kindes Einfluss auf die Stabilität des Kinderwunsches (...). Zusätzlich kann die zeitliche Planung (Timing) der Fertilitätskarriere die Stabilität von Kinderwünschen beeinflussen. (...).
Ein weiteres Lebensereignis mit Auswirkungen auf den Kinderwunsch kann die Trennung vom Partner sein. (...). Eine neue Partnerschaft reduziert ebenfalls die Stabilität des Kinderwunsches (...). Der Erwerbsstatus nimmt zumindest Einfluss auf die Stabilität des Kinderwunsches von Frauen." (2013, S.278f.)

BUHR & KUHNT gehen von einem starken Einfluss des Partnerschaftsstatus auf die Stabilität des Kinderwunsches aus. Als Ergebnis ihrer Studie fordern die Autorinnen eine differenziertere Betrachtung der Gruppe der Kinderlosen, da es sich bei Kinderlosen um eine heterogene Gruppe handelt, deren Kinderwunsch sich jeweils verschieden darstellt:

"Als (...) Ergebnis der Studie lässt sich festhalten, dass sich die Effekte der unabhängigen Variablen bei den von uns betrachteten Personengruppen (unsicher hinsichtlich erwarteter Kinderzahl, kein Kind erwartet, ein oder mehr Kinder erwartet) zum Teil unterscheiden. Dies bedeutet, dass bei den betrachteten Gruppen teilweise unterschiedliche Mechanismen im Hintergrund wirken und diesem Umstand bei zukünftigen Analysen Rechnung zu tragen ist. Eine gemeinsame Betrachtung von Personen ohne Kinderwunsch, mit unsicherem Kinderwunsch und solchen, die sich mindestens ein Kind wünschen, erscheint vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Besonderheiten nicht angebracht." (2013, S.195)

Insbesondere politisch motivierte Umfragen von Meinungsforschungsinstituten oder Forschungsdesigns des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung haben die Kinderwünsche von Kinderlosen zu undifferenziert betrachtet.

 
     
 
       
     
       
   

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Update: 20. Januar 2019